Im Jahr meiner Geburt erschien von Max Frisch der Roman „Stiller“ (1954). Wer nun denkt, dieses literarische Werk wäre von der Zeit angestaubt (auch ich mag inzwischen angestaubt sein, aber nur äußerlich), der darf sich getäuscht sehen. Okay, da rennen keine Männlein mit Handys herum und trifft sich niemand in einem Internet-Cafe. Ob solche Dinge unserer Zeit als brauchbare Errungenschaften zu werten sind, mag ich dahin gestellt lassen.
Max Frisch wurde 1911 in Zürich/Schweiz geboren und verstarb dort kurz vor seinem 80. Geburtstag. Er arbeitete zunächst als Korrespondent für eine Zeitung, berichtete so u.a. von einer Eishockey-WM. Daneben veröffentlichte er auch sein erstes Buch. Bis 1940 studierte er Architektur und arbeitete bis 1955 als freier Architekt. Ein Stipendium ermöglichte ihn 1951 einen einjährigen Aufenthalt in den USA, wobei er auch Mexiko besuchte.
Die Erlebnisse dieses Aufenthaltes fließen in den Roman „Stiller“ ein. Seit 1955, nach dem Erfolg dieses Romans, arbeitete Frisch als freier Schriftsteller.
Im Wesentlichen finden sich in diesem ersten größeren Roman die Themen wieder, die auch weiterhin das Werk von Max Frisch bestimmten.
Aber zunächst zum Inhalt. Worum geht es? Ein Mann, den seine Frau, der Bruder, die Geliebte und Freunde als den vor sechs Jahren spurlos verschwundenen Schweizer Bildhauer Stiller erkennen, bleibt beharrlich bei seiner Behauptung: „Ich bin nicht Stiller!“ Daraus entwickelt sich ein Roman voller origineller Ideen, in dem Mr. White, der nicht Stiller sein will, aus den letzten Jahren erzählt.
Es sind Aufzeichnungen in sieben Heften – und das ist das Mittel mit dem Frisch auch weiterhin arbeiten wird: nur wenige Tagebuchaufzeichnungen haben den literarischen Rang erreicht wie die von diesem Autor.
Es geht um den Konflikt eines Menschen, der etwas anderes ist oder sein will, als er für andere zu sein scheint, um das ‚Bildnis‘, das andere von uns machen. Es geht um die Erzählbarkeit des Lebens und um unsere Gier nach Geschichten. Und weiterhin handelt das Buch von den Wiederholungen, die unvermeidbar unser Leben ausmachen und aus denen wir auszubrechen versuchen, wie Stiller, der als Mr. White ein anderes Leben zu leben trachtet. Es geht also um die Kommunikation zwischen den Menschen. Ein Thema, das gerade heute wieder sehr aktuell ist.
Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: „Ich kenne dich.“
Max Frisch – Stiller (S. 64 der Taschenbuchausgabe Suhrkamp 9. Aufl. 1977)