Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Lao-tse: Tao-Tê-King

Bei der Suche nach einem sinnvollen Spruch zur Konfirmation des Patenkindes meiner Frau, bin ich einmal wieder auf Lao-tse und dem „Heiligen Buch vom Weg und der Tugend“ (Tao-Tê-King) gestoßen. Von Lao-tse wissen wir nur sehr wenig. Er lebte voraussichtlich im 6. Jahrhundert v. Chr.; der Name bedeutet „greiser Meister“.

Von diesem alten Meister können wir noch heute vieles lernen. Hier einige Ausschnitte aus dem Leitfaden der Güte, Tugend und Menschlichkeit. Ich habe mich für die folgenden sechs Zeilen als Konfirmationsspruch entschieden:

Gut ist beim Wohnen: der Grund.
Gut ist beim Sinnen: die Tiefe.
Gut ist beim Geben: die Menschlichkeit.
Gut ist beim Reden: die Treulichkeit.
Gut ist beim Herrschen: die Ordnung.
Gut ist beim Schaffen: die Fähigkeit.
Gut ist beim Sich-Regen: die rechte Zeit.

aus Kap. 8

Wer auf Zehen steht, der hält sich nicht;
Wer die Beine spreizt, der wandelt nicht.
Wer sich selbst sieht, ist nicht erleuchtet;
Wer sich selber recht gibt, ist nicht anerkannt;
Wer sich selber aufspielt, hat kein Verdienst;
Wer sich selber rühmt, wird nicht erhöht.

aus Kap. 24

Des Himmels Weg, wie gleicht er dem Bogenspannen!
Was hoch ist, wird niedergedrückt;
Was tief ist, nach oben gezogen;
Was zu viel ist, wird vermindert;
Was unzureichend, wird aufgewogen.

aus Kap. 77

Karwoche

Die Karwoche beginnt nach dem Palmsonntag, schließt Gründonnerstag und Karfreitag ein, und endet mit dem Karsamstag. Abendmahl, Kreuzestod und Auferstehung Jesu gehören eng zusammen.

Daher feierte man bis zum 4. Jahrhundert in der Osternacht alle drei Ereignisse; heute feiert man drei Tage von Leiden, Tod und Auferstehung des Herrn ab Gründonnerstag. Augustinus sprach im 5. Jahrhundert vom heiligen „Triduum des gekreuzigten, begrabenen und auferstandenen Christus“. In der evangelischen Kirche werden in der Karwoche traditionell tägliche Andachten – „Passionsandachten“ – abgehalten.

Der Karfreitag gedenkt des Kreuzestodes Jesu; „chara“, althochdeutsch, bedeutet „Trauer, Wehklage“. An diesem wie auch am folgenden Tag findet in katholischen Kirchen keine Messe statt, es wird nur ein einfacher Wortgottesdienst gehalten. In Österreich hat sich das Brauchtum des Heiligen Grabes etabliert. Dabei wird „der tote Jesus“ im Anschluss an die Karfreitagsliturgie in einer feierlichen Prozession in sein Grab gelegt.

KARWOCHE

O Woche, Zeugin heiliger Beschwerde!
Du stimmst so ernst zu dieser Frühlingswonne,
Du breitest im verjüngten Strahl der Sonne
Des Kreuzes Schatten auf die lichte Erde,

Und senkest schweigend deine Flöre nieder;
Der Frühling darf indessen immer keimen,
Das Veilchen duftet unter Blütenbäumen
Und alle Vöglein singen Jubellieder.

O schweigt, ihr Vöglein auf den grünen Auen!
Es hallen rings die dumpfen Glockenklänge,
Die Engel singen leise Grabgesänge;
O still, ihr Vöglein hoch im Himmelblauen!

Ihr Veilchen, kränzt heut keine Lockenhaare!
Euch pflückt mein frommes Kind zum dunkeln Strauße,
Ihr wandert mit zum Muttergotteshause,
Da sollt ihr welken auf des Herrn Altare.

Ach dort, von Trauermelodieen trunken,
Und süß betäubt von schweren Weihrauchdüften,
Sucht sie den Bräutigam in Todesgrüften,
Und Lieb‘ und Frühling, alles ist versunken!

Eduard Mörike

François Rabelais: Gargantua und Pantagruel

Als Sohn eines wohlhabenden Advokaten, der mehrere Güter und Weinberge besaß, ward François Rabelais in dem Städtchen Chinon (oder dem nahegelegenen Weiler La Devinière) um 1495 geboren. Er besuchte Klosterschulen, ward Franziskaner, empfing um 1520 die Priesterweihe und eignete sich ein reiches Wissen an. Aber seine Ordensbrüder sahen in seinem Studium des Griechischen eine Ketzerei, und mit einem abgründigen Hass gegen die Dummheit und Faulheit der Bettelmönche floh Rabelais vor ihren Belästigungen 1524 zu dem ihm befreundeten Bischof von Maillezais.

Mit Erlaubnis des Papstes trat er zu den dortigen Benediktinern über, studierte 1530 in Montpellier Medizin, war 1532 bis 1534 Hospitalarzt in Lyon, begleitete in den folgenden Jahren den Kardinal Du Bellay mehrmals nach Rom und praktizierte in den verschiedensten Städten Südfrankreichs. In der Furcht vor religiösen Verfolgungen entwich er 1546 nach Metz, wurde dort Stadtarzt, war 1547 wieder im Gefolge des Kardinals Du Bellay in Rom und kehrte 1550 nach Frankreich zurück, wo er die Pfarrei von Meudon erhielt. Auch sie gab er bald auf. Er starb am 9. April 1553 zu Paris. Seinem Gönner hätte er, wie man erzählt, durch einen Pagen bestellen lassen, er ginge ein großes Vielleicht aufsuchen („Je m’en vais chercher un grand Peut-Etre“). Der Dichter de Bais hat die nachfolgende Grabschrift auf ihn gedichtet:

O Pluto, Fürst der schwarzen Rachen,
Wo niemand lacht in deiner Näh‘,
Empfange heut‘ den Rabelais
Und all die Deinen werden lachen.

François Rabelais

Zuerst, 1532, erschien der Roman „Pantagruel“, zwei Jahre darauf ward „Das unschätzbare Leben des großen Gargantua, des Vaters des Pantagruel“ veröffentlicht. Es trat, wie schon der Titel verrät, als erster Teil, als Vorgeschichte vor den „Pantagruel“. Im Laufe der Zeit wurde das ganze Werk noch durch drei weitere Bücher vervollständigt, die Rabelais mit seinem Namen zeichnete, während er vorher mit anagrammatischer Spielerei einen Maitre Alcofrybas Rasier als Verfasser angegeben hatte. Aus der Andeutung des Inhalts wird hervorgehen, wie willkürlich und unmethodisch der Gargantua und Pantagruel angelegt und durchgeführt sind, aber auch, wie üppig sie im eigenen Fett schwimmen und welch eine unausschöpfbare Fülle an lachender Weisheit, launiger Phantasie, an Wissen und Weltklugheit sie enthalten.

Es ist die groteske Geschichte einer Riesendynastie, die Rabelais erzählt. Gargantua (vom altfranzösischen gargante, Gurgel), im keltischen Volksmärchen ein unersättlicher Fresser und Säufer, wird hier als Sohn des Grandgoschier während eines Zechgelages geboren, brüllt gleich bei seinem Eintritt in die Welt, dass er zu trinken haben wolle, und wird von 17913 Kühen gesäugt, sintemal keine Amme den Nahrungsbedarf des Helden stillen kann. Er hat auch schon von früh an „ein durchschlägig Gesäß“. Die natürlichen Verrichtungen, die Akte der Verdauungstätigkeit spielen bei Rabelais überhaupt eine hervorragende Rolle und werden ebenso häufig wie gründlich herangezogen. Der Humor der Zeit arbeitete eben mit solchen höchst drastischen Mitteln. Nur in dieser Beziehung ist auch Rabelais als echter Renaissancesohn von einer geradezu strotzenden Unanständigkeit, einer „Naturderbheit“, die kaum übertroffen werden kann. Dafür fehlt jede Lüsternheit bei ihm; Frauen spielen in seinem Werk so gut wie gar keine Rolle. Der heranwachsende Gargantua wird von einem „großen sophistischen Doktor, namens Meister Thubal Holofernes“ und einem „anderen alten Huster, namens Meister Hiob Zäumlein“ viele Jahre erzogen und unterrichtet, bis der Vater merkt, dass sein Sohn „davon ganz töricht, dämisch, faslich und blöd im Kopf“ wird, weil seiner alten Lehrmeister „Wissen eitel Viehzeugs und ihre Weisheit nichts als leeres Stroh wär‘, welches die guten edlen Geister verbastardisiert‘ und alle Blüt‘ der Jugend erstickt‘.“ Hier fühlt man den Hass der Erzählers gegen die alte scholastische Erziehungsweise, unter der er selber gelitten hat. Gargantua wird nun den Händen eines anderen „modernen“ Lehrers überantwortet, mit dem er nach Paris zieht. In schönen Kapiteln schildert Rabelais da die neuen pädagogischen Ideale.

Nicht nur der Geist, sondern auch der lange vernachlässigte Körper wird gestählt und geübt, alles wird darauf abgelegt, den Zögling für das Leben kräftig und tauglich zu machen. Die burlesken Späße fehlen zwischen dem Ernst nicht: so langt sich Gargantua die Glocken von Notre Dame als Schellen für seine ungeheure Mähre. Mittlerweile bricht in seiner Heimat ein Krieg aus; Vater Grandgoschier ruft den Sohn heim; der reißt sich einen gewaltigen Baum als Spieß aus der Erde und zerstört damit ein feindliches Schloss, wobei er die ihn treffenden und umsausenden Kanonen- und Büchsenkugeln für Traubenkerne und Fliegen hält.

Eine ungeheure Menge der Feinde ersäuft in der „Harnflut“ seiner Mähre; Gargantua selbst hat durch solche natürliche Verrichtung 260418 neugierige Pariser einmal elend ertrinken lassen „ohne die Weiber und Kinder“. Man erinnere sich an Swifts Gulliver, der einen Brand bei den Liliputanern auf eine ähnliche leichte und natürliche Weise löscht. Nach seinem Siege strählt sich der Held mit einem hundert Stab langen Kamm aus Elefantenzähnen das Haar, aus dem die darin stecken gebliebenen Geschützkugeln fallen. Dann isst er in einem Salat aus Versehen sechs Pilger, die sich während der Schlacht darin versteckt hatten, aber noch glücklich in hohlen Zähnen Asyl finden. Und schließlich traktiert er herrlich den Mönche Bruder Jean des Entommeures (Johann von Klopfleisch), der sich im Kampf gegen die Feinde ausgezeichnet hat. Der Mönch, sagt Rabelais, ist sonst in aller Welt verabscheut; er gleicht dem Affen, der nicht „das Haus hütet wie der Hund, nicht am Pflug zeucht wie der Ochs, nicht Woll‘ und Milch bringt wie das Schaf, nicht Lasten trägt wie das Pferd, sondern dessen ganzes Tun nur ist, alles zu beschmutzen und zu verderben.“ Aber der wackere Jean ist ein anderer Kerl und darf sich zur Belohnung im Land Thelem (= freier Wille) eine Abtei stiften, die das Widerspiel aller anderen ist, die „nur schöne, wohlgestalte Männer und Frauen“ aufnimmt, und zwar immer paarweise, die alle Ordensregeln aufhebt und nur eine einzige anerkennt: „Tu, was du willst!“ Denn jeder Zwang erweckt sklavische Begierden, das Gelüst nach dem Verbotenen; aber die freien, in guter Gemeinschaft lebenden Menschen haben „schon von Natur einen Sporn und Anreiz, der sie beständig zum Rechttun treibt“. Dem mönchisch-mittelalterlichen Gehorsamkeitsideal wird hier also in schärfster Weise das freie Selbstbestimmungsrecht des Menschen entgegengesetzt.

Im „Pantagruel“, dessen erstes Buch dem „Gargantua“ ja vorausging, wird uns ganz ähnliche Kost geboten. Wir erleben Geburt und Jugendtaten des Helden, sehen auch ihn, wie seinen Vater, nach Paris ziehen, hören in einem Brief Gargantuas von dem Unterschied der Zeit und der Erziehung und wundern uns nicht, wenn auch Pantagruel schließlich eines Krieges wegen in die Heimat zurückbeordert wird und wenn er allerlei Kämpfe und Abenteuer da besteht. Vorher entscheidet er einen schwierigen Rechtsstreit – hier fallen prächtige Hiebe gegen den üblichen Gerichtsbetrieb und seine Akten, Repliken, Dupliken, Appellationen und das damit verknüpfte ähnliche „Teufelszeug“ – und findet vor allem in dem 35jährien Panurg einen Begleiter, der eine ähnlich große Rolle spielt, wie der Mönch Jean im Gargantua. Panurg kennt an 63 verschiedene Mittel, sich Geld zu machen, „davon das gewöhnlichste und ehrlichste noch der Weg des heimlichen Mausens war.“ Er ist „ein Taugenichts, Gauner, Saufaus wie keiner mehr; im übrigen der bravste Knab‘ auf Gottes Erden.“ Im zweiten Buch des Pantagruel, im dritten des ganzen Werkes, hält er seine berühmte Lobrede auf die Schuldner und Gläubiger, und alles Folgende dreht sich darum, ob er heiraten soll oder nicht. Er fragt einen Theologen, einen Mediziner und einen Philosophen danach, aber da ihm bei seiner Furcht, Hahnrei zu werden, die Antworten nicht genügen, so tritt er die Seefahrt zum „Orakel der göttlichen Flasche“ an. Die abenteuerlichen Reisebeschreibungen werden dabei verspottet, die verschiedensten Länder und Inseln (Plattnasien, Schikanenland, Läut-Eiland) werden angefahren, die Heimat der Papsthasser wird ebenso berührt wie die der Papstsüchtigen, der Papimanen, und wenn die Satire hier etwas bitter und scharf wird, so wird sie bei den „Philosophen“, die Ziegenböcke melken und den Wind in Netze fangen, wieder lustig. Zuletzt kommt Panurg mit seiner Gesellschaft zum Bouteillentempel, zur göttlichen Flasche, hört aber nur das Wort „Trink!“, so dass die Frage, ob er heiraten soll oder nicht, unentschieden bleibt.

Aus: „Geschichte der Weltliteratur“ von Carl Busse

Riese Pantagruel samt Panurg & Freunden
Der Riese Pantagruel mit Panurg und seinen Freunde
Illustration von Gustave Doré

Hier ein Auszug aus dem Buch Gargantua und Pantagruel:

Drittes Buch – Des Pantagruel zweites – Achtes Kapitel:
Welchermaßen der Hosenlatz bei Kriegern das erste und hauptsächliche Waffenstück ist

„Was?“, sagte Pantagruel, „du behauptest, der Hosenlatz wäre das erste und hauptsächliche Waffenstück? Das ist ja etwas ganz Neues und Paradoxes. Bis jetzt hab’ ich immer geglaubt, die Bewaffnung finge mit den Sporen an.“ – „Ja, ich behaupte das“, sagte Panurg, „und nicht mit Unrecht. Seht nur, wie die Natur, die doch die Bäume, Sträucher, Kräuter und Zoophyten [Pflanzentiere], die sie erschaffen hat, auch erhalten will, so daß die Gattungen bleiben, wennschon die Individuen vergehen – seht nur, sage ich, wie die Natur die Keime und den Samen dieser Gewächse, auf denen ihre Erhaltung beruht, ganz besonders sorgfältig bewaffnet. Sehr zweckmäßig versieht und schützt sie sie mit Hülsen, Schoten, Schalen, Rinden, Kapseln, Wolle, Dornen oder Stacheln, die ihnen sozusagen als schöne, starke natürliche Hosenlätze dienen müssen. Am deutlichsten kann man dies an den Bohnen, Fasolen [Bohnengewächs], Erbsen, Nüssen und Pfirsichen, an der Baumwollpflanze, den Koloquinten [Kürbisgewächs], dem Getreide, dem Mohn, den Zitronen, Kastanien und an dergleichen Pflanzen mehr beobachten, wo der Same augenscheinlich weit sorgfältiger bedeckt, verwahrt und geschützt ist als irgendein anderer Teil.

Solche Vorsicht hat die Natur in betreff der Erhaltung des Menschengeschlechts nicht walten lassen; so schuf sie den Menschen im Stande der Unschuld und im Goldenen Zeitalter nackt, zart, gebrechlich, ohne Schutz- und Angriffswaffen, als ein belebtes Wesen, nicht als Pflanze, als ein Wesen, sozusagen für den Frieden, nicht für den Krieg bestimmt, wohlgeeignet, alle Früchte und Pflanzen zu genießen und friedliche Herrschaft über die Tiere auszuüben. Als aber später, im Ehernen [zu: Erz, Bronze] Zeitalter und unter der Herrschaft Jupiters, die Bösartigkeit der Menschen wuchs, fing auch die Erde an, Nesseln, Disteln, Dornen und andere sich gegen den Menschen auflehnende Gewächse hervorzubringen, während fast alle Tiere, einem beklagenswerten Trieb folgend, sich seiner Herrschaft entzogen und stillschweigend untereinander verschworen, ihm nicht länger zu dienen und gehorsam zu sein, sondern ihm nach Kräften zu widerstreben und ihm zu schaden. Der Mensch aber, der sein altes Genußrecht und sein Regiment aufrechterhalten wollte, auch der Dienstbarkeit vieler Tiere nicht entbehren konnte, war in die Notwenigkeit versetzt, sich nach neuen Waffen umzusehen.“ – „Bei der Gans vom heiligen Schnabel!“ rief Pantagruel aus, „du bist ja seit dem letzten Regen ein gewaltiger Vielsauf, will sagen Philosoph geworden.“ – „Nun seht“, fuhr Panurg fort, „wohin der natürliche Trieb ihn leitete und welchen Teil seines Körpers er zuerst bewaffnete: keinen andern, helf’ mir Gott, als das Gemächt.

Und Priapus [kleinasiat. Fruchtbarkeitsgott, dargestellt mit übergroßem Phallus], der Edle Mann,
hört auf, wenn er nicht länger kann.

Dies bezeugt der hebräische Heerführer und Philosoph Moses, wenn er uns erzählt, daß der Mensch sich mit einem zierlichen, soliden Latz versehen habe, den er auf äußerst sinnreiche Weise aus Feigenblättern anfertigte, die ihrer Dauerhaftigkeit, Faltung, Krausung, Glätte, Größe, Farbe, ihres Aromas und anderer tugendhafter Eigenschaften wegen besonders dazu geeignet schienen, das Gemächt zu schützen und zu bedecken. Eine Ausnahme bilden nur die schrecklichen lothringischen Schwänze, die nun einmal mit Verachtung jeden Hosenlatzes in ihrer Unförmigkeit dem Hosenboden zuzustürzen pflegen [„Ausgenommen natürlich sind die erschröcklichen Lothringer Säckel, die sich nicht aufzäumen lassen, tief ins Hosendach hinabhängen, in Alltägslätzen nicht zu verschlupfen vermögen und in keinem Schubfach unterzubringen sind“ usw. – aus Übersetzung von Engelbert Hegaur und Dr. Owlglass – München 1905], wie ich denn einst zu Nancy an einem ersten Maientag den edlen Viardière [wahrscheinlich Phantasiegestalt], diesen galanten Mann, darüber betraf, daß er, um sich recht schmuck zu machen, sein Gemächt auf einem Tisch putzte, wo es wie ein spanischer Mantel weit ausgebreitet lag.

Wer also sprechen will, wie sich’s schickt, muß zum Waffenknecht, der in den Krieg zieht, nicht sagen: ‚Nimm deinen Weinpott, das heißt deinen Gehirnkasten, in acht’, sondern: ‚Nimm deinen Milchpott in acht’; das aber, zum Henker, ist das Gemächt. Mit dem Kopf geht nur das Individuum zum Teufel, mit dem Gemächt dagegen das ganze Menschengeschlecht. Deshalb meint auch der brave Galen [129- um 200, griech. Arzt in Rom] lib. I de spermate [„Über den Samen“ 1, 15], es würde immer noch besser sein, kein Herz als keine Zeugungsglieder zu haben; denn in ihnen ruht wie in einem Heiligenschrein der verjüngende Keim der Menschheit. Und für weniger als hundert Franken bekenn ich mich, wenn man will, zu der Absicht, daß wir in ihnen die eigentlichen Steine zu suchen haben, aus denen Deukalion [sagenhafter Stammvater der Griechen, der sich als einziger mit seiner Frau Pyrrha in einem hölzernen Kasten aus der von Zeus aus Zorn über die unbotmäßigen Sterblichen entfesselten Sintflut retten konnte; aus Steinen, die er und Pyyrrha hinter sich warfen, entstand das neue Menschengeschlecht] und Pyrrha das Menschengeschlecht neu erstehen ließen, als es in der durch Dichtermund bezeugten Sündflut zugrunde gegangen war. Ja, sagt nicht auch der gelehrte Justinian [oström. Kaiser 527-565] lib. IV de mucceribus tollendis: Summum bonum in hosis et latsibus [„Über die Ausrottung der Mucker“: Das höchste Gut lieg in Hosen und Lätzen (makkaronisches Latein)]. Aus diesen und anderen Gründen ist es nur zu verständlich, daß die Frau des Herrn von Merville [(die) mehr will (von ihrem Mann)] bedenklich dreinschaute, als ihr Eheherr, der mit seinem König in den Krieg ziehen sollte, die neue Rüstung anprobierte – die alte, halb verrostete wollte nämlich seinen Bauch nicht mehr fassen -; sah sie doch, dass für Ehestab und Ränzlein, die auch ihr mit gehörten, gar zuwenig Sorge getragen war und daß nur ein Ringpanzerchen sie schützte. Also ermahnte sie den Gemahl, beides besser zu wappnen und lieber den großen Turnierhelm davorzuhängen, der gang unnütz in einem Zimmer läge. Darauf beziehen sich folgende Verse im dritten Buch der ‚Jungfernsperenzchen’:

Die ihren Gatten fertig und bereit
Zum Kampf gewaffnet sieht bis auf den Latz,
spricht so zu ihm: ‚Verwahr doch, lieber Schatz,
ein bißchen besser jene Kleinigkeit!’ –
War etwas schlecht der Rat? Du liebe Zeit!
Mich dünkt er gut; denn wie wär sie betrübt,
er käme zwar lebendig aus dem Streit,
doch ohne das, was sie am meisten liebt.

Wundert Euch also nicht über meine neue Art, mich zu kleiden.“

Aus dem Französischen und herausgegeben von Horst und Edith Heintze auf der Grundlage der deutschen Fassung von Ferdinand Adolf (Adolph) Gelbcke (19. Jh., bekannt auch als Übersetzer der Sonette von Shakespeare, 1867). Erläutert von Horst Heintze und Rolf Müller. Mit Illustrationen von Gustave Doré. Die bisher wohl älteste Übersetzung stammt von Johann Fischart aus dem Jahre 1575 und wurde 1785 von Dr. Eckstein umgearbeitet. Daneben gibt es die bereits erwähnte Übersetzung von Engelbert Hegaur und Dr. Owlglass – München 1905.

Der gesamte Text ist online beim Projekt Gutenberg nachzulesen (in einer weiteren Übersetzung von Johann Gottlob Regis: Meister Franz Rabelais … Gargantua und Pantagruel. Aus dem Französischen verdeutscht, mit Einleitung und Anmerkungen, den Varianten des 2. Buches von 1533, auch einem noch unbekannten Gargantua herausgegeben durch Gottlob Regis. Leipzig: Barth 1832)

siehe auch meine Beiträge:
Phantasie ohne Grenzen
Gentle Giant: The Advent of Panurge

Phantasie ohne Grenzen

„Fantasy“ gibt es nicht erst in der neueren Literatur oder als kinematische Errungenschaft. Schon in früheren Jahrhunderten gab es Schriftsteller, die ihre eigenen Welten erschufen mit Monstren, Riesen oder Zwergen, also all den Zutaten, wie wir sie heute als „Fantasy“-Erzeugnisse finden.

Hier nur eine kleine, aber feine Auswahl und jeweils als Insel Taschenbuch in schmucker Ausführung (d.h. mit vielen sehr schönen Illustrationen) zu moderaten Preisen erhältlich. Ich erwähne diese Bücher, weil ich sie selbst mit Lust und viel Spaß und Freude gelesen habe:

François Rabelais (1493 oder doch schon 1483 bis 1553): Gargantua und Pantagruel

Gargantua und Pantagruel erstreckt sich über zwei Bände und weit über 800 Seiten.

Freund, der du dies Buch durchblätterst,
Laß dich nicht in Harnisch bringen,
Daß du mir nicht tobst und wetterst,
Denn du find’st von schlechten Dingen
Nichts drin. Ob arg viel Gutes?
Weiß ich nicht, ’s wär‘ denn das Lachen!
Und ich will euch lachen machen.
In der Dumpfheit eures Blutes
Kann euch ja kein Scherz gelingen!
Eure Tränen steh’n euch schlecht:
Lachen! das ist Menschenrecht!

Hermann Hesse schrieb über das Werk: „Mag sein Loblied auf das Leben noch so maßlos, sein Humor noch so derb, seine Freude am Saftigen und Quellenden noch so trunken sein, er ist dennoch heute noch wunderbar lebendig, und ein Kapitel aus dem Gargantua mag einem heutigen Leser recht wohl als Katerfrühstück nach der Lektüre problematischer Tagesliteratur dienen“.

Miguel de Cervantes (1547 – 1616): Don Quixote

Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha dürfte vielen bekannt sein. Als Insel Taschenbuch kommt das gesamte Werk auf drei Bände und über 1300 Seiten. Auch hierzu äußerte sich Hermann Hesse: „… eines der grandiosesten und zugleich entzückendsten Bücher aller Zeiten, die Geschichte des irrenden Ritters und seiner Kämpfe mit eingebildeten Bösewichtern und seinen fetten Knappen Sancho, zweier unsterblicher Figuren“.

Jonathan Swift (1667 – 1745): Gullivers Reisen

Gullivers Reisen finden wir meist in einer Jugend-Ausgabe vor, obwohl das gesamte Werk (diesmal nur in einem Band, aber auch mit immerhin knapp 500 Seiten) eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen darstellt und von daher schon nicht immer jugendfrei ist.

François Rabelais

Miguel de Cervantes

Jonathan Swift

François Rabelais

Miguel de Cervantes

Jonathan Swift

Alle drei Werke sind, wie bereits erwähnt, mit großartigen Illustrationen versehen. Bei Rabelais und Cervantes stammen diese von Gustave Doré. Für Swifts Gulliver zeichnete Grandville. Ich wünsche großes Lesevergnügen!

Günter Grass wird 80

Nach den Aufregungen vor gut einem Jahr wegen der verspäteten Offenlegung seiner Mitgliedschaft zur Waffen-SS am Ende des 2. Weltkrieges (siehe meinen Beitrag: Das späte Geständnis des Günter Grass) sollten diese Tage Anlass zum Feiern sein: Günter Grass feiert heute seinen 80. Geburtstag.

Und so werde ich mir dieser Tage den kleinsten Teil der Danziger Trilogie zu Gemüte führen, die Novelle „Katz und Maus“, die ich gezwungenermaßen ein zweites Mal kaufen musste, nachdem ich das ausgeliehene erste Exemplar bis heute nicht zurück bekommen habe. Der neue Eigner soll sich schämen (oder besser noch: das kleine Büchlein lesen). Und eine DVD mit der Schlöndorff’schen Verfilmung von Grass‘ „Blechtrommel“ steht auch noch im Schrank …

Auch wenn ich mich wiederhole, aber ich habe Günter Grass’ schriftstellerisches Werk genossen, sei es die Blechtrommel, der Butt oder sein kleines Geschichtenbuch ‘Mein Jahrhundert’. Sein politisches Engagement in Sachen Aussöhnung mit dem Osten, sein unermütliches Mahnen, die Gräuel der Nazizeit nicht zu vergessen, haben ihn zu einer moralischen Instanz in Deutschland werden lassen, die besonders im Ausland für Aufmerksamkeit sorgte. Der Lohn war u.a. der Nobelpreis für Literatur.

Dass Günter Grass bis heute nicht unumstritten ist, wundert angesichts dieser Biografie keinen. Auch ich kann und konnte mich nicht immer für ihn begeistern. Und zuletzt konnte er mich auch schriftstellerisch nicht mehr überzeugen. Sein ‚barocker‘ Stil hat sich ziemlich aufgebraucht. Aber allein die Danziger Trilogie und auch „Der Butt“ sind Werke, die weit über die Grenzen Deutschlands die verdiente Anerkennung fanden. Weltliteratur eben.

Also auch von meiner Seite her: Alles Gute zum 80. und weiterhin gutes Gelingen!

siehe auch meinen weiteren Beitrag: Günter Grass’ “Beim Häuten der Zwiebel”

siehe auch zdf.de: Grass wird 80

siehe zdf.de: [Bilderserie] [Video: Günter Grass – Der Unbequeme] [Video: Danzig feiert Günter Grass]

Jack Kerouac: Unterwegs – On the Road

Vor 50 Jahren erschien Jack Kerouacs Roman „On the Road“ und wurde zum Sprachrohr einer Generation – auf der Suche nach Freiheit von Konventionen und Rhythmus im „Beat“.

Der Roman ist das literarische Manifest einer Jugend, die inmitten der „schlechtesten der Welten“ ein dröhnendes Bekenntnis zum „glückseligen Leben“ ablegt und lässt den ehrlichen Bürger erschauern. Tempo, Jazz, Marihuana, Sex und Freiheit sind die Zauberwörter der beat generation, die ständig auf der Suche nach einem intensiven, rauscherfüllten Dasein ist. Ihre Trampfahrten durch die ungeheueren Weites des Landes lassen sie ein Amerika entdecken, das die Landkarten bürgerlicher Erfolgsmoral nicht verzeichnen. In der spontanen, scheinbar improvisierten Prosa Kerouacs äußert sich das Lebensgefühl einer sehr modernen Romantik mit ihren eigenen Freundschaftsidealen und Solidaritätsvorstellungen.

Jack Kerouac

Wie schreibe ich moderne Prosa? – Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber

Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel

1 Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenen Vergnügen vollgekritzelt bzw. wild vollgetippt hast.
2 Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche!
3 Versuche, dich nie außerhalb deiner eigenen vier Wände zu betrinken!
4 Sei in dein Leben verliebt!
5 Etwas, was du fühlst, wird die ihm eigene Form finden.
6 Sei immer blödsinnig geistesabwesend!
7 Schlage so tief, wie du schlagen willst!
8 Wenn du etwas Unergründliches schreiben willst, hole es aus dem Grunde deiner Seele empor!
9 Die unaussprechliche Vision des Individuums.
10 Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen.
11 Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust.
12 Auge haftet in träumerischer Entrücktheit an vor dir befindlichem Objekt.
13 Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse!
14 Mach es wie Proust: Gehe mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerungen hausieren.
15 Erzähle die wahre Geschichte der Welt im inneren Monolog!
16 Im Zentrum des Interesses leuchtet juwelengleich das Auge innerhalb des Auges.
17 Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse.
18 Geh immer vom Kern der Sache aus, schwimm im Meer der Sprache.
19 Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer.
20 Glaube daran, dass die Konturen des Lebens heilig sind.
21 Es gilt, die Flut, die in deinem Inneren bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum!
22 Denke nicht gleich an Worte, wenn du dich nur unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können!
23 Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild.
24 Empfinde weder Angst noch Scham, wenn es um die Würde deiner Erfahrungen, deiner Sprache und deines Wissens geht!
25 Schreibe, was die Welt lesen soll und worin sie genau das Bild sehen muss, was du dir von ihr machst.
26 Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form.
27 Sei des Lobes voll, wenn du in der frostig kalten, unmenschlichen Einsamkeit einen Charakter findest.
28 Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Inneren aufsteigt! Je verrückter, desto besser!
29 Du bist allezeit ein Genie!
30 Autor und Regisseur irdischer Filme, vom Himmel finanziert und heiliggesprochen.

JACK KEROUAC, Evergreen Review, New York, 1959

30 Jahre „Deutscher Herbst“

Am 5. September 1977 entführte die RAF Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Es war der Auftakt zu 45 Tagen Terror in Deutschland, dem „Deutschen Herbst“.

Im Februar war Brigitte Mohnhaupt, die 1972 verhaftet wurde, frei gekommen und bildete seitdem die Spitze der 2. Generation der Roten Armee Fraktion. Deren Ziel war es, die Führung der 1. Generation, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe freizupressen. Ulrike Meinhof hatte bereits 1976 Selbstmord begangen.

Die RAF

Vor der Entführung Schleyers war Generalbundesanwalt Buback und der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Ponto, ermordet worden.

Am 13. Oktober wurde die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt. In Mogadischu wurden alle Passagiere durch den Einsatz der Antiterroreinheit GSG9 befreit. Der Chefpilot war bereits zuvor ermordet worden.

Als die Radionachrichten die „Landshut“-Befreiung melden, beginnt die Todesnacht von Stammheim. Andreas Baader schießt sich in den Nacken. Gudrun Ensslin erhängt sich an ihrem Zellenfenster. Jan-Carl Raspe setzt sich eine Pistole an die Schläfe und drückt ab. Den Häftlingen ist es gelungen, sich Waffen ins Gefängnis schmuggeln zu lassen.

Nach dem Tod der Gefangenen erschießt die RAF Arbeitgeberpräsident Schleyer.

Das erste deutsche Fernsehen (ARD) strahlte am 9. und 10. September [2007] eine zweiteilige Dokumentation von Stefan Aust und Helmar Büchel (Buch und Regie) über die rote Armee Fraktion (RAF) aus, die in detaillierter Form die (Vor-)Geschichte der RAF bis zum Herbst 1977 beschreibt. Dabei wird auch Material aus bisher verschlossenen Archiven gezeigt.

Es ist schon bemerkenswert, wie eine kleine Anzahl von jungen Frauen und Männern ein ganzes Land über Jahre in Aufruhr halten kann. Der Terror der RAF ist dabei aber nicht mit dem heutigen Terrorismus zu vergleichen. Die Anschläge der RAF richteten sich in erster Linie gegen die Repräsentanten eines Systems, das sie zu bekämpfen trachteten. Der heutige Terror macht dagegen selbst vor einfachen Bürgern keinen Halt.

siehe auch meine Beiträge: Georg Heinzen – Uwe Koch: Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden und Ex-RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt bald auf freiem Fuß

Literaturtipps:

Der Autor Friedrich Christian Delius hatte sich in seiner Romantrilogie „Deutscher Herbst“ (Ein Held der inneren Sicherheit – Mogadischu Fensterplatz – Himmelfahrt eines Staatsfeindes) mit dem Geschehen des deutschen Herbstes beschäftigt. Das Ergebnis liest sich trotz alles Fiktion sehr real:

Deutscher Herbst 1977: Ein Karrierist ist vollkommen verunsichert, als sein Chef gekidnappt wird; eine Frau erlebt die spektakuläre Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“; das Begräbnis dreier Staatsfeinde wird wie ein Volksfest gefeiert.

Im Bemühen, als antiimperialistische Kampfgruppe zu handeln, konnte er einige Fachleute anwerben, die größere Sprengkörper bauten. Und als die Truppen der USA, nachdem sie in wenigen Wochen über dem kleinen Land mehr Bomben abgeworfen hatten als im Zweiten Weltkrieg über Deutschland und Japan zusammen, die Bombardements auf Wohngebiete noch einmal verschärften, Häfen verminten und kein lebendiges Ziel schonten, entschloß sich seine Truppe zum Widerstand.

Es gelang ihr, Sprengkörper in zwei Casinos der US-Army zur Explosion zu bringen. Vier Soldaten wurden getötet, achtzehn verletzt. Ein Gebäude mit der Computeranlage, die auch Einsätze und Nachschuboperationen für den fernen Krieg regulierte, wurde beschädigt.

In kurzen Abständen folgten weitere Anschläge, bei denen eher durch Glück nur Verletzte zu beklagen waren. Doch nun wurden alle, aber auch alle Polizisten des Landes aufgeboten, an allen Ecken Sperren errichtet, die Bevölkerung zu allerhöchster Aufmerksamkeit angespornt. Der Idealismus der Armee, die von den Menschen Verständnis für die Attentate gegen die fernen Verbrechen und damit auch Werbung für sich selbst erwartete, wurde aufs gründlichste widerlegt. Sie hatte endlich das ganze Land in Aufruhr gebracht – jedoch gegen sich. Nur wenige Tage dauerte es, bis fast alle wichtigen Leute der Armee aufgespürt und verhaftet waren, darunter … und …, der, durch einen gezielten Schuß in den Oberschenkel kampfunfähig gemacht, seinen so erstaunten wie glücklichen Häschern übergeben werden konnte.

Aus: Delius, Friedrich Christian: Deutscher Herbst: Himmelfahrt eines Staatsfeindes

Max Frisch: Stiller

Im Jahr meiner Geburt erschien von Max Frisch der Roman „Stiller“ (1954). Wer nun denkt, dieses literarische Werk wäre von der Zeit angestaubt (auch ich mag inzwischen angestaubt sein, aber nur äußerlich), der darf sich getäuscht sehen. Okay, da rennen keine Männlein mit Handys herum und trifft sich niemand in einem Internet-Cafe. Ob solche Dinge unserer Zeit als brauchbare Errungenschaften zu werten sind, mag ich dahin gestellt lassen.

Max Frisch wurde 1911 in Zürich/Schweiz geboren und verstarb dort kurz vor seinem 80. Geburtstag. Er arbeitete zunächst als Korrespondent für eine Zeitung, berichtete so u.a. von einer Eishockey-WM. Daneben veröffentlichte er auch sein erstes Buch. Bis 1940 studierte er Architektur und arbeitete bis 1955 als freier Architekt. Ein Stipendium ermöglichte ihn 1951 einen einjährigen Aufenthalt in den USA, wobei er auch Mexiko besuchte.

Die Erlebnisse dieses Aufenthaltes fließen in den Roman „Stiller“ ein. Seit 1955, nach dem Erfolg dieses Romans, arbeitete Frisch als freier Schriftsteller.

Max Frisch

Im Wesentlichen finden sich in diesem ersten größeren Roman die Themen wieder, die auch weiterhin das Werk von Max Frisch bestimmten.

Aber zunächst zum Inhalt. Worum geht es? Ein Mann, den seine Frau, der Bruder, die Geliebte und Freunde als den vor sechs Jahren spurlos verschwundenen Schweizer Bildhauer Stiller erkennen, bleibt beharrlich bei seiner Behauptung: „Ich bin nicht Stiller!“ Daraus entwickelt sich ein Roman voller origineller Ideen, in dem Mr. White, der nicht Stiller sein will, aus den letzten Jahren erzählt.

Es sind Aufzeichnungen in sieben Heften – und das ist das Mittel mit dem Frisch auch weiterhin arbeiten wird: nur wenige Tagebuchaufzeichnungen haben den literarischen Rang erreicht wie die von diesem Autor.

Es geht um den Konflikt eines Menschen, der etwas anderes ist oder sein will, als er für andere zu sein scheint, um das ‚Bildnis‘, das andere von uns machen. Es geht um die Erzählbarkeit des Lebens und um unsere Gier nach Geschichten. Und weiterhin handelt das Buch von den Wiederholungen, die unvermeidbar unser Leben ausmachen und aus denen wir auszubrechen versuchen, wie Stiller, der als Mr. White ein anderes Leben zu leben trachtet. Es geht also um die Kommunikation zwischen den Menschen. Ein Thema, das gerade heute wieder sehr aktuell ist.

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: „Ich kenne dich.“

Max Frisch – Stiller (S. 64 der Taschenbuchausgabe Suhrkamp 9. Aufl. 1977)

Albert Camus: Der Fremde

Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: „Mutter verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.“ Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.

Mit diesen lakonischen Worten beginnt Albert Camus‚ erster Roman „Der Fremde“, eigentlich nur eine Erzählung von knapp 120 Seiten, 1940 entstanden und 1942 – wie eines seiner philosophischen Hauptwerke „Der Mythos des Sisyphos – Ein Versuch über das Absurde“ – veröffentlicht.

Das frühe Meisterwerk schildert in einer Sprache von kristallener Härte und Klarheit die Geschichte eines jungen Franzosen, der unter der unerbittlichen Sonne Algiers bar aller Bindung ohne Liebe und Teilnahme gleichgültig dahinlebt, bis ihn ein lächerlicher Zufall zum Mörder macht. Im Scheitern seiner scheinbar absolut freien Existenz erfährt er, daß Leben Miterleben heißt.

Albert Camus

Albert Camus war französischer Philosoph und Schriftsteller, 1913 in Algerien geboren, 1957 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet und am 4. Januar 1960 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Man zählt ihn zu den Vertretern des Existenzialismus wie Jean-Paul Sartre, mit dem er zunächst befreundet war, sich später aber wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten entzweite (für den Marxisten Sartre endet die Revolte im Endziel Kommunismus, bei Camus ist die Revolte ‚endlos‘).

Ausgangspunkt der Philosophie Camus‘ ist das Absurde des Lebens, die Sinnlosigkeit. Dem kann der Mensch nur durch die Revolte, durch ein tägliches sich Aufbäumen, entgehen. Morgens, wenn ich aufstehe, so lebe ich trotzdem (trotz der Sinnlosigkeit) und mühe mich um menschliche Solidarität. Wesentlich ist dabei die Gleichgültigkeit, die Indifferenz, gegenüber dem Leben. So tue ich Gutes, nicht weil es einen Sinn macht, sondern aus völliger ‚Gleichgültigkeit‘.

„Der Fremde“ ist ein Beispiel für diese ‚Gleichgültigkeit‘ dem Leben gegenüber. Er lebt scheinbar in den Tag hinein. Aber dieses Leben hat seine Ordnung und muss jeden Tag neu gelebt werden. Ein dummer Zufall lässt ihn einen Araber töten. Absicht? Notwehr? Es war die Sonne!

Den Prozess gegen ihn erlebt er ebenso indifferent. Erst in der Verkündigung des Todesurteils gegen ihn dämmert es ihm, wie die ganze Absurdität des Lebens über ihn hereinbricht. Plötzlich beginnt er dagegen zu rebellieren. Er anerkennt seine Situation als unausweichlich und akzeptiert sich nun auch als ein Teil seiner Welt. Damit und in der Erwartung seiner Hinrichtung lässt er das Absurde des Lebens hinter sich.

siehe auch meine Beitrag. Mythos Kafka – Mythos Camus

Bestie Mensch

„das Unmoralische ist, daß solche Machtworte möglich sind. ‚Baue einen Tempel!‘ … Oder nehmen wir Hitler. Der hat Himmler einmal seinen grundsätzlichen Befehl erteilt. ‚Ermorde alle Juden!‘ – drei Wörter, natürlich nur mündlich. Aber er selbst hat nie einen Juden ermordet, sowenig wie Himmler oder Heydrich oder Eichmann, das wurde dann vom niederen Fußvolk besorgt. Und in Auschwitz war es noch idiotischer. Dort mußten die jüdischen Gefangenen selbst das Zyklon-B in die Gaskammern werfen. Da hatte man dann die Situation, daß der eigentliche Mord nicht von den Mördern, sondern von den Opfern begangen wurde. Wer es getan hat, hat es nicht getan, und wer es nicht getan hat, hat es getan.“

aus: Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels (Kapitel 40 – S. 494)

Es ist sicherlich leichtsinnig, in nur wenigen Sätzen die Gedanken zusammenzufassen, die mir zu dem oben Geschriebenen eingefallen sind. Es solches Thema lässt sich nicht auf wenige Begriffe verkürzen. Wenn ich es trotzdem wage, so nur, um einen Denkanstoß zu vermitteln zu einem Problem, das nicht Geschichte geworden ist, sondern uns alle tagtäglich, wenn auch meist im Kleinen, berührt.

1. Manager des Todes

Von den Osterfeiertagen haben wir noch die frohen Botschaften im Ohr, die uns helfen sollen, an das Gute im Menschen zu glauben. Aber angesichts der Kriege und des Elends in dieser Welt, alles von Menschenhand verursacht, zerrinnt dieser Glaube zwischen den Händen und es bleibt wieder nur das Bild des Menschen als Bestie, z.B. als kultivierte Bestie …

Erstaunlich ist, wie Menschen, die Macht ausüben, zu Mördern werden, ohne selbst einem Menschen je ein Haar zu krümmen. Wie ein Top-Manager der Industrie geben sie die Direktiven heraus, kurzgefasst und unmissverständlich, um die Richtung ‚des Unternehmens‘ zu bestimmen. Und schon setzt sich ein Team zusammen, um die Ausführungsrichtlinien zu verfassen. In diesen Etagen ist alles noch sehr abstrakt, ohne Berührungspunkte zur eigentlichen Tat. Die lässt man auf der untersten Ebene dieser perfiden Hierarchie ausführen. Handlungsgehilfen findet man überall.

Adolf Hitler und Eva Braun

Nach außen unterscheiden sich die Manager des Todes wahrlich kaum von Wirtschaftsführern. Man gibt sich gesellig und aufgeschlossen. Eher ist man in diesen Kreisen erschrocken über die Bestie Mensch, über die Brutalität, zu der Menschen untereinander fähig sind.

2. Das existenzialistisches Drama

Wie gesagt: Handlungsgehilfen finden die Manager des Todes überall. Das Leben ist ein existenzialistisches Drama, in dem die moderne Zivilisation leider zu oft als dünner Überzug entlarvt wird. Werden allgemein gültige Regeln aufgehoben, so reißt diese Hülle und die Bestie Mensch zeigt ihr wahres Gesicht. Gerade unter extremen Bedingungen wie im Krieg verlieren zivilisatorische Errungenschaften jede Bedeutung.

3. Anatomie der menschlichen Destruktivität

Erich Fromm hatte sich in den 70-er Jahren aus psychoanalytische Sicht mit den Managern des Todes eingehend beschäftigt. Sein Werk hierzu: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Sicherlich muss man fragen, ob sich ein Mensch wie Hitler auf einen Fall von Nekrophilie ‚reduzieren‘ lässt (gemeint ist hier im Wesentlichen die zunehmende Tendenz zur Zerstörung) oder Heinrich Himmler als klinischen Fall des anal-hortenden Sadismus (bürokratisch-ordnungsfanatischer Charakter). Fromms Anatomie der Aggressionen, sowohl der lebensnotwendigen defensiven als der bösartigen Aggression, der Destruktivität, ist ein wichtiger Denkansatz und im Ergebnis eine Verteidigung der menschlichen Würde, ein Appell an die Menschheit, ihr Leben und dessen gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern.

Theodor Storm: Ostern

OsternEs war daheim auf unserm Meeresdeich;
ich ließ den Blick am Horizonte gleiten,
zu mir herüber scholl verheißungsreich
mit vollem Klang das Osterglockenläuten.

Wie brennend Silber funkelte das Meer;
die Inseln schwammen auf dem hohen Spiegel;
die Möwen schossen blendend hin und her,
eintauchend in die Flut die weißen Flügel.

Im tiefen Kooge bis zum Deichesrand
war sammetgrün die Wiese aufgegangen;
der Frühling zog prophetisch über Land,
die Lerchen jauchzten, und die Knospen sprangen. –

Entfesselt ist die urgewalt’ge Kraft,
die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen;
und alles treibt, und alles webt und schafft,
des Lebens vollste Pulse hör‘ ich klopfen.

Der Flut entsteigt der frische Meeresduft;
vom Himmel strömt die goldne Sonnenfülle;
der Frühlingswind geht klingend durch die Luft
und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle.

O wehe fort, bis jede Knospe bricht,
daß endlich uns ein ganzer Sommer werde;
entfalte dich, du gottgebornes Licht,
und wanke nicht, du feste Heimaterde! –

Hier stand ich oft, wenn in Novembernacht
aufgor das Meer zu gischtbestäubten Hügeln,
wenn in den Lüften war der Sturm erwacht,
die Deiche peitschend mit den Geierflügeln.

Und jauchzend ließ ich an der festen Wehr
den Wellenschlag die grimmen Zähne reiben,
denn machtlos, zischend schoß zurück das Meer –
das Land ist unser, unser soll es bleiben!

Theodor Storm