Im Jahre 2011 verbrachte ich mit meinen Lieben meinen Urlaub im brandenburgischen Bad Saarow. Der Ort war in den „Goldenen Zwanzigern“ ein bevorzugter Erholungsort und Treffpunkt der Berliner Kultur- und Filmszene. Unter anderen erwarb hier der damalige Boxweltmeister im Schwergewicht, Max Schmeling, ein Anwesen. Auch Maxim Gorki weilte zwischen 1922 und 1923 in Saarow zur Erholung. Am 6. Juli 1933 heiratete Schmeling in Bad Saarow die deutsch-tschechische Filmschauspielerin Anny Ondra, die er bereits 1930 kennengelernt hatte.
Bis zum Tod der beiden lebten Schmeling und Anny Ondra in Wenzendorf, Ortsteil Dierstorf-Heide, in der Samtgemeinde Hollenstedt, etwa 12 km von meiner Wohnstätte entfernt.
Woher nun mein Interesse für Anny Ondra (Schmeling interessiert nur am Rande)? In diesen Tagen sah ich zwei alte Filme von Alfred Hitchcock. Im Jahr 1929, also noch früh am Anfang seiner Karriere, drehte er die Filme Der Mann von der Insel Man (The Manxman) und Erpressung (Blackmail). In beiden Filmen spielte Anny Ondra die weibliche Hauptrolle. Der erste der beiden ist Hitchcocks letzter Stummfilm; ‚Erpressung‘ ist dagegen Hitchcocks erster Tonfilm, wobei es den Film in zwei unterschiedlichen Fassungen gibt: eine Stummfilmfassung, die damals mangels technischer Ausstattung in den meisten Kinos gezeigt wurde, und eine Tonfassung, die heute in der Regel als Referenzfassung gilt.
Anny Ondra in Hitchcocks ‚Der Mann von der Insel Man‘ (The Manxman), 1929
Ursprünglich war der Film ‚Erpressung‘ nicht als Tonfilm vorgesehen; der Dreh wurde als Stummfilm begonnen. Die Filmproduzenten (British International Pictures) entschieden jedoch während der laufenden Produktion, aus dem Film den ersten britischen Tonfilm zu machen. Dieser Beschluss hatte signifikante Auswirkungen auf den Film, denn ein beträchtlicher Teil des Projekts war zu diesem Zeitpunkt bereits ohne Ton gefilmt worden. Einige dieser Szenen wurden nun mit Ton neu gedreht, aber einige blieben in ihrer ursprünglichen Fassung stumm. Ferner hatte die Hauptdarstellerin Anny Ondra, die aus Galizien stammte, einen sehr starken Akzent, der nicht zu ihrer Rolle passte.
Prolog zu Hitchcocks ‚Erpressung‘ (Blackmail), 1929
Da auch mit ihr einige Szenen bereits „im Kasten“ waren, wurde entschieden, dass Ondra ihre Rolle weiter spielen, bei ihren Einsätzen aber nur die Lippen bewegen sollte. Ihr Text wurde synchron von der Schauspielerin Joan Barry aus dem Off gesprochen. Dies bewirkte zweifelsohne, dass Ondras Schauspielleistung ein wenig unbeholfen wirkte. Anny Ondra als Alice White dürfte so auch eine der ersten Mörderinnen im Hitchcock’schen Kosmos der Schwerstverbrecher sein, wenn sie auch nur aus Notwehr handelt.
Anny Ondra in Hitchcocks ‚Erpressung‘ (Blackmail), 1929
Somit dürfen wir Anny Ondra durchaus mit in die Reihe der Diven stellen, die mit Hitchcock gedreht und ihm sicherlich einen Teil ihres Ruhms zu verdanken haben: Neben Anny Ondra also Joan Fontaine, Ingrid Bergman, Grace Kelly, Kim Novak, Tippi Hedren, Julie Andrews oder die 1955 noch sehr junge Shirley MacLaine.