Schlagwort-Archiv: Lobbyismus

Wie im falschen Film …

In diesen Tagen komme ich mir vor wie im falschen Film, genauer: wie in die 60er Jahre zurückversetzt. Sicherlich lässt sich der 2. Juni 1967, als bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des iranischen Schahs der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde und sich die Studentenbewegung daraufhin radikalisierte, nicht mit dem 30 September 2010 vergleichen, als jetzt Gegner des Bahnhofneubaus Stuttgart 21 von der Polizei niedergeknüppelt wurden. Wenn die Politik jetzt aber nicht reagiert und weiterhin die Protestbewegung lediglich zu diffamieren sucht, dann wird sich diese über Stuttgart hinaus ausdehnen. Denn es geht nicht mehr allein um Stuttgart 21, es geht um unsere Demokratie und was wir Bürger und was die Politik darunter versteht.

Erstaunlich finde ich zunächst, wie sehr die jetzige schwarz-gelbe Koalition in Berlin an Zuspruch verloren hat. Wären jetzt, ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl, erneut Wahlen, Frau Merkel und Herr Westerwelle dürften ihre Hüte nehmen. Das ist aber auch kein Wunder, denn mir (und eben nicht nur mir) erscheint diese Bundesregierung weniger Vertreter der Bürger zu sein als Vertreter industrieller Interessen (Stichwort: Lobbyismus).

Richten wir einen Blick zurück: Da bekommt die FDP satte Spendengelder von der Hotelbranche und lässt im Gegenzug den Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen senken. ‚Natürlich’ besteht zwischen beidem kein Zusammenhang, aber wer glaubt Ihnen das, Herr Westerwelle?!

Dann das Gerangel um die Gesundheitsreform mit dem Ergebnis einer unausgegorenen Reform à la Rösler. Oder die Wahl von Herr Wulff zum Bundespräsidenten. Hat man da dem Wählerwillen entsprochen? Wohl kaum!

Höhepunkt ist aber der Kuhhandel zwischen Bundesregierung und Atomindustrie. Die Laufzeitverlängerungen der Atommeiler spült viel Geld in die Kassen des Finanzministers und man faselt von ‚Brückentechnologie“, die laut Frau Merkel die Atomkraft über das Jahr 2020 hinaus notwendig macht. Nur wohin führt diese Brücke, wenn man im gleichem Zuge Kürzungen bei der Unterstützung der erneuerbaren Energien vereinbart. Der Ausstieg war beschlossene Sache und wurde auch von der Atomindustrie akzeptiert – natürlich mit dem Hintergedanken, dass unter einer schwarz-gelben Regierung der Ausstieg vom Ausstieg zu bewerkstelligen wäre, was jetzt geschehen ist. Kommt dann spätestens in drei Jahren der Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg?

Man mag mir vergeben, aber diesen Atomdeal finde ich weitaus schlimmer als den Neubau eines Bahnhofs in Stuttgart. Da eine langfristige Entsorgung des Atommülls nicht gewährleistet werden kann (und das kann sie nicht), solange ist jede weitere Nutzung dieser Energiequelle ein Frevel gegen Natur und zukünftige Generationen – zumal eine alternative Energieversorgung möglich ist.

Zu Stuttgart 21: Ähnlich wie 1967 (und da sehe ich Parallelen), als der persische Schah Deutschland besuchte, so könnte auch jetzt ein eher nebensächliches Ereignis Auslöser für ein politisches Umdenken in ganz Deutschland werden.

Das Vorgehen der Polizei letzten Donnerstag war ‚unverhältnismäßig’, wie man so schon sagt – ich meine brutal und einem Rechtsstaat nicht angemessen. Auch hier gibt es Parallelen zu 1967. Wenn es auch kein Todesopfer in Stuttgart gab, so wurden doch einige sehr schwer verletzt; mindestens ein 66jähriger Mann wurde durch den Strahl eines Wasserwerfers so schwer verletzt, sodass er für immer erblindet sein wird. Die Rechtfertigungsversuche der Politik ähnelten auch denen der in den 60er Jahren und sind kaum an Lächerlichkeit zu überbieten (wie sehr entblöden sich da Politiker wie der Innenminister von Baden-Württemberg Heribert Rech, CDU, oder der Justizminister Ulrich Goll, FDP). Sicherlich hat Bahnchef Grube ein Recht auf Meinungsäußerung. Aber seine Äußerungen tragen nicht dazu bei, den Konflikt zu entschärfen. Zudem ist er auch als Bahnchef nicht in der Position, das Widerstandsrecht der Bürger zu definieren. Übrigens war er einst als Vertrauter von Jürgen Schrempp (jahrelang Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG und der DaimlerChrysler AG, der heutigen Daimler AG) und mit diesem Befürworter der heute stark kritisierten und wieder beendeten „Welt-AG“ bei Daimler – einem Loch, in dem Milliarden versickerten!


heute-show: Schlacht im Schlossgarten

Inzwischen reagiert die Politik moderat. Aber das Bauprojekt Stuttgart ist durch die Instanzen gegangen und von der Politik abgesegnet worden. Ein endgültiger Baustopp ist nicht vorgesehen. Wie es weitergehen wird (im März sind Wahlen in Baden-Württemberg), weiß vorerst keiner zu sagen. Aber eines ist sicher: Bei solchen Großprojekten geht es in Zukunft nicht mehr ohne die Beteiligung der Bürger – ähnlich wie bei uns in Tostedt: Die Politik plante den Neubau des Rathauses – durch den ‚Druck der Straße’ wurde dieses Projekt inzwischen zurückgenommen.

Wird der 30. September 2010 zu einem historischen Datum? Es liegt an uns Bürger und Wähler. Am 27. März 2011, also in weniger als einem halben Jahr, findet die Landtagswahl in Baden-Württemberg. Die jetzige Landeregierung steckt mitten in einem Dilemma. Will sie Nägel mit Köpfen machen, dann wird sie Stuttgart 21 soweit vorantreiben, dass das Projekt bis dahin unumkehrbar sein wird. Sie riskiert damit aber endgültig, im nächsten Jahr abgewählt zu werden.

siehe hierzu auch: Die hohle Geste des Herrn Mappus

Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es noch drei Jahre. Bis dahin fließt noch viel Wasser die Spree hinunter. Darauf hoffen Merkel und Westerwelle. Wer aber gegen die gegenwärtige Klientelpolitik der Bundesregierung ist, der wird dieser spätestens dann den verdienten Denkzettel verpassen. Ich hoffe, ich bin dann wieder im richtigen Film!