„Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen? Wenn sie die halb leergeräumten Lagerhallen der Wertigkeiten und Wichtigkeiten, des Nützlichen und Notwendigen, Echten und Rechten verlassen hätten, um auf Wildwechseln in den Dschungel zurückzukehren, dorthin, wo wir sie nicht mehr sehen, geschweige denn erreichen können? Was, wenn ihnen Bibel, Grundgesetz und Strafrecht nie mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einem Gesellschaftsspiel? Wenn sie Politik, Liebe und Ökonomie als Wettkampf begriffen? Wenn >das Gute< für sie maximierte Effizienz bei minimiertem Verlustrisiko wäre, >das Schlechte< hingegen nichts als ein suboptimales Resultat? Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es keine gibt?"
Juli Zeh: Spieltrieb (2004) S. 7
Tief im Westen der Republik in unseren Tagen, an einem Bonner Gymnasium, entwickelt sich die atemberaubende Geschichte einer obsessiven Abhängigkeit zwischen einer Schülerin und einem Schüler, Ada und Alev, aus der sich erst die Bereitschaft, dann der Zwang zu Taten ergibt, die alle Grenzen der Moral, des menschlichen Mitgefühls und des vorhersehbaren Verhaltens überschreiten. Die beiden jungen Menschen wählen sich ihren Lehrer Smutek als Ziel einer ausgeklügelten Erpressung. Es beginnt ein perfides Spiel.
Ganz ruhig fängt das an: Ada, überaus selbstbewusste Schülerin, vierzehn Jahre alt, kommt neu an ein Gymnasium namens Ernst-Bloch, wo der Alltag sie nicht fordert und die Lehrer meist schwache Gegner beim intellektuellen Kräftemessen sind. Anfangs erregt Ada auf Ernst-Bloch wenig Aufmerksamkeit. Das soll sich ändern im Fortgang dieses Romans.
Während im Großen und Ganzen der Weltpolitk die Fronten von >Gut< und >Böse< unter dem Eindruck von Terrorismus und den Spätfolgen einer zusammengestürzten Weltordnung durcheinandergeraten sind, entwickelt sich im Mikrokosmos auf Ernst-Bloch eine mitreißende Geschichte, die unausweichlich auf eine Kette unerhörter Begebenheiten zuläuft, bis der Lehrer Smutek sich schließlich in einer Gewaltorgie gegen seine Schüler rächt und befreit.
(aus dem Klappentext)
Juli Zeh – 2018
Nachdem ich die dreiteilige Verfilmung des Romans „Unterleuten“ von Juli Zeh gesehen hatte, las ich noch einmal den 2004 erschienenen Roman Spieltrieb der damals erst 30-jährigen Autoren. Heute gehört Juli Zeh sicherlich zu den arriviertesten Autorinnen in Deutschland. Der Roman wurde 2013 verfilmt.
Der weit über 500 Seiten starke Roman ‚Spieltrieb‘ war bei seinem Erscheinen ziemlich umstritten. Während die einen den Roman in den höchsten Tönen lobten, wurde er andererseits als „pornolastiges Hanni-und-Nanni-Remake“ verunglimpft, zudem sei er zu sehr von Robert Musils „Törless“ inspiriert worden. Im Mittelpunkt des Romans steht so Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Richard Kämmerlings von der FAZ schrieb, „er hat nur das Gefühl, den Roman einer überambitionierten Klassenstreberin gelesen zu haben.“
Ich halte Juli Zehs Roman für eine Art Jugendroman, der für Erwachsene geschrieben wurde, denn die sicherlich ausufernde Handlungsfülle, besonders die literarischen Anspielungen dürften für Jugendliche kaum nachvollziehbar sein. Und irgendwie – zumindest vom Typus her – sehe ich in Ada, der Protagonistin, ein Alter Ego der Autorin. Vielleicht täusche ich mich da.
Bemängelt wurde übrigens auch die „chronische Verwendung schiefer Metaphern“, die ich zunächst auch etwas merkwürdig, dann aber durchaus witzig fand. Besonders die Bilder, die aus der Meteorologie stammen (und Wetter spielt bei uns immer eine wichtige Rolle), sind zwar schräg, aber einfallsreich.
Der Roman dreht sich um das Spiel als „letzte uns verbliebene Seinsform“. „Wissen Sie, was übrig bleibt, wenn man dem Menschen alle Wertvorstellungen nimmt? […] Der Spietrieb bleibt.“ (S. 547) – „Moral dient der Herbeiführung von Berechenbarkeit. Der Mensch ist […] am berechenbarsten, wenn er pragmatisch handelt. Wenn er spielt.“ (S. 552)
Spieltrieb ist ein großer Roman über die Unmoral und ihre Folgen, letztlich aber ein moralischer Roman, der die Fortgeltung von überkommenen Wertprinzipien in Frage stellt und sich damit einer der großen Fragen unserer Zeit annimmt. Wer weiß noch, was gut und was böse ist – und woher kann er das wissen? – siehe auch: perlentaucher.de