Kafka 2024: Kafka in Riva am Gardasee (5) – Klaus Wagenbach: Dr. von Hartungen, Sanatorium und Wasserheilanstalt – Riva am Gardasee

Ab Mitte 1979 erschien für 20 Jahre im Wagenbach-Verlag Freibeuter, eine Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik – herausgegeben u.a. von Klaus Wagenbach. Die Nr. 16 aus 1983 hatte als Schwerpunktthema Franz Kafka nachgestellt.

Zeitschrift ‚Freibeuter‘ Nr. 16 aus 1983: Franz Kafka
Zeitschrift ‚Freibeuter‘ Nr. 16 aus 1983: Franz Kafka

Der Verleger und Kafka-Kenner, Klaus Wagenbach, verfasste u.a. auch einen Artikel zu Kafkas Aufenthalt 1913 in dem Sanatorium und der Wasserheilanstalt des Dr. von Hartungen:

In Riva, das damals zu Österreich gehörte, war Kafka zweimal: im September 1909 für zehn Tage, gemeinsam mit Max und Otto Brod, in einer kleinen Pension unterhalb der Ponalestraße, und im September/Oktober 1913 für drei Wochen, allein, im Sanatorium Dr. von Hartungen.

'Sanatorium und Wasserheilanstalt Dr. von Hartungen' in Riva am Gardasee: das Haupthaus
‚Sanatorium und Wasserheilanstalt Dr. von Hartungen‘ in Riva am Gardasee: das Haupthaus

Kafka kam mit dem Schiff (aus Desenzano) in Riva an, wie der „Jäger Gracchus“, und wie er fühlte er sich (nach dem Bruch mit Felice [Verlobte in Berlin]) „leer und sinnlos“. „Mein einziges Glücksgefühl besteht darin, daß niemand weiß, wo ich bin.“ Der Jäger Gracchus sagt: „… niemand weiß von mir, und wüßte er von mir, so wüßte er meinen Aufenthalt nicht, und wüßte er meinen Aufenthalt, so wüßte er mich dort nicht festzuhalten, so wüßte er nicht, wie mir helfen. Der Gedanke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden.“

Die Krankheit, die Kafka mit nach Riva brachte und die noch immer „Neurasthenie“ hieß, war auch im Sanatorium Hartungen nicht zu heilen. Und sie überschattete auch das zweite (nach dem in Zuckmantel) große Liebeserlebnis: die Begegnung mit einer achtzehnjährigen Schweizerin, die ebenfalls im Sanatorium wohnte. Auch über diese Liebe hat Kafka fast vollständiges Stillschweigen bewahrt, es gibt kaum mehr als eine kurze Notiz im Tagebuch nach der Rückkehr aus Riva: „Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen zu sterben und das Sich-noch-Halten, das allein ist Liebe.“ Auch dies ist Gracchus: Er lebt nicht, er kann nicht sterben.

In einem Prospekt aus dem Jahr 1910, verfaßt von Dr. Erhard und Dr. Ch. E. von Hartungen, hat sich eine Beschreibung des Sanatoriums und seiner Möglichkeiten erhalten:

Das Anstaltsgebäude liegt inmitten eines grossen Parkes, unmittelbar am Gardasee. 60 Zimmer und eine Lufthütten-Kolonie (20 Lufthütten) mit vornehmen, hygienischen Einrichtungen, mit herrlichem Ausblick auf den Gardasee. Zur Durchführung von Freiluftkuren dient ein grosses, geschlossenes Luftbad im Anstaltsparke, ebenso ein Luft- und Sonnenbad für Herren und Damen am Dach-Plateau der Wasserheilanstalt und die Liegehalle.

… und die Strandliegehalle
… und die Strandliegehalle

Licht-, Luft- und Sonnenbäder, Nacktgymnastik und schwedische Freiluftspiele in gedeckten und freien Luftbädern das ganze Jahr hindurch.

See-, Sonnen- und Sandbäder am Strande unmittelbar vor der Anstalt während der Sommermonate.

Aseptisch ermolkene Kur- und Kindermilch von tuberkelfreien, nur trocken gefütterten Kühen, ebenso auch pasteurisierte Kefir- und Yoghurt (bulgarische Sauermilch).
Auch dieses Sanatorium rühmte sich der Behandlung von „Nervenleiden“ an erster Stelle, erinnerte an die „segensvolle Bedeutung des Lichts, speziell des Sonnenlichts bei Nervenschwäche“ und erinnert die „Bewegungsfreunde“ (zu denen Kafka ohne Zweifel gehörte) daran, daß „die malerische Umgebung Rivas an Abwechslung zu Wasser und zu Lande mehr bietet, als irgend ein anderer Kurort zu bieten vermag“.

Als Kuren – neben den diätetischen – werden angeboten:

Hydriatische Kuren in Form von Teil- und Vollbädern, verschieden temperierten Halbbädern, Abreibungen, Güssen, Teil- oder Ganzpackungen, Dampf- und trockenheissen Luftbädern, des elektrischen Bogenlichtbades. Klinisch erprobte Mineral-, Kräuter- und Schlammbäder, sowie die Behandlung mit Radium in verschiedenster Form wurden schon seit vielen Jahren mit sehr günstigem Erfolge gehandhabt.

Atmosphärische Kuren durch methodischen Gebrauch von Sonnen-, Luft-, Marsch- und Ruderlichtbädern mit und ohne folgende Wasseranwendung.

Heilgymnastik, d.h. leichte Leibesübungen, werden unter Aufsicht den Indikationen entsprechend ausgeführt.

Elektrotherapie wird mittelst Vierzellenbades (nach Dr. Schnee) faradischer und galvanischer Ströme und Bäder, der Influenzmaschine etc. etc. angewendet; die Anwendung derselben findet nur durch die Ärzte statt.

Ein weiteres Therapieangebot zeigt, daß das Sanatorium Hartungen damals zu den modernsten Anstalten gehörte:

Die Psychotherapie spielt im Sanatorium keine untergeordnete Rolle, da die Ärzte täglich mit den Patienten verkehren, sich auf das intimste über deren Befinden informieren, so dass ausser der streng individuell diätetisch-physikalischen Behandlung gleichzeitig eine seelische Einwirkung als Korrektiv möglich wird, welche die Krankheitsfurcht oder andere schädliche Vorstellungen, wie Gemütsbeschwerden, beseitigt, und den Kranken einer gesundheitsfreudigen und daseinsfrohen Stimmung entgegenführt.

Spezialärztlich durchgeführte psychoanalytische Behandlung.

Die meisten Gebäude des Sanatoriums stehen heute noch und dienen, nach einem Besitzerwechsel, ähnlichen Zwecken.

siehe auch: Kafka „kehrt zur Natur zurück!“

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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