Fortsetzung von: (10): Warum denn auf die Spitze gehen?
Mancher Witz erhält seine Wirkung durch eine Wendung zum Schlimmen am Schluss. In seiner Kolumne „Der Witzableiter“, die 1984 im ZEITmagazin erschien, beschreibt Eike Christian Hirsch die Mechanismen solcher Witze – und erklärt, warum wir so schnell darauf reagieren.
Manche Geschichten sind offenbar erst zuende, wenn sie die schlimmste Wende genommen haben. Friseur zum Lehrling: „Warum hast du so dreckige Hände?“ „Es war heute noch keiner zum Haarewaschen da.“ Die Technik ist beneidenswert schlicht. Man nehme eine peinliche Situation und überbiete sie noch ein wenig. An Wirkung wird es nicht fehlen. Familie Haas hat an eine Studentin vermietet. „Mutti“, ruft Tobias, „bei der Studentin liegt ein fremder Mann im Bett!“ Die Mutter legt die Zeitung weg, als Tobias auch schon Entwarnung gibt: „Gar nicht wahr, ist ja nur Vati!“
Nehmen wir an, der Bub war unschuldig. Man kann das Ganze natürlich auch sauber inszenieren, etwa so: „Ein Hochzeitsgast macht sich an den Bräutigam heran. „Entschuldigen Sie, haben Sie Aktaufnahmen von Ihrer Frau?“ Der Bräutigam stammelt: „Nein, natürlich nicht!“ Darauf der Gast hilfsbreit: „Wollen Sie welche?“
Hochzeiten sind gewiß ein heißes Pflaster für solche Begebenheiten. Gleich noch ein Beispiel: In der Hochzeitsnacht sagt sie leise: „Ich muß dir etwas beichten, ich war schon mal mit einem Mann zusammen …“ Da gesteht er: „Ich auch.“ Die Technik ist so einfach, daß wir zum ersten Mal das Gefühl haben können, ein Rezept in der Hand zu haben, um selbst Witze zu erfinden. Wenn die Sache so anfängt: Der Schauspieler steht betrunken auf der Bühne und weiß seinen Text nicht mehr. Verzweifelt versucht ihm die Souffleuse das nötige Stichwort zu geben … Wie könnte das weitergehen? Mit einer kleinen Verschlimmerung etwa so: Da lallt der Mime: „K-keine Ein-zzelheiten! Wie heißt das Stück?“
Die Technik ist allerdings noch etwas komplizierter. Die schlimme Wendung zum Schluß wird gewöhnlich eingeleitet von einer scheinbaren Besserung. So sagt der Schauspieler zuerst recht sicher: „Keine Einzelheiten!“ als sei er noch Herr der Lage. Der Sohn der Vermieter beruhigt seine Mutter mit „Gar nicht wahr …“ und der Lehrling brachte die Verschlimmerung wie eine Entschuldigung vor. Erst durch dieses Hakenschlagen wird die Erzählung komisch. In der Konditorei beißt der Gast in den Christstollen. Vergebens. „Der ist ja hart wie Marmor!“ ruft er. „Ich tausche Ihnen den Stollen gern in Apfelkuchen um“, sagt der Ober. „Aber ich habe den Stollen doch schon angebissen.“ „Das macht nichts, wir haben auch angebissenen Apfelkuchen da.“
Vor einer Woche haben wir uns den Verstehensprozeß des Witzes angesehen und festgestellt, da findet eine Rückkopplung statt. Dem scheint die Beobachtung zu widersprechen, daß wir einen Witz immer sehr schnell verstehen. So plötzlich wie die folgende Entgegnung kommt auch unser Verstehen: „Hast du etwas zum Chef gesagt, daß ich ein Idiot bin?“ „Nein, er wusste es bereits.“ Diese Antwort, die doch keineswegs trivial gedacht ist, verstehen wir auf Anhieb. Wie kommt das?
Ich glaube, wir reagieren reflexhaft, wie in wirklicher Gefahr. Und es ist auch eine Gefahr, wenn man sich, vom Witz verwirrt, nicht mehr orientieren kann. Der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick sagt, eine solche Konfusion erschrecke uns. „Im Bruchteil einer Sekunde und ohne zu überlegen, können wir komplizierte. lebensrettende Entscheidungen treffen.“ Auch wenn es im Witz nicht um lebensbedrohende Dinge geht – eine unerwartete Konfusion schreckt uns auch hier und läßt uns augenblicklich reagieren. Danach erst setzt die Rückkopplung ein wie eine Rückversicherung.
Hein fährt seit Monaten zur See. Immer allein unter Männern, nur die Arbeit und das Wasser. Kurz vor der Heimfahrt telefoniert er mit seiner Braut: „Wenn wir anlegen, dann stehst du am besten mit einer Matratze auf dem Rücken am Kai“, sagt Hein. „Okay“, flüstert sie, „aber mach ja, daß du als erster von Bord kommst.“
Daß wir einen Witz blitzartig schnell verstehen, ist wohl eine absolute Notwendigkeit. Der Mensch ist darauf angewiesen, „eine Ordnung im Lauf der Dinge zu sehen“ (Watzlawick). Und umgekehrt muß ein Witz wohl so schnell wirken, daß wir gar nicht erst Gelegenheit haben, uns gegen ihn zu wehren. Der Witz ist die Textsorte mit der schnellsten Kommunikation überhaupt. Das zeichnet ihn aus. Sie sagt zu ihrem Mann: „Es muß für eine Frau schrecklich sein, wenn sie merkt, daß sie alt wird.“ Antwortet er: „Viel schrecklicher ist es, wenn sie es nicht merkt.“ Wenigstens im Witz merkt man immer alles gleich.
Zum Schluß trägt die Überbietung uns ganz aus dieser Wirklichkeit heraus – als Vorgeschmack auf die Witze, die ich ihnen das nächste Mal ausführlich vorstellen will. Zwei Mäuse haben einen Elefanten gefangen und wollen ihn verspeisen. Sagt die eine: „Eigentlich ist ein Elefant für uns zu wenig, paß auf ihn auf, ich fange noch einen zweiten.“ Die Maus zieht also los und kommt bald mit neuer Beute zurück, findet die andere Maus aber allein und hört sie schluchzen: „Ich kann nichts dafür, der Elefant ist mir ausgerissen.“ „Lüg doch nicht“, faucht die erste Maus, „du kaust ja noch!“
Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 38/1984
[Fortsetzung folgt]