Ian Anderson: Homo Erraticus (2014)

Bisschen hatte ich ja schon gehört von Ian Andersons neuer Scheibe Homo Erraticus, die bereits seit dem 11. April (also morgen seit vier Wochen) auf dem Markt ist. Und natürlich an diesem Tag hatte ich die Scheibe auch auf dem Schreibtisch. Warum ist also bisher von mir als alter Jethro Tull– und damit geradezu zwangsläufig auch Ian Anderson-Fan kein Sterbenswörtchen zur neuen CD (samt DVD mit 5.1-Ton) zu lesen gewesen?

    Ian Anderson: Homo Erraticus (2014)

Nun die vier bereits bekannten Stücke hatten mich nicht vom Hocker gerissen. Außerdem hatte ich mir eine österliche Auszeit gegönnt und mich vor allem mit Literatur (und einigen Filmen) beschäftigt. Zudem hatte ich den fatalen Fehler begannen und meiner Frau die neue CD übergeben („Wenn du nichts Besseres hast, dann kannst du mir ja Andersons neue Scheibe zu Ostern schenken!“ – natürlich hatte meine Frau etwas Besseres, die Graphic Novel zu Kafkas Der Process, die ich schon gar nicht mehr auf dem Zettel hatte – so muss ich mich noch etwas gedulden, bis meine Frau mir die CD samt 5.1-DVD herausrückt …).

Natürlich habe ich inzwischen die Scheibe mehrmals via MP3-Player gehört. Und um es gleich zu sagen: ich war dann doch eher positiv überrascht. Als Gesamtwerk – und das ist die Scheibe ja nun mal: ein Konzeptalbum – hört sich das Ganze ganz ordentlich an und gefällt mir um einiges besser als das vor fast genau zwei Jahren erschienene Album Thick as a Brick II (vielleicht täuscht mein Eindruck aber auch, weil ich TAAB2 lange nicht mehr gehört habe …).

Nun zu den Texten kann ich mich nur bedingt äußern, ich habe ja die Texte nicht vorliegen. Zum Hintergrund der Texte habe ich mich aber schon einmal an anderer Stelle geäußert. Näheres findet sich auch im Review bei rocktimes.de. Es ist eine Art Geschichtsunterricht a la Oberschulrat Anderson mit Altersweisheiten gespickt und am Ende mit Science Fiction angereichert. Anderson legt offensichtlich einigen Wert auf seine ‚Botschaften’. Durchaus interessant ist auch das Interview mit Anderson bei Rocktimes. Der Meister entpuppt sich wieder einmal als redselige Plaudertasche mit einigen Macken.


Ian Anderson / Homo Erraticus deluxe book edition

Nun positiv überrascht bin ich allein schon von Ian Andersons Gesang. Nicht nur, dass er die Töne (fast) alle sauber trifft, auch singt er ‚in der Zeit’, was bei Live-Auftritten leider nicht der Fall ist (dazu unten etwas mehr). Gut, die Stimme ist meist etwas ‚dünn’ und natürlich hört man heraus, dass hier technisch oft genug nachgebessert wurde. Aber das soll mir egal sein, solange Ian Anderson selbst noch singen kann und das Charakteristische seiner Stimme erhalten bleibt. Ryan O’Donnell, der einige wenige Gesangparts übernommen hat, wirkt dagegen etwas fehl am Platze.

Part 1: Chronicles
1. Doggerland 4:20
2. Heavy Metals 1:29
3. Enter The Uninvited 4:12
4. Puer Ferox Adventus 7:11
5. Meliora Sequamur 3:32
6. The Turnpike Inn 3:08
7. The Engineer 3:12
8. The Pax Britannica 3:05

2. Part 2: Prophecies
1. Tripudium Ad Bellum 2:48
2. After These Wars 4:28
3. New Blood, Old Veins 2:31

3. Part 3: Revelations
1. In For A Pound 0:36
2. The Browning Of The Green 4:05
3. Per Errationes Ad Astra 1:33
4. Cold Dead Reckoning 5:28

Insgesamt ist das Album durchaus ‚schlüssig’, kommt aber über Tull’sche Alltagskost nicht wirklich hinaus (irgendwo las ich von „Tull von der Stange, gute Qualität, aber nicht herausragend“). Was wirklich fehlt, ist die zündende musikalische Idee, etwas wirklich Innovatives, das das Ganze aus dem Trott längst bekannter Prog-Rock-Musik heraushebt. Oder wie ich las: „Allzu oft wird mir hier Rockmusik-Zwirn gesponnen, wird Text ‚abgearbeitet’, wobei diese ‚Flucht ins Narrative’ wohl daher rühren mag, dass ihm der Text hier in der Tat besonders wichtig ist.“

Natürlich gibt es auch reichlich Selbst-Zitate („Viele Anderson-typische Einfälle geraten so ein weiteres Mal in die künstlerische und kommerzielle Verwertungskette.“), was durchaus legitim ist. So klingt „Puer Ferox Adventus“ (Ankunft des wilden Kindes) im 2. Teil wie „Budapest“ und „Tripudium Ad Bellum“ (Tanz in den Krieg), ein Instrumentalstück, wie „Living in the Past“ (auch ein 5/4-Takt?). Bei „The Turnpike Inn“ höre ich „War Child“ heraus. Auch arbeitet Anderson wieder oft mit musikalischen Versatzstücken, von Rhythmus geprägter Bausteine; die melodischen Bogen, die über mehr als nur wenige Takte gehen, findet sich zwar, sind nach meinem Geschmack aber nicht immer zu Ende ‚gedacht’ (komponiert). Und so stellt sich leider auch immer wieder eine gepflegte Langeweile ein. Stilistisch ist Unterschiedlichstes vorhanden. Vom Folkrock über Anleihen beim Hardrock über Shuffle-Rhythmen, Funkigem, ja gar Jazzigem findet sich bis hin zu sakralen Renaissance-Klängen, Kinderlied und eher atypischen Tull-Teilen mit Sprechgesang so einiges (‚Verwurschteln’ sollte man das aber nicht ungedingt nennen).


Playlist mit zz. 7 Stücken – Ian Anderson: Homo Erraticus

Aber ich will nicht zu streng sein. Eigentlich freue ich mich darüber, etwas halbwegs ‚hörbar’ Neues aus der Feder von Ian Anderson zu hören. Musikalische Beispiele habe ich nicht gerade zur Hand, erinnere aber an literarische Alterswerke wie die Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch (Frisch war damals in etwa so alt wie es Ian Anderson heute ist), die durch den sehr lakonischen Stil besticht. Nun, Anderson ist da eher die große Plaudertasche, ein Plappermaul. Wirklich Neues, Innovatives kann und darf man in dem Alter nicht erwarten. Und mit Rockmusik hat das Ganze auch nicht mehr all viel zu tun. Was mich aber an dem Album dann doch erfreut, ist Andersons Stimme. Die hat zwar nicht mehr das ‚Format’ früherer Jahre. Aber, ich wiederhole mich, der Charakter dieser Stimme ist noch vorhanden. Und dank technischer Tricks bekommen wir mit ‚Homo Erraticus’ einen Anderson geliefert, der dann doch viel Spaß bereitet. Leider gilt das allein für die CD. Live-Auftritte offenbaren (man ist es ja längst gewohnt) einen gesangliche Anderson, der leider zu oft ‚daneben’ liegt, sowohl in der Tonhöhe als auch im Timing (nachzuhören beim Auftritt in Brighton am 28. April d.J. – hier zum Herunterladen bei www.guitars101.com). Neben der gesamten „Homo Erraticus“-Session gibt es auf der vor einer guten Woche gerade frisch begonnenen Tournee wieder ein Best-of-Jethro-Tull-Special (mit den Stücken Living In The Past, Bouree, With You The To Help Me, Sweet Dream, Teacher, Critique Oblique, To Old To Rock & Roll To Your To Die, Songs From The Wood, Farm On The Freeway, My God, Aqualung und Locomotive Breath). Seinem Alter entsprechend ist Ian Anderson da grauhaarig, mit Brille und ohne Piratenlook (also kahlköpfig) zu sehen. Hier einige Handy-Aufnahmen aus Liverpool:


Ian Anderson: Living In The Past – live Liverpool Philharmonic Hall 2nd May 2014


Ian Anderson: My God – live Liverpool Philharmonic Hall 2nd May 2014

außerdem: Sweet Dream und Songs from the Wood

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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