- Er habe sie noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick, In diesem Augenblick, sagte sie, wieso denn das. Es ist der Augenblick der Liebe.
Martin Walser: Der Augenblick die Liebe (S. 43)
Für Einsteiger in die Literatur von Martin Walser, so denke ich, ist der Roman Der Augenblick der Liebe aus dem Jahr 2004 doch noch etwas zu schwere Kost. Es ist der dritte und wohl letzte Roman um die Person des Dr. Gottfried Zürn, ehemaliger Immobilienmakler am Bodensee, der sich hier als Privatgelehrter ausgibt. Im Mittelpunkt steht die außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen Zürn und einer um 40 Jahre jüngeren Doktorandin. Und es geht um den französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie, dessen Todestag sich 2001, dem Jahr, in dem der Roman spielt, zum 250. Male jährte. Als Hinweis für den Leser: Französisch-Kenntnisse sind angebracht, Englisch-Kenntnisse fast unumgänglich (Walser hat sich auch, oft mit seiner Tochter Alissa, als Übersetzer aus dem Englischen hervorgetan, z.B. für Theaterstücke von Edward Albee).
Dies ist der erste Roman, den Martin Walser nach seiner Trennung von Suhrkamp in seinem neuen Verlag Rowohlt veröffentlicht hat (Ich habe diesen in 2. Auflage August 2004 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, vorliegen).
Gottfried Zürn, bekannt aus Martin Walsers Romanen „Das Schwanenhaus“ und „Die Jagd“, Exmakler, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer jungen Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen La Mettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Sonnenblume. Er vernimmt sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie, sphinxenhaft: „Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann.“
Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im selben Wortschatz untergeht, folgt er der Doktorandin kurz darauf nach Kalifornien zu einem Kongreß über La Mettrie. Dort erfüllt sich ihre Prophezeiung – auf eine Weise, die gleich in mehrfacher Hinsicht zum Eklat führt. Sobald er drüben ist, wird in ihm Anna übermächtig, also zurück zu ihr. Sobald er zurück ist, muß er wieder hinüber. Aber das gestattet ihm das Buch nicht.
Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust ist sein geheimes Motiv.
(aus dem Klappentext)
- Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie’s gern? So fing sie an, so eröffnete sie.
Gottlieb sagte: In welche Sauce wir den Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal. Oder nicht? Und sie: Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann. Und er. Aber die Möglichkeiten klirren. Und sie: Wenn Sie so wollen. Und er: Ich will.
Nein, so beginnt nicht nur dieser Roman vom Martin Walser, so endet dieser auch – in einer Walser-typischen Ringkomposition. Nur sind die Personen andere. Er, das ist in beiden Fällen Gottfried Zürn, aber sie ist am Anfang jene Beate Gutbrod, Doktorandin aus Amerika, am Schluss dann seine Ehefrau Anna. Gottfried Zürn, Mitte sechzig, schöpft in beiden Fällen ‚die Möglichkeiten’ aus.
Zürn hat als Wendelin Krall vor Jahren zwei Aufsätze über den französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) geschrieben, die Beate Gutbrod während der Recherche für ihre Dissertation gelesen hat. Da sie den Autor persönlich kennenlernen möchte, besucht sie Zürn. „Aus dieser Bekanntschaft entwickelt sich eine Liebesaffäre, die Gottlieb nach Amerika an die Berkeley-Universität führt, wo er als Gastdozent einen Vortrag über La Mettrie halten soll. Da ihn jedoch seine Stimme im Stich lässt, schafft es Gottlieb ähnlich wie Helmut Halm in Brandung nicht, seinen Text alleine vorzulesen, und muss sich von Beate vertreten lassen. Zudem wird der Inhalt seines Aufsatzes von den Mitgliedern der Universität, allen voran Rick Hardy, sehr zwiespältig aufgenommen. Wenig später verlässt Gottlieb Beate und fliegt zurück nach Europa, wo er das Eheleben mit seiner Frau Anna fortsetzt.“ (Quelle: de.wikipedia.org)
Wieder eine Liebesaffäre zwischen einer jungen Frau und einem älteren Herrn. Beate Gutbrod und Zürn – das klingt wie Ulrike von Levetzow und Goethe und wird auch gleich zitiert: da war der Altersunterschied nicht 40, sondern gar 55 Jahre (siehe hierzu natürlich Martin Walser: Ein liebender Mann). Während Beate bereits wieder in Kalifornien weilt und auf die Ankunft Zürns wartet, ereignet sich ein Schriftwechsel zwischen den beiden, der in teuren, sehr langen Telefonaten mündet:
Jetzt erlebte sie, daß es nicht darauf ankommt, mit welchem Innen- und Außenmaterial jemand seine Liebe erklärt; es kommt nur auf den erlebbaren Heftigkeitsgrad an. Und den erlebte sie jetzt. Die Verklausuliertheit, in der er sich verstrickte, war doch eine einzige Kapitulation: Er ergab sich ihr. Diese Fragerei nach dem WARUM war nichts als ein Wortkostüm, mit dem er auftrat, um sie herauszufordern. Sie sollte ihn übertreffen. Sie sollte noch lauter als er sagen, daß sie hin sei und wie hin sie sei. Das einzig Lernbare in diesem Verklausulierungsdickicht: Er war bedürftig. Er war unterernährt. Was ihm fehlte, war weniger wichtig, als daß ihm etwas fehlte. Aber er hielt es für möglich, daß sie ihm fehle. Und das war’s dann doch. (S. 85)
Um gewissermaßen dem Vorwurf, Altherrenphantasien zu verbreiten, ‚vorzubeugen’ (manche nennen es auch Methusalem-Komplex), flicht Walser ab Seite 228 gleich eine Debatte über Altersgeilheit, die Zürns Frau mit einer Kundin führt, mit ein. Zürns, d.h. Walsers Kommentar dazu: „Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästherisch-sittlich drapieren.“ (S. 231)
Auch zum Alter äußert sich Walser: „Man kann nur jung oder alt sein. Er habe seit längerem geglaubt, er sei schon alt. Das war, wie er jetzt wisse, ein naseweises Anempfinden. Das einzigste, was ein wenig in die richtige Richtung ging, war eine Art Mitleid mit Alten. Jetzt weiß er, der Junge kann nichts empfinden von dem, was der Alte empfindet. Es gibt kein Verständnis für einander. Der Alte versteht den Jungen so wenig wie der ihn. Es gibt keine Stelle, wo Jugend an Alter rührt oder in Alter übergeht. Es gibt nur den Sturz. Aus. Nachher bist du drunten und kannst tun, was du willst, du reichst nicht zurück. Mit nichts. Durch nichts. Ob du lachst oder schreist, ist gleichgültig. So zu tun, als könne man sich auf diesen Sturz vorbereiten, ist unsinnig. Dieser Sturz gestattet kein Verhältnis.“ (S. 200) Und später ergänzt er: „Das Gerede vom Sturz ist Wortstroh. Das Hinab so bremsen, daß es kein Sturz wird, sondern ein Untergang.“ (S. 202)
Den eigentlichen Mittelpunkt bildet die „Auseinandersetzung mit La Mettrie, die den Roman um philosophische Überlegungen bereichert. Es geht dabei vor allem um die Themen der Erziehung als Ausbildung zum Gefangenen und um das Erziehungs-Nebenprodukt Schuldgefühle.“
- Das von Montaigne geerbte Anspruch: sich selbst zum Thema zu machen! […] Dein durch La Mettrie geschärftes Thema: die Erziehung als eine Ausbildung zum Gefangenen. Von Anfang an war kein Mensch und keine Institution daran interessiert, dich zu dir selbst kommen zu lassen. Die Erziehung als Zumutung. Aber dann hast du angefangen, deine Erzieher zu betrügen. Du hast mehr als eine Persönlichkeit entwickelt. Das tut jeder. Keiner ist nur das, was die Erziehung aus ihm machen wollte. […] (S. 127 f.)
- Von allen Persönlichkeiten, die du hast entwickeln müssen, hat sich keine so übermäßig entwickelt, wie die des Gefangenen. […] Jeder Versuch, dich frei zu fühlen oder gar zu benehmen, mündete bis jetzt im Schuldgefühl. Das angeborene oder anerzogene Gewissen. Ob angeboren oder anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste, unbetrügbarste Regung, deren du fähig bis. (S. 129)
„Die Interpretation Rick Hardys im Anschluss an den Vortrag – das Manuskript Gottfried Zürns ist vollständig wiedergegeben – ist dabei die zentrale Stelle des Romans: Hardy beschuldigt Gottlieb, er wolle unter dem Vorwand, über La Mettrie und dessen These von der Lebensfeindlichkeit von Schuldgefühlen zu sprechen, den Deutschen einen ‚Freispruch erschwindeln’, wobei Hardy einen überraschenden Zusammenhang zur Erinnerung an den Holocaust herstellt. Die anschließende Reflexion Gottliebs wirkt wie eine späte Selbstverteidigung Walsers, der sich während der Diskussionen rund um seine Romane Ein springender Brunnen und insbesondere Tod eines Kritikers selbst Vorwürfen des latenten Antisemitismus ausgesetzt sah:
- ‚La Mettrie behauptet, es gebe nichts Unmenschlicheres, nichts Lebensfeindlicheres als remords. Das würde natürlich auch für den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit gelten. Aber das hat er [Zürn] nicht gesagt. Er müßte dann nachweisen, daß es eine Schuld gibt ohne Schuldgefühle. Kein bisschen weglügen, nichts verkleinern, und trotzdem kein Schuldgefühl, keine remords. […] La Mettrie hatte keine Erfahrung mit dem Gedächtnis. Inzwischen wacht das Gedächtnis über das Gewissen. Ob das lebensfeindlich ist, ist dem Gedächtnis egal.’
Zusammenfassen kann man die vorgetragene Position Martin Walsers zum Holocaust demnach wie folgt: Er akzeptiert die Schuld der Deutschen für die NS-Verbrechen ohne Wenn und Aber, jedoch fühlt er sich von den Schuldgefühlen in seinem Lebensdrang eingeschränkt. Diese Aussage ist natürlich sehr subjektiv, was jedoch typisch für die literarische Innerlichkeit ist, die sich wie ein roter Faden durch Martin Walsers Werk zieht. Letztendlich gesteht Walser auch ein, keine Möglichkeit gefunden zu haben, sein Geschichtsbewusstsein mit seinem Wunsch ganz in der Gegenwart zu leben zu versöhnen – dieser Luxus muss dem Intellektuellen verwehrt bleiben.“ (Quelle: de.wikipedia.org)
Der Roman gliedert sich in vier Kapitel:
Inhalt:
I. Kommen aber gehen
II. Zusammenfinden
III. Auseinanderkommen
IV. Kehre
Personenliste zum Roman:
Dr. Gottlieb Zürn, ehemaliger Makler, inzwischen Mitte 60 Jahre
Anna, seine Frau, führt das Immobilienmaklergeschäft weiter
Rosa, die älteste Tochter
Magda(lena), Tochter
Julia, Tochter
Regina, die jüngste Tochter
Beate J. Gutbrod ‚graduated Student’, Doktorandin
Madelon Pierpoint, Freundin
Glen O. Rosenne, Professor
Dr. Rick W. Hardy
Elaine, seine (Ex-)Frau
Dr. Rufus Douglas, Psychiater
und viele andere
Paul Schatz, Immobilienhändler und Konkurrent – stirbt in diesem Band
Jarl F. Kaltammer, Immobilienhändler und Konkurrent
„Hochkomisch, sprachmächtig: Martin Walsers neuer Roman über Liebe im Alter ist ein Vergnügen. Wenn Walser je komisch war, wenn er je die Funken des Witzes aus Konstellationen des Unangemessenen, Unpassenden geschlagen hat, hier tut er ’s stärker.“ (Tilman Krause, Literarische Welt)
„Dieser meisterhaft beschriebene Augenblick des Sichverliebens, dieses blitzartige Ineinanderfallen … Wie der Sprachkünstler Walser die beiden Erzählgeschosse miteinander verbindet, die Liebesaffäre eines alten Mannes mit einer jungen Frau im Licht des Atheisten La Mettrie deutet … das macht ihm keiner nach.“ (Ulrich Greiner, DIE ZEIT)
„Seite für Seite eröffnet Martin Walser uns ein Stilvergnügen, wie es nur wenige deutsche Autoren bieten können. Walser schreibt eben nicht nur die schönsten Sätze, er setzt sie auch in anregende Horizonte.“ (Andreas Isenschmid, NZZ am Sonntag)
„Und Walser erweist sich hier als eine aphoristisch eleganter, hinreißender Erzähler.“ (Klaus Walther, Freie Presse)
„Martin Walser hat einige beste Bücher geschrieben. Sein jüngstes Werk gehört dazu. ‚Der Augenblick der Liebe‘ ist ein schönes Buch – komisch, traurig, rabiat.“ (Andreas Köhler, NZZ)
„’Der Augenblick der Liebe‘ ist ein großer Roman. Walsers bedeutendeste literarische ‚Seelenarbeit’“ (Peter Mohr, Generalanzeiger)
„’Der Augenblick der Liebe‘, Walsers schönster Roman.“ (Martin Lüdke in ‚Literatur im Foyer‘, SWR)
Dem ist von meiner Seite nichts mehr hinzuzufügen.