Archiv für den Monat: November 2012

Anleitung zum Unglücklichsein – der Film

Aus gegebenem Anlass habe ich noch einmal Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein gelesen.

„Unserer Welt, die in einer Flutwelle von Anweisungen zum Glücklichsein zu ertrinken droht, darf ein Rettungsring nicht länger vorenthalten werden …. Der Sozialstaat braucht die stetig zunehmende Hilflosigkeit und das Unglücklichsein seiner Bevölkerung so dringend, daß diese Aufgabe nicht den wohlgemeinten, aber dilettantischen Versuchen des einzelnen Staatsbürgers überlassen bleiben kann. Wie in allen anderen Sparten des modernen Lebens ist auch hier staatliche Lenkung vonnöten.

Unglücklich sein kann jeder; sich unglücklich machen aber will gelernt sein, denn dazu reicht etwas Erfahrung mit ein paar persönlichen Malheurs nicht aus.“

[…] Jeder Leser dürfte etwas von sich selbst in diesem Buch wiederfinden – nämlich seine eigene Art und Weise, den Alltag unerträglich und das Triviale enorm zu machen.
(aus dem Klappentext)

    Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein

Vor vier Jahren habe ich bereits einmal einiges zu diesem Buch (Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein) geschrieben. Und auch sonst habe ich Paul Watzlawick, der nicht nur Psychoanalytiker, sondern u.a. auch ein prominenter Kommunikationswissenschaftler war (siehe die fünf Axiome der Kommunikationstheorie), hier in weiteren Beiträgen zitiert.

Eines dieser Axiome, dass jede Kommunikation eine Objekt- und eine Beziehungsebene hat, spielt auch in diesem kleinen Büchlein eine nicht unbedeutende Rolle – und in diesem Zusammenhang wird ein Mechanismus genannt, den man zurecht den Namen Illusion der Alternativen gab („Tut er A, hätte er B tun sollen, und tut er B, hätte er A tun sollen.“). Aber ich will nicht zuviel verraten, lesen … (Übrigens: Loriot war ein Meister darin, uns diese Illusion der Alternativen vor Augen zu führen …).

Was ist der Anlass, noch einmal auf Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein zurück zu kommen? Das Buch bildet sozusagen den theoretischen Rahmen für einen Film, der am 29. November 2012 in unsere Kinos kommt: Anleitung zum Unglücklichsein – der Film; da darf man gespannt sein:

Neurotisch? Verträumt? Abergläubisch? Widersprüchlich? Single? Das ist Tiffany Blechschmid (Johanna Wokalek). Sie betreibt in Berlin ein Feinkostgeschäft und wartet auf das große Glück. Aber in Tiffanys Leben folgt auf Glücksgefühle in der Regel die Katastrophe. Sie, die zuversichtlich Glückskekse in ihrem Laden verkauft, muss sich da Watzlawicksche Fragen stellen. Was heißt schon Glück? Und wieso steht man sich immer selbst im Weg? Würde sie es sehen, wenn plötzlich der Mann ihrer Träume auftaucht? Als dann ihr ehemaliger Klavierlehrer Hans Luboschinski (Richy Müller) in die Nachbarschaft zieht, sie sich zum draufgängerischen Polizisten Frank (Benjamin Sadler) hingezogen fühlt und auch noch der Fotograf Thomas (Itay Tiran) ihr Interesse weckt, ist die junge Frau ratlos. Die Tatsache, dass immer in den unpassendsten Momenten ihre tote Mutter (Iris Berben) erscheint und ungefragt Lebensweisheiten von sich gibt, macht die Sache für Tiffany auch nicht gerade einfacher.

Aus: filmstarts.de


Anleitung zum Unglücklichsein – Trailer zum Film

Ry und ‚Sandy’ sei Dank? Obama bleibt US-Präsident!

Barack Obama bleibt für weitere vier Jahre Präsident der USA. Der Wahlsieg fiel am Ende deutlicher aus, als zuvor angenommen. Es waren besonders die Frauen und jungen Menschen, die Obama gewählt haben – und sicherlich die Afro-Amerikaner und Latinos – meist arme Menschen. Aber es waren auch gebildete Bürger mit Promotion, die vorrangig in Obama ihren Präsidenten sehen. Zwar steht das Ergebnis aus Florida noch aus, aber jetzt schon hat Obama mit 303 Wahlmännern mehr als die erforderlichen 270.

Übrigens: Hätten die Deutschen die Wahl zwischen Obama und Mitt Romney gehabt, so wäre die Zustimmung für Obama mehr als eindeutig: 90 % sehen in ihm den gewünschten Präsidenten.

Was hat am Schluss diesen dann doch klaren Vorsprung für Obama ermöglicht? Ry Cooders geradezu wütende Statements gegen Romney dürften nur minimal zum Erfolg beigetragen haben. Vielleicht Zünglein an der Waage war das Krisenmanagement Obamas nach den schlimmen Verwüstungen des Hurrikans Sandy. Hier konnte sich der alte und nun neue US-Präsident zuletzt noch einmal auszeichnen.

Sicherlich hat Obama in den letzten vier Jahren vieles von dem, was er zuvor versprochen hat, nicht einhalten können. Jetzt hat er weitere vier Jahre Zeit, sich der Pläne anzunehmen. Wünschen wir ihm ein glückliches Händchen dazu.

Lose Blattsammlung Herbst 2012 (2)

Was macht man, wenn man in einer solchen Jahreszeit Urlaub hat? Immerhin gab es tagsüber am Wochenende einige sonnige Abschnitte. Aber gestern nun regnete es in einer Tour. So bleibt mir, der seine vielen Überstunden abzufeiern hat, nicht viel anderes als Lesen übrig. Und dann noch diese Lektüre – von menschlichem Unglück und noch menschlicherer Grausamkeit. Das eine ist ein Sachbuch aus dem Jahre 1983 und eher ironisch zu sehen (im Umkehrschluss lässt sich Glück aus dem Unglück ableiten). Das andere schon ein Fachbuch aus dem Jahre 1973, dessen Prämissen auch heute noch zum Nachdenken anregen (dazu später mehr).

Blättersammlung unterm Kirschbaum

So wie vor mir Blatt für Blatt aufschlussreiche Lektüre liegt, so liegen die Blätter der Bäume inzwischen fast vollzählig wie in einer Loseblattsammlung dahingestreckt auf dem Boden. Besonders erstaunlich war es, wie sich die Blätter unseres Kirschbaums innerhalb nur eines Tages braun färbten und innerhalb weniger Tage von den Ästen lösten. Der Regen tut das seine, um die Blätter langsam dahinmodern zu lassen.

Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft

    „Es gibt einen stinkenden Geruch, ähnlich dem, der von Kleidungsstücken ausgeht, und einen fauligen Geruch, der weniger hervortritt, aber durch den allgemeinen Ekel, den er auslöst, unangenehmer ist als der erste. Ein dritter, den man Verwesungsgeruch nennen kann, läßt sich als eine Mischung aus Saurem, Fadem und Stinkendem beschreiben, die eher Übelkeit erregt als daß sie die Nase beleidigt; sie geht einher mit der Zersetzung und ist der widerwärtigste unter all den Gerüchen, die im Hospital anzutreffen sind. Ein weiterer Geruch, der in Nase und Augen sticht, kommt von der Unsauberkeit; man könnte meinen, die Luft enthielte etwas Pulverförmiges, und wenn man sich auf die Suche macht, findet man gewiß feuchte, verstockte Wäsche, einen Haufen Unrat oder von gärenden Miasmen verseuchte Kleider und Betten. Die verschiedenen Ansteckungsstoffe haben je eigene Ausdünstungen: die Ärzte kennen den besonderen Geruch des Brandes, den des Krebserregers und den Pesthauch, der sich bei Knochenfraß verbreitet. Doch was die Ärzte durch Erfahrung über diesen Gegenstand lernen, kann jeder erproben, wenn er nur die unterschiedlichen Gerüche in den Krankensälen vergleicht. Bei den Kindern riecht es sauer und stinkend; bei den Frauen süß und faulig; von den Schlafsälen der Männer dagegen geht ein starker, aber nur stinkender und daher längst nicht so abstoßender Geruch aus. Obwohl mehr auf Sauberkeit geachtet wird als früher, herrscht in den Krankensälen der guten Armen von Bicêtre ein fader Geruch, durch den zarte Personen schwach ums Herze wird.“
    (S. 12 – Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft – aus: Jean-Noël Hallé: Artikel „Air – Air des hôpitaux de terre et de mer“ in : Encyclopédie méthodique, Médecine, Paris 1787.)

Von diesem Buch geht ein ganz besonderer Geruch aus, pardon, eine ganz besondere Faszination: Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft – Eine Geschichte des Geruchs – Aus dem Französischen von Grete Osterwald – Verlag Klaus Wagenbach – Berlin – 9. – 12. Tausend Oktober 1984 (Original : Le Miasme et la Jonquille. L’odorat et l’imaginaire social XVIIIe – XIXe siècles – Paris 1982). Leider längst vergriffen, aber im Antiquariat bestimmt erhältlich.

Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft

Alain Corbin ist ein französischer Historiker und Hochschullehrer, der sich überwiegend mit der Geschichte Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt. Neben dieser Geschichte des Geruchs hat er auch Bücher zur Geschichte des Strandes und der Badekultur oder zur „sexuellen Gewalt in der Geschichte“ geschrieben, die sicherlich auch den interessierten Laien-Historiker lesenswert erscheinen dürfte. Mir liegt noch das Buch Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung in Frankreich des 19. Jahrhunderts vor.

Auch wenn weder ein Pesthauch noch ein Blütenduft von dem Buch ausgeht, so seien „zarte Personen“ gewarnt: Manche Beschreibung (siehe die Voranstellung) kann „schwach ums Herze“ machen.

Aber eines nach dem anderen: Wer sich in seiner ‚bürgerlichen’ Existenz verstehen will, sollte den Blick zurück in die Vergangenheit nicht scheuen. Die Geschichtsschreibung befasst sich gottlob nicht nur mit Ereignissen und Daten, die wir im Geschichtsunterricht vorgesetzt bekamen, sondern beschäftigt sich längst mit dem Alltag der Menschen in früheren Zeiten. Corbins Geschichte des Geruchs ist zwar im Wesentliche eine Geschichte, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts spielt. Aber was die Franzosen da zu riechen bekamen, dürfte auch deutsche Nasen entsetzt oder entzückt haben, je nachdem. Es ist natürlich besonders auch eine Geschichte der Hygiene, dann was aus den Häusern oder Gullis der Straßen entströmte, hatte immer auch etwas mit (fehlender) Reinlichkeit zu tun.

„Die erste Kulturgeschichte der Hygiene und ihrer sozialen Folgen: von der frühen Bekämpfung ‚verdächtiger’ Gerüche im achtzehnten Jahrhundert, der Reinigung des ‚öffentlichen Raums’ und der Kanalisation bis zu den Feinheiten der Parfümerie und der Entwicklung neuer Sitten.“ (aus dem Klappentext)

„Die Vorgeschichte unserer Geruchsempfindlichkeit beginnt Ende des 18. Jahrhunderts, als ein heute unvorstellbarer Gestank den Alltag in Stadt und Land beherrschte. Von da an ging es aufwärts: Während Robespierre das Laster ausrotten will, wird in Paris der erste Lehrstuhl für Hygiene eingerichtet, und in der Folge verschwistert sich der Geruchssinn mit der Polizeiwissenschaft, er wird zum Desinfektionswahn.

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wird aber auch immer deutlicher unterschieden zwischen Gestank und Wohlgeruch: der Pöbel stinkt, der Bourgeois parfümiert sich, und so entstehen immer wieder neue Vorstellungen von Eleganz und Individualität, bis heute.“ (Quelle: u.a. wagenbach.de)

Corbin schreibt anschaulich und zitiert viele Quellen, sodass ein überaus authentisches ‚Bild’, ja geradezu ein Geruch von Scheiße und Veilchenduft dem Leser vermittelt wird. Hier ein Beispiel für die Gerüche des Zerfalls:

Becher [Becher, Johann Joachim, u.a. Physica subterranea, Frankfurt am Main, 1669.] selbst hatte sich bemüht, die Gerüche in den einzelnen Stadien des Zerfalls zu beschreiben. 1760 legt Féou in Montpellier eine Doktorarbeit vor, in der er Bechers Analyse aufgreift und verfeinert. Unmittelbar nach dem Tode verströmt der Leichnam einen ‚süßlichen Geruch’, den manche für eine ‚Weingärung’ halten. Dann entwickelt sich ein stärkerer, beißender Geruch, der ‚recht oft an den Gestank von überreifem Käse erinnert’; Gardane bezeichnet ihn als ‚säuerlich’. ‚Schließlich tritt der Geruch der Fäulnis auf, der zunächst nur fade und nicht scharf ist, jedoch von einer Fadheit, die Übelkeit erregt (…); unmerklich wird er penetrant, ätzend und widerwärtig. Auf den faulen Geruch folgt ein krautartiger, und schließlich einer, der nach Ambra riecht …’ Der Autor schließt mit der Bemerkung: ‚Dies soll die Ärzte in die Lage versetzen, die bei Krankheiten entstehenden Gerüche genauer zu bestimmen.’ (S. 31)

Aber es geht auch um Wohlgerüche und ihre Wirkung:

‚Der Geruch’, so heißt es bei Saint-Lambert [Les saisons, zitiert von Robert Mauzi: L’idee du bonheur au XVIIIe siècle, Paris, 1960], ‚vermittelt uns ein innigeres Gefühl, einen unmittelbaren, vom Geist unabhängigeren Genuß als der Gesichtssinn. Schon beim ersten Eindruck ergötzen wir uns zutiefst an einem angenehmen Duft. Die Freuden des Sichtbaren dagegen sind stärker an Reflexionen gebunden, an das Verlangen nach sehenden Gegenständen und die Hoffnungen, die selbige erzeugen.’ (S: 115]

Übrigens diente Corbins „Pesthauch und Blütenduft“ Patrick Süskind als Recherchequelle für seinen Roman „Das Parfum“, denn es enthält auch eine lebendig erzählte Kulturgeschichte von den Anfängen der Körperpflege und öffentlichen Hygiene, der Parfümmanufakturen und der Ökologie im 19. Jahrhundert.

Hier noch einige weitere aufschlussreiche Zitate:

All die […] wissenschaftlichen Überzeugungen machen eine ausgeprägte Benutzung des Geruchssinns verdächtig. Das Schnüffeln und Beriechen ist ebenso verpönt wie die scharfe Geruchswahrnehmung oder eine Vorliebe für schwere tierische Riechstoffe; auch die Anerkennung der erotischen Rolle von Sexualgerüchen erregt Mißtrauen. Derartige Verhaltensweisen, die mit denen des Wilden verwandt sind, bezeugen eine Nähe zum Tier, einen Mangel an Raffinement, eine Unkenntnis der guten Sitten – kurz, sie beweisen das Scheitern jener Lernerfahrungen, die den gesellschaftlichen Stand definieren. Der Geruchssinn steht – gleich neben dem Tastsinn – ganz unten in der Hierarchie der Sinne. (S. 16)

Je mehr der Gestank der sich schindenden Bevölkerung hervorgehoben wird, je stärker man den Akzent auf die durch ihre bloße Anwesenheit gegebene Ansteckungsgefahr legt, um so leichter ist jener Rechtfertigungsterror aufrechtzuerhalten, in dem die Bourgeoisie sich wiegt, in dem sie den Ausdruck ihres schlechten Gewissens erstickt. (S. 191)

Immerhin wissen wir von der „… Gleichheit der Menschen im Vorgang der Darmentleerung.“ (S. 44), nur das ‚Örtchen’ unterscheidet sich noch manchmal stark: ‚Wir leben mitten in der Verseuchung, da wir einen stets unerträglichen Gestank im eigenen Leib beherbergen’, entsetzt sich Caraccioli [Louis-Antoine de C., Lüttich, 1759]. Nach und nach wird der Ort der Darmentleerung spezifischer, individueller. Im Zuge der Privatisierung des Unrats entwickelt er sich mehr und mehr zu einem Ort des inneren Monologs. Die einzigen englischen water closets, über die Versailles verfügt, sind dem König und Marie-Antoinette vorbehalten. In Frankreich gehören diese beiden Personen zu den ersten Individuen, die Erfahrungen mit einer neuen Art von Intimität machen. Diese Anekdote ist Bestandteil eines allgemeinen Individuierungsprozesses sozialer Praktiken, der dem Narzißmus in die Hände spielt. (S. 116)

Die menschlichen Exkremente, so sehr sie stinken mögen und so oft Wissenschaftler der früheren Zeit vor der Gesundheitsgefährdung der ‚Miasmen’ warnen, Scheiße ist als Dünger auch Geld – und es dauert dann nicht mehr lange, bis „die Psychoanalytiker [den Zusammenhang] zwischen Geld und Fäces herstellen.“ (S. 155)

“Corbins Kulturgeschichte ist ein von A bis Z ernsthaftes Buch. Aber da sich der anekdotische Ernst mit dem Thema ‚Gestank’ verbindet, liest es sich wie eine Satire. Auf diese Weise haben wir es mit einer Lektüre zu tun, die auf beinahe jeder Seite eine Neuigkeit – und allgemeine Heiterkeit zugleich verbreitet.“ (Harald Wieser in ‚Der Spiegel’)

In diesem Sinne lasse ich zuletzt Gustave Flaubert zu Worte kommen, der etwas ungehörig gegen die guten Manieren seiner Zeit herausfordernd an seinem Freund Ernest Chevalier am 15. März 1842 schrieb :

„Kack in die Stiefel, piß aus dem Fenster, schrei Scheiße, laß den Dünnpfiff wässrig sein und die Fürze eisern, rauche wie ein Schlot […] rülps den Leuten ins Gesicht“.
(Gustave Flaubert – Correspondance, Bd. I, S. 97)

Heute Ruhetag (27): Charles Dickens – Oliver Twist

Im Februar vor 200 Jahren wurde Charles John Huffam Dickens in Landport bei Portsmouth geboren. Also noch ein Jahrestag, denn wir gedenken sollten. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Oliver Twist, David Copperfield, Eine Geschichte aus zwei Städten, Große Erwartungen sowie – Weihnachten steht ja fast schon wieder vor der Tür: Eine Weihnachtsgeschichte. Nur wenige Schriftsteller wurden so oft verfilmt wie Charles Dickens. Ein Grund dafür dürften Dickens’ Charaktere sein, die sich nicht nur durch ihre skurrilen Namen auszeichnen, sondern auch sehr einprägsam sind. Wer kennt eigentlich nicht Gestalten wie Ebenezer Scrooge, Oliver Twist, David Copperfield oder Uriah Heep, nach dem sich sogar eine Rockgruppe benannt hat. In seinen Werken finden sich oft konkrete Hinweise auf die sozialen Missstände des viktorianischen Zeitalters, etwa durch die beispielhafte Darstellung der kritischen Situation der armen Stadtbevölkerung oder der damals vorherrschenden Sozialstrukturen. So gewinnen wir einen bleibenden Eindruck von der damaligen Zeit.

Heute Ruhetag = Lesetag!

In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.

Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungern ein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäre er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

[…]

Erstes Kapitel – Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten

Signatur: Charles Dickens

Charles Dickens: Oliver Twist

Lose Blattsammlung Herbst 2012 (1)

Schon sind wir im November abgelangt, ein Monat, der sich meist in grauen Farben präsentiert. Nicht umsonst hat man diese Trauerfeiertage in diesen Monat verlegt, in dem mancher schnell seiner Existenz überdrüssig zu werden droht. Der Herbst eines vielleicht goldenen Oktobers, in dem die Blätter in erdenden Farben zu leuchten schienen, ist einem Herbst der Tristesse gewichen, in dem die Blätter sich faulig in Auflösung befinden.

Blättersammlung unterm Kastanienbaum

Was hilft ist langer Schlaf am Morgen in der Hoffnung, beim Aufwachen noch einige Sonnenstrahlen zu erhaschen. Auch ein gutes Buch hilft immer gegen aufkommende Wehmut. Und vielleicht setzt man sein Lachen ein als Gegenwehr gegen die von der Natur auferlegte Melancholie. Auch diese Zeit vergeht …

Ry Cooder: Jazz (1978)

Bereits 1978 hat sich der Archivar amerikanischer Musik, Ry Cooder, auch um ein Genre bemüht, dass ihm scheinbar fremd sein sollte: Mit Jazz nahm er sich des Ragtimes und anderer archaischer Jazz-Stile an (z.B. Chicago Jazz und Vaudeville), spielte mit entsprechendem Orchester lange zurückliegende Stücke von Musikern wie Jelly Roll Morton, Bix Beiderbecke oder Bert Williams ein – und das auf eine sehr authentische Weise, die überzeugt. Besonders bemerkenswert finde ich dabei die Instrumentierung: Tuba, Klarinetten, Vibraphon und viel Gebläse. Und immer dazu Cooders elegantes Spiel auf der Akustik-Gitarre oder die perfekten Gesangsparts (man höre nur „Nobody“). So taucht selbst der Nichtfan alter Jazzmusik in eine musikalisch andere Welt ein: Jazz mit vielen Synkopen, seltsamen Arrangements und witzigen Texten („Shine“).

Ry Cooder: Jazz

Ry Cooder zeigt auf Jazz, welch großer Meister er auf der Gitarre ist. Er drängt sich nie nach vorn und ist doch immer gegenwärtig. Was mich besonders erstaunt: Wie gut z.B. Bläsersätze zum Gitarrenspiel passen können. Als Anspieltipp empfehle ich Nobody – rein akustisch, nur Gitarre und Stimmen, volle Mitten und eine vorbildliche Staffelung des Background-Chores.

Im Jahr des Erscheinens spielte Ry Cooder Teile der Scheibe auch bei einem Konzert in Chicago (wo denn sonst) ein, das sogar das durchweg junge Publikum überzeugte: Ry Cooder – Sound Stage u.a. mit David Lindley – 1978 – Chicago/Ill.

Playlist: Big Bad Bill is Sweet William Now – The Dream – Jezebel – Shine – Maria Elena – In a Mist – Flashes – Davenport Blues – Nobody Knows the Trouble I’ve Seen – Comin‘ in on a Wing & a Prayer

Jenseits der Hemmschwelle

Wenn man wie ich zwei Söhne hat, dann ist man natürlich besonders sensibilisiert für alles, was mit ‚der Jugend von heute’, wie man immer wieder sagt, zu tun hat. Als Elternteil sollte man das zumindest. Daher habe ich mich auch in diesem Blog immer wieder mit Problemen der Jugend beschäftigt.

In Berlin wurde nun in der Nacht zum 14. Oktober ein 20-Jähriger auf offener Straße derart misshandelt, dass er kurz darauf verstarb. Die Gruppe junger Täter wurde inzwischen identifiziert: Jugendgewalt, die entsetzt! Diese ungehemmte Brutalität, mit der manche Jugendliche gegen andere vorgehen, ist leider kein Einzelfall. Immer wieder rasten junge Menschen aus, schlagen ohne Gnade andere nieder und verletzen diese nicht unerheblich. Woher kommt diese Gewaltbereitschaft?

Meistens liegen die Gründe im sozialen Umfeld der Jugendlichen. Es beginnt schon damit, dass Deutschland wenig kindgerecht ist. Vielen unserer Kleinen fehlt der Platz zum Spielen, der Raum zum Entfalten ihrer Kreativität. Ansonsten gibt es sicherlich Anhaltspunkte, die als Merkmale für die Jugendkriminalität betrachtet werden müssen. Soziologen und Psychologen sehen z.B. im Schuleschwänzen einen von drei Hauptindikatoren, dass Kinder und Jugendliche später kriminell werden. Hier spielt die Schule und im besonderen Maße auch die Familie eine Rolle. Kümmern sich weder Lehrer noch Eltern um die Schulschwänzer, wird diesen keine entsprechende Hilfe zuteil, dann setzt sich möglicherweise schnell eine Abwärtsspirale in Gang. Das gilt besonders, wenn Kinder und Jugendliche kein für ihre weitere Entwicklung notwendiges Vertrauen, keine Zuneigung und Geborgenheit erfahren.

„Für den Soziologen Baier ist das der zweite entscheidende Grund, warum Jugendliche kriminell werden: Sie landen im falschen Freundeskreis und lassen sich zu Taten überreden, die sie allein niemals ausführen würden. Besonders negativ sei dabei das Umfeld in Haupt- und Förderschulen, wo Schüler wenige positive Anreize bekommen und sich gegenseitig einreden, dass Anstrengung sich eh nicht lohnt.

Viele dieser Jugendlichen fühlen sich vernachlässigt und von der Gesellschaft abgehängt. Der Frust darüber entlädt sich in Gewalt gegen andere – oder aber gegen sich selbst. Denn ein dritter Hauptgrund für jugendliche Gewalt sind Drogen und Alkohol.“ (Quelle: ard.de)

Natürlich sind das nur Indikatoren. Nicht jeder Schulschwänzer wird kriminell. Es hat meist mehrere Gründe, die bei Jugendlichen die Hemmschwellen zur Gewaltanwendung sinken lassen. Wesentlicher Auslöser ist die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher. Wer für sich keine Zukunft sieht, dem ist alles völlig egal. Wenn hier nicht sinnvolle Hilfe angeboten wird, dann kann es eines Tages nur noch krachen.

Natürlich ist es nicht nur die Gewalt gegen andere, sondern es gibt auch die Gewalt gegen sich selbst – bis hin zum Suizid. Und nicht immer spielen soziale Faktoren die große Rolle. Manchmal sind Jugendliche auch emotional oder gar psychisch gestört. Dies gilt besonders bei jugendlichen Intensivtäter.

Was ist also zu tun? Natürlich rufen Gewaltverbrechen wie das in Berlin Entsetzen hervor. Aber es nützt wenig, wenn besonders Politiker dann wieder nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts verlangen. „Wissenschaftler sind sich einig, dass die Anti-Gewalt-Trainings, die Präventionsarbeit an Schulen und generell die Arbeit der Sozialpädagogen, Psychologen und Therapeuten entscheidenden Anteil daran, dass es immer weniger gewalttätige Kinder und Jugendliche in Deutschland gibt.“ Aber mehr noch müssen die Zukunftsaussichten für Jugendliche stimmen. Wer seine Talente sinnvoll einsetzen darf, wem Perspektiven geboten werden, der wird kaum zur sinnlosen Gewalt bereit sein.