Etwa sieben Jahre nachdem Helmut Halm mit seiner Frau Sabine Urlaub am Bodensee machte („Ein fliehendes Pferd“, veröffentlicht 1978), begegnen wir ihn in dem Roman „Brandung“ (veröffentlicht 1985) von Martin Walser wieder.
Mit „Brandung“ habe ich jetzt das dritte Walser-Buch innerhalb kurzer Zeit zu Ende gelesen. Es ist schon allein deshalb für mich interessant, weil der Protagonist des Buches, Helmut Halm, in meinem jetzigen Alter ist.
Halm ist Englisch- und Deutschlehrer in Stuttgart, wo er im Stadtteil Sullenbach im ehemaligem Haus seiner Schwiegereltern lebt. Am zweiten Tag der Sommerferien erreicht ihm ein Anruf eines ehemaligen Studienkollegen mit der Bitte, stellvertretend für einen ausgefallenen Wissenschaftler für ein Semester einen Lehrauftrag an der Collegestufe der Universität von Los Angeles (lt. Roman die Washington University in Oakland, die es aber nicht gibt – es muss sich anhand der geografischen Daten um die UC (University of California) in Berkeley handeln) zu übernehmen. Nach reiflichen Überlegung sagt er zu.
Wohnsitz von Helmut Halm: Stuttgart-Sillenbuch – Buowaldstraße
Seine Arbeit besteht im Wesentlichen aus einem Konversationskurs, an dem auch die 22-jährige Fran Webb teilnimmt. Obwohl sie sich nicht am Unterricht beteiligt, vereinnahmt sie Helmut Halm nach dem Unterricht und lässt sich für die Anfertigung eigener Examensarbeiten von ihm beraten. Zunächst scheint seine Hilfe zu fruchten. Aber schon der 2. Aufsatz von ihr bekommt eine schlechte Note, da seine Ratschläge zu ausgelassen und zu gewagt werden.
Wohnsitz der Halms in Berkeley (San Francisco) – Contra Costa Avenue
Helmut Halm ist hin- und hergerissen von dieser „schönen Dummen“ und nimmt sich sehr viel Zeit für sie. Hinzu kommt, dass sich Fran Webbs Aufsatzthemen immer wieder um Pärchen drehen, die anscheinend nicht zueinander finden können, obwohl sie ineinander verliebt sind – wie z.B. Benedikt (Benedick) und Beatrice in William Shakespeares „Viel Lärm um nichts“, die ihre gegenseitige Liebe mit viel Wortwitz zu leugnen trachten.
Zuvor ist es aber auch William Shakespeares 129. Sonett, das die Phantasie des Helmut Halms zu beflügeln scheint. Außerdem treibt ein Sittenstrolch (rapist) sein Unwesen auf dem Campus. Da kommt selbst ein Herr Halm auf komische Ideen.
The expense of spirit in a waste of shame
Is lust in action; and till action, lust
Is perjured, murderous, bloody, full of blame,
Savage, extreme, rude, cruel, not to trust …
Des Geistes Aufwand bei der Schandthat Plan
Wird bei der That zur Lust, und bis zur That
Ist blutig, treulos, mördrisch, voll von Wahn,
Und wild die Lust, und roh und voll Verrath.
Deutsch von Ludwig Reinhold Walesrode, 1840
Nachdem seine Frau wieder nach Deutschland zurückkehren muss (ihr Vater liegt im Sterben) , geht die Phantasie endgültig mit Helmut Halm durch. Aber es ist eben nur die Phantasie, obwohl sein ständiges Beisammensein mit Fran Webb auch die Kollegen argwöhnisch werden lässt.
„Hatte er eigentlich je ein Mädchen, eine Frau angesprochen? Hatte er je eine Absicht zu erkennen gegeben, bevor er durch Zeichen der Frau sicher sein konnte, er werde, wenn er sich nähere, nicht abgewiesen?“
(Martin Walser: Brandung, 1985, Lizenzausgabe S. 251)
Nein, auch Fran Webb spricht er nicht an. Und sie lässt ihn physisch nicht näherkommen.
Helmut Halm ist ein Meister der Verstellung. Er zeigt nicht, was er denkt und denkt nicht, wie er sich zeigt. Schon das war Thema des ersten Halm Buchs „Ein fliehendes Pferd“:
„Ist nicht jede Sprache eine Fremdsprache, hätte Halm gern gesagt, ausgerufen sogar. Fremd dem, was wir sind. Was wir sind, darf nicht herauskommen. In keiner Sprache. Also, die heutige Behauptung: Jede Sprache ist mehr zum Verbergen da als zum Enthüllen …“
(S. 66)
„Jetzt hatte er gestern das so schön vorbereitet: Was verschweigt man, wenn man etwas sagt? Was sagt man, um etwas verschweigen zu können? Wie kann man von Gesagtem auf Verschwiegenes schließen?“
(S. 68)
„Und ich wüsste nichts und niemanden, dem ich lieber beichtete als deiner Brandung. Oh, was für ein Mantel für alles du bist, Brandung.“
(S. 90)
Aber mit dieser Fran Webb treibt es Helmut Halm in diesem Punkt auf die Spitze. Er sieht sie und sich als jene Shapkespeare’sche Benedikt und Beatrice, die ihre Liebe so wortreich verleumdeten, und erwartet oder hofft, dass Fran sich als diese Beatrice zu erkennen gibt. Aber sie ist dann doch nur die „schöne Dumme“, oder?
Das Ganze endet tragisch, nein eigentlich tragikomisch. Fran stirbt in der Brandung des Pazifiks, während Halm – das Semester ist beendet und er nach Stuttgart heimgekehrt – auf einen Brief von ihr wartet (er ist ein letztes Mal seiner Phantasie erlegen). Es kommt ein Brief – aber von einer Kollegin der Uni in Kalifornien, die ihm den Tod mitteilt. Und selbst aus der Ferne ist er nicht ganz unschuldig an ihrem Tod. Überhaupt sterben in diesem Buch viele Menschen, auch der Studienfreund, der ihn zu dieser Reise nach Kalifornien eingeladen hatte. Und die Brandung des Pazifiks, in der Helmut Halm selbst fast umgekommen wäre, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesem Buch (wenn ich richtig gezählt habe, so kommt das Wort Brandung als Einzelwort oder in Kombinationen mindestens 31 Mal vor, außerdem zweimal auf Englisch = surf).
Als der Roman 1985 auf den Markt kam, überschlugen sich einmal wieder die Kritiken (“So brillant, so witzig, so genau …” – “Diese sprachliche Üppigkeit, diese manchmal prahlerische, gefallsüchtige Prächtigkeit, dieses Rankenwerk aus Sätzen, Einfällen, Anekdoten, Haupt- und Nebengeschichten …” – “… auf der Höhe all seiner Erzählkunst …“ – „Da gibt es Kabinettstücke tödlicher Ironie.“ – „Ein mitreißender Lebensroman …“). Martin Walser ist ohne Zweifel ein Meister der deutschen Sprache, auch wenn er dazu neigt, den Leser mit manchen Wort- und Satzungetümen zu erschlagen (Halm selbst erkennt, dass er oft geschwollen daherredet („Halm wollte, wenn ihm danach war, möglichst geschwollen daherreden.“ S. 28)). Aber wie er diese Sehnsucht eines 55-Jährigen nach Jugend beschreibt, ist schon außergewöhnlich und einmalig. Helmut Halm geht es nicht um Sex mit einer jungen Frau. Er erkennt immer wieder, wie lächerlich es wäre (für ihn, für die junge Fran, für seine Umwelt). Vielleicht fürchte er diese Lächerlichkeit mehr noch. Und doch kommt er von dieser jungen Frau so schnell nicht los – wenn auch nur in seiner Phantasie. Am Ende ist es wieder wie in „Ein fliehendes Pferd“. Er liegt mit seiner Frau im Bett und beginnt zu erzählen: Es ist der 2. Tag der großen Ferien, als sein früherer Studienfreund anruft. „Nichts schlimmer als so eine von Unausgesprochenheiten zermürbte Ehe“ (S. 258) warf ihm der Studienfreund zwischendurch einmal vor. Am Ende spricht er das Unausgesprochene aber doch aus – und findet so zu sich selbst. Damit akzeptiert er auch sein Alter. Und seine Ehe. Und findet auch zu seiner Frau zurück.