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Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht

Mit Max Frisch ist Friedrich Dürrenmatt einer der größten Schriftsteller der Schweiz in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während ich von Frisch fast alles gelesen habe, habe ich zu Dürrenmatts Bücher eher sporadisch gegriffen, vielleicht weil es mir in der Absurdität seiner Werke immer etwas zu übertrieben und fernab der feinen Psychologie der Romane und Stücke eines Max Frisch war.

Aus dem ausgesonderten Bücherbestand von Freunden und Bekannten, die für den Verkauf beim letzten Flohmarkt in Tostedt zusammen getragen wurden, habe ich den kleinen Roman „Der Verdacht“ von Friedrich Dürrenmatt ‚gerettet’ und gelesen.

Es handelt sich bei dem gerade einmal 120 Seiten langen Werk um einen Kriminalroman. Wenn große Schriftsteller Kriminalromane schreiben, bin ich meist skeptisch. Aber dieser kleine Roman hat es in sich, denn Kriminalkommissär Bärlach begibt sich als Patient in die Macht eines verbrecherischen Arztes, um unter Lebensgefahr dessen dunkle Vergangenheit aufzudecken. Dürrenmatt enthüllt die pathologische Physiognomie und Psyche einer Zeit, die den Menschen an den Unmenschen ausgeliefert hat. Dr. Emmenberger war Lagerarzt des KZ Stutthof bei Danzig. Das einzige Opfer, das Emmenbergers grausame Experimente überlebt hat, der geheimnisumwitterte Jude Gulliver, hilft Bärlauch bei der Überführung des Verbrechers. Nicht allein die erregende Entlarvung Emmenbergers, auch die Enthüllung der Hintergründe und Abgründe menschlichen Tuns in einer unmenschlichen Zeit machen dieses Buch zu einer eigenwillig aktuellen Dichtung.

Als sich Bärlach und Emmenberger gegenüberstehen, rechtfertigt der Arzt sein Tun mit einem Credo besonderer Art – seinem Glauben an die Materie:

Es ist unsinnig in einer Welt, die ihrer Struktur nach eine Lotterie ist, nach dem Wohl der Menschen zu trachten … Es ist Unsinn, an die Materie zu glauben und zugleich an einen Humanismus, man kann nur an die Materie glauben und an das Ich. Es gibt keine Gerechtigkeit – wie könnte die Materie gerecht sein -, es gibt nur die Freiheit, die nicht verdient werden kann – da müßte es eine Gerechtigkeit gebe -, die nicht gegeben werden kann – wer könnte sie geben -, sondern die man sich nehmen muß. Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist.

Ich wagte es, ich selbst zu sein und nichts außerdem, ich gab mich dem hin, was mich frei machte, dem Mord und der Folter; denn wenn ich einen anderen Menschen töte … werde ich frei, werde ich nichts als ein Augenblick, aber was für ein Augenblick! An Intensität gleich ungeheuer wie die Materie, gleich mächtig wie sie, gleich unberechtigt wie sie, und in den Schreien und in der Qual … spiegelt sich mein Triumph und meine Freiheit und nichts außerdem.

(S. 109 f. – rororo Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Band 448 – März 1973)

siehe auch meinen Beitrag: Bestie Mensch