Es ist eine schöne Sitte (oder fast schon Unsitte), Tagen eine gewisse Bedeutung zu geben. Heute ist also der Welttag des Buches. So wird dem Buch als solches gehuldigt. Ich wäre der Letzte, der etwas dagegen hätte.
23. April: Welttag des Buches
Wenn man wie ich von der schnöden Arbeit entbunden ist, also über freie Zeit en masse verfügt (es sei denn, andere meinen, meine kostbare Zeit unnötig in Anspruch zu nehmen), der schlägt gern ein Buch auf oder zwei oder drei …
Noch in etwas sichtbar weiter (wohl auch geistiger) Ferne liegt der Ulysses von James Joyce (übersetzt von Hans Wollschläger) auf einem Stapel anderer Bücher, den ich vor vielen Jahren einmal bis zur Seite 400 geschafft hatte. Dann gab ich es mit dem Hinweis auf, es einmal z.B. im Rentenalter erneut aufzuschlagen:
Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of
lather on which a mirror and a razor lay crossed. A yellow dressinggown,
ungirdled, was sustained gently behind him on the mild morning air. He held
the bowl aloft and intoned:
—Introibo ad altare Dei.
Halted, he peered down the dark winding stairs and called out coarsely:
—Come up, Kinch! Come up, you fearful jesuit!
… zu Deutsch nach Hans Wollschläger (1975):
STATTLICH UND FEIST erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in
Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit
offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die
Höhe und intonierte:
– Introibo ad altare Dei. [Zum Altar Gottes will ich treten, …]
Innehaltend spähte er die dunkle Wendeltreppe hinunter und kommandierte grob:
– Komm rauf, Kinch! Komm rauf, du feiger Jesuit!
… und in der Übersetzung von Georg Goyert (1927):
Gravitätisch kam der dicke Buck Mulligan vom Austritt am obern Ende der Treppe: er trug ein Rasierbecken, auf dem kreuzweise ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Im milden Morgenwind bauschte sich leicht hinter ihm ein gelber, ungegürtelter Schlafrock. Er hob das Becken in die Höhe und stimmte an:
>Introibo ad altare Dei.<
Dann machte er halt, sah die dunkle Wendeltreppe hinab und rief rauh:
>Kinch, komm rauf! Komm rauf, du gräßlicher Jesuit!<
In zwei Jahren jährt sich zum hundertsten Mal der Jahrestag des Erscheinens (1922) dieses Romans. Also wäre das DANN doch der richtige Zeitpunkt, oder?
Was lese ich im Augenblick? Es ist zum zweiten Male Juli Zehs Spieltrieb aus 2004 (Anlass zum erneuten Lesen war für mich die Verfilmung ihres Romans Unterleuten). Zum ‚Spieltrieb‘ in den nächsten Tagen etwas mehr …
Was lest Ihr eigentlich so … in Zeiten des Coronavirus? Sich mit einem guten Buch in den nächsten Park zu setzen, ist durchaus erlaubt (und wer einen Garten oder Balkon hat, kann es dort sogar völlig ungestört tun). Bleibt gesund und geruhsames Lesen! Es braucht dazu nicht eines Welttages des Buches, oder?!