Fortsetzung von: (17): Das Mitleid beim Eigentor
Nein, die Kolumne „Der Witzableiter“ von Eike Christian Hirsch, die 1984 im ZEITmagazin erschien, habe ich nicht vergessen. Nach fast fünf Monaten hier endlich der nächste Teil. Heute geht es u.a. um die Frage, warum wir Witze immer wieder vergessen. Hier eine Erklärung.
„Sagen Sie, was ist Chuzpe?“ „Das ist jiddisch und heißt Frechheit. Chuzpe ist es, wenn ein Mann, der verurteilt werden soll, weil er Vater und Mutter erschlagen hat, um ein mildes Urteil bittet, denn er sei schließlich Vollwaise.“
Auf deutsch gesagt, Frechheit siegt. Solch ein Erfolg löst in uns mal wieder recht gegensätzliche Gefühle aus, ich vermute: Empörung und Bewunderung zugleich. Der zum Tode Verurteilte wartet auf die Hinrichtung. Ein Priester kommt in seine Zelle. „Mann Gottes“, schreit der Delinquent, „was soll ich mich lange mit Ihnen abgeben, in einer Stunde stehe ich vor Ihrem Chef persönlich!“
Mal zwischendurch eine ganz andere Frage: Warum können Sie eigentlich keine Witze behalten? Das haben Sie sich wahrscheinlich auch schon mal gefragt. Heute werden Sie darauf vielleicht eine Antwort bekommen. Ob Sie diesen hier auch vergessen werden?
Der Student wird in Zoologie geprüft. Der Professor hat neben sich einen Vogelkäfig, der aber so zugedeckt ist, daß man nur die Krallen des Vogels sieht. „Was für ein Vogel ist das?“ will der Professor wissen. „Da muß ich schon mehr zu sehen bekommen“, sagt der Student. „Durchgefallen!“ donnert der Prüfer. Als der Student schon an der Tür steht, ruft der Professor: „Welcher von den Kandidaten sind Sie überhaupt?“ Da zieht der Student ein Hosenbein hoch und sagt: „Raten Sie mal.“
Ich glaube, in unseren Tagträumen sind wir oft solche Helden. Aber im Alltag haben wir Angst davor, so kühn zu sein. Da tritt unsere Abwehr auf den Plan, und wir sagen uns: „So darf man nicht sein. Das tut man nicht!“ Mit dieser Ambivalenz der Gefühle hören wir dann auch solche Witze, mit Bewunderung und Empörung. Der große Therapeut zum Patienten: „Als erstes muß ich Ihnen sagen, daß eine Konsultation bei mir hundert Mark kostet.“ „Ich weiß“, sagt der Patient resigniert. „Zweitens: Für dieses Honorar kann ich Ihnen nur zwei Fragen beantworten.“ „Hundert Mark für zwei Antworten – finden Sie das nicht etwas teuer?“ „Mag sein“, antwortet der Therapeut, „und wie lautet Ihre zweite Frage?“
Jeder gute Witz scheint (Sie erinnern sich) zwei gegensätzliche Gefühle in uns zu wecken. Meist sind es Lust und Angst. Hier handelt es sich, genauer gesagt, um Bewunderung und Empörung. „Verflucht“, schreit der Ehemann, „du küßt mich nur, wenn du Geld brauchst!“ „Na“, sagt sie, „ist das etwa nicht oft genug?“
Eigentlich antwortet man so nicht, obwohl wie es alle können möchten. Unsere Einsicht in diese Ambivalenz paßt gut zu einer Grundannahme der Psychoanalyse. Kaum eine Lehre Freuds hat sich so bestätigt wie die von den Abwehrmechanismen. Die treten in Aktion, wenn ein Wunsch in uns unterdrückt werden soll, weil seine Ausführung zu gefährlich wäre. Auf unser Beispiel angewendet: den Wunsch nach Frechheit (nach Chuzpe) unterdrücken wir, indem wir den Gegen-Impuls entwickeln, immer korrekt sein zu wollen. Was sich dieser Schüler leistet, lehnen wir daher ab (und bejubeln es heimlich): Der Lehrer hat einen Verdacht. „Oliver, du hast dieselben vierzehn Fehler im Diktat wie dein Nebenmann. Wie kannst du mir das erklären?“ Oliver überlegt und sagt dann: „Wir haben schließlich auch denselben Lehrer!“
Einer von Freuds Abwehrmechanismen ist sprichwörtlich geworden, nämlich das Verdrängen. Eine andere Art der Abwehr heißt Reaktionsbildung. Das ist unser Versuch, einen Wunsch, der uns Angst macht, dadurch abzublocken, daß wir ihm einen gegenteiligen Impuls entgegenstellen. Und genau in dieser Situation, so meine ich, trifft uns ein guter Witz – wenn er uns trifft.
Gast: „Sagen Sie mal, Herr Ober, ist das Schweinefleisch oder Kalbsfleisch?“ Ober: „Können Sie das denn nicht unterscheiden?“ Gast: „Nein.“ Ober: „Dann kann es Ihnen ja auch egal sein.“
Wenn wir die Lehre von den Abwehrmechanismen auf den Witz anwenden (das hat bisher noch niemand versucht), dann können wir sagen: ein Witz weckt in uns einen verdrängten Wunsch (z.B. den nach Chuzpe) und befriedigt zugleich unsere Abwehr, also den Gegen-Impuls (hier also den Wunsch, korrekt zu sein und nicht zu provozieren). Ja, auch der Gegen-Wunsch geht in Erfüllung, denn im Witz riskieren wir ja nichts, es passiert uns nichts, wir brauchen keine Angst zu haben.
Während der Aufführung der „Räuber“ unterhält sich ein Besucher ziemlich laut mit seiner Frau. Darüber beschwert sich sein Nachbar: „So seinen Sie doch endlich still, man kann ja kein Wort von der Bühne verstehen!“ Ein vernichtender Blick trifft ihn: „Ein gebildeter Mensch kennt die Räuber.“
Haben Sie, verehrte Leser, vielleicht auf ihre Reaktion geachtet? Es könnte sein, daß Sie zuerst einen kleinen Schrecken bekommen haben und sich dann doch heimlich auch über die verbotene Frechheit freuen konnten.
Der Bankräuber schiebt dem Kassierer einen Zettel zu: „Alles Geld in die Tasche packen. Aber dalli!“ Der Bankangestellte nimmt den Zettel, schreibt etwas auf die Rückseite und schiebt den Zettel wieder zurück. Der Räuber liest: „Binden Sie sich mal Ihren Schlips ordentlich. Sie werden nämlich gerade fotografiert.“
All diese Witze werden Sie wieder vergessen. Und nun wissen sie auch, warum das so ist. Weil die verbotenen Wünsche, die im Witz plötzlich wieder da sind, gleich wieder verdrängt werden müssen. Auch den hier können Sie echt vergessen:
Ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher diskutieren über das Christentum. Endlich sagt der Katholik begütigend: „Wir dienen schließlich beide dem gleichen Herrn. Sie auf Ihre Weise – und ich auf seine.“
Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 45/1984
[Fortsetzung folgt]