Wenn es um die Psychoanalyse geht, so bin ich eigentlich hin- und hergerissen, denn bis heute sind die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie, die uns Siegmund Freud vermittelte, nicht unumstritten. Unklar ist für mich auch die Abgrenzung gegenüber der Psychiatrie, die sicherlich nicht nur Pillen verabreicht oder frankenstein-mäßig in den Hirnen psychisch Kranker herumschnippelt.
Wenn ich erklären sollte, woher eine gewisse Skepsis bei mir gegenüber Freuds Lehren herrührt, könnte ich keine genaue Antwort geben (Verdrängung, Widerstand?). Vielleicht liegt es daran, dass ich manche Erkenntnis der Psychoanalyse für zu statisch (u.a. im Sinne von allgemeingültig) ausgelegt halte. Natürlich ist es nicht so, dass jeder Junge mit dem Messer dahergerannt kommt, um seinen Vater zu töten, damit er sich sexuell an seiner Mutter befriedigen kann (Ödipus-Komplex). Und Mädels kommen auch ohne das Gehänge im Schritt aus (Penisneid). Unbewusst und in unterschiedlichster Ausprägung mag es aber solche Konflikte geben.
Ungeachtet meiner Skepsis interessiere ich mich schon für die Theorien der Tiefenpsychologie und habe einige Bücher zu diesem Thema gelesen. Denkanstöße bietet die Psychoanalyse allemal.
Im Zusammenhang mit einem Artikel über Pädagogik (ich bin Vater von zwei heranwachsenden Jungen, da möchte ich schon wissen, was ich in meiner Erziehung verbessern kann) bin ich auf folgendes Buch gestoßen: Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus (Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft, Nr.16).
Erikson (1902-1994) löst einwenig die von mir kritisierte Statik und erweitert die psychoanalytische Betrachtungsweise um die Erforschung der Ich-Identität, die natürlich auch von historisch-gesellschaftlichen Veränderungen abhängig ist. Das Buch gilt als ‚klassische’ Arbeit (zwischen 1946 und 1956 in drei Aufsätzen veröffentlicht) und erweitert (etwas anders ausgedrückt) den Interpretationsrahmen der Psychoanalyse – die Lebensgeschichte – um die „psychosoziale“ und die „psychohistorische“ Dimension. Insbesondere hat er den Menschen unter diesen Gesichtspunkten von seinen frühkindlichen Verhaltensweisen bis hin zu den Phasen des Erwachsenseins erforscht. Er war also Praktiker – besonders in der Jugendpsychologie.
„Identität, das ist der Schnittpunkt
zwischen dem, was eine Person sein will,
und dem, was die Welt ihr zu sein gestattet.“
Nach Erikson ist die Entwicklung der Persönlichkeit eine Abfolge „psycho-sozialer“ Krisen, die er in einem Phasenmodell (Phasen der psychosozialen Entwicklung) skizziert hat. Hierzu auch eine allgemein verständliche Zusammenfassung.
Sicherlich kann eine solche Skizze (als tabellarische Übersicht) auch nur statisch sein. Wie ich aber bereits erwähnte: Wenn man sich die hier aufgezeigten einzelnen Entwicklungsstufen des Menschen vor Augen hält, bietet ein solches Modell genügend Stoff zum Nachdenken und Diskutieren (Denkanstöße). Und bei aller grauen Theorie lässt uns Erikson aufschlussreiche Einblicke in seine praktische Arbeit gewähren.
Drei-Instanzen-Modell
Siehe auch meine bisherigen Beträge zum Thema Psychoanalyse:
Die Kunst des Liebens – zum 25. Todestag von Erich Fromm
Freud’sche Fehlleistungen
Bestie Mensch
Ich habe dein Statement über Erikson gelesen. Ich finde seine Theorie sehr praxisrelevant für das Verständnis von Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg.
Kannst du mir bitte sagen, wo genau das Zitat „Identität ist der Schnittpunkt….“ steht?
Ich danke dir
Tut mir Leid, aber auf die Schnelle konnte ich das Buch nicht finden. Außerdem müsste ich selbst nachschauen, wo das Zitat steht. Aber so umfangreich ist das Buch von Erik H. Erikson nicht (gut 200 S.) Gruß Wilfried Albin