Fortsetzung von: (20): Die Angst vor der Lust
In der Kolumne „Der Witzableiter“ von Eike Christian Hirsch, die 1984 im ZEITmagazin erschien, geht es heute um makabre Witze – und damit um die Lust an der Angst. Herr Hirsch kannte da noch keine Schlitzerfilme, wie sie heute im Programm stehen. Was hätte er dazu wohl geäußert?
Das Buch zur Kolumne: Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter: Oder Schule des Lachens
Schwere Panne bei den Außenaufnahmen zu einem Western. Aus Versehen wurde ein Revolver verwendet, der scharf geladen war. Der Hauptdarsteller sinkt tödlich getroffen zu Boden. Da springt der Regisseur auf und schimpft: „Stopp, stopp! Charly, laß dich doch nicht einfach umkippen wie ein Sack Hafer.“
Witze, das weiß man, treiben mit Entsetzen Scherz. Sie machen uns Angst und Lust zugleich. Das letzte Mal hatten wir ja nur die harmlose Angst vor Strafe am Wickel. Bei den grausamen und gruseligen Witzen aber steht auch unser eigener Tod zur Debatte. Fragt sich nur, warum wir ihn zum Thema machen.
Zwei Patienten beschweren sich bei der Nachtschwester, daß ihr dritter Mitpatient so entsetzlich röchelt. Sie machen den Vorschlag, den Schwerkranken ins Sterbezimmer zu verlegen. Da lächelt die Nachtschwester etwas verwirrt und sagt: „Aber, meine Herren, das ist doch das Sterbezimmer.“
Wie der Witz das Kunststück fertig bringt, ein angstbesetztes Thema zum Lustspiel zu machen, ist nach wie vor ein Rätsel. Vielleicht liegt es an der Freude, die wir empfinden, wenn wir bemerken, daß der Schreck doch harmlos war, die Angst nachläßt. „Tut mir leid“, sagt der Chirurg, „aber ich muß Ihnen beide Beine abnehmen.“ „Herr Doktor, wenn Sie das tun, setze ich nie wieder einen Fuß über Ihre Schwelle!“
Das ist es wohl: Scherze erleichtern uns, die Befangenheit abzuschütteln. Man sagt von jungen Medizinstudenten, sie machten sich im Seziersaal über die Leichen lustig, um das Gruseln zu vertreiben. Solch ein Lachen ist wie das Pfeifen im dunklen Wald. Aus dem gleichen Grunde lachen Kinder manchmal über eine Behinderung, die sie erschreckt. Der holländischer Soziologe Anton Zijderveld kommt in seinem Buch über den Humor auch auf den makabren Witz zu sprechen und erzählt diesen:
Ein Mann, der gerade Vater geworden ist, hört vom Arzt, daß nicht alles nach Wunsch verlaufen sei. Der Vater will sofort sein Kind sehen und wird in eine Sonderabteilung gebracht. Dort haben die Neugeborenen alle schwere Behinderungen, aber keins davon ist sein Kind. Auch nicht das Baby ohne Gliedmaßen. Das nächste Bett beherbergt nur einen Kopf. Der Doktor teilt mit, auch das sei nicht sein Kind, und führt ihn zum letzten Bettchen. „Hier ist es“, sagt er. Der Vater sieht nur ein Auge, das ihn anstarrt. Er gibt sich einen Ruck, beugt sich über das Bettchen, winkt mit den Armen und sagt: „Tralalalala!“ „Das hat keinen Sinn“, sagt der Arzt, „Ihr Kind ist blind.“
Dieser Witz verletze „einige fundamentale Tabus“, meint der Soziologe Zijderveld; aber er entschuldigt Leute, die so etwas erzählen, mit den Worten: „Wenn wir wirklich grausam wären, würden uns Gruselwitze wahrscheinlich kaum ansprechen.“ Man könnte hinzufügen: Gerade wer Angst vor Grausamkeiten hat, will sich mit solchen Geschichten an die Angst gewöhnen. Etwa mit diesem Beispiel: „Mutti, wann gibt’s mal wieder Zunge zu Mittag?“ „Hng, hngg, hngg!“
Daß man seine Angst genießen kann, ist uns allen aus Krimis und Gruselfilmen geläufig. Der „Angstlust“, etwa bei Achterbahnfahrten, hat der Psychoanalytiker Michael Balint sogar eine eigene Untersuchung gewidmet. Solche Angstpartien gäben Gelegenheit, ein Trauma „in erträglichem Ausmaß zu wiederholen“, schreibt Balint. Eben, „erträglich“ muß die Dosierung der Angst sein, das ist die Quelle der Lust.
Ein Passagier zu seinem Nachbarn: „Haben Sie das gelesen? Die Zeitung berichtet von einem weiteren Flugzeugunglück.“ „Ja, ich habe es gelesen. Wir stehen auf der Liste der Toten.“
In einer Diskussion über die „Lust an der Angst“ meinte der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter, es sei eben „entlastend“, wenn man eine Lage aktiv herbeiführe, von der man, erlebt man sie passiv, überwältigt würde. Darum seien Schauergeschichten so beliebt.
In der gleichen Debatte erinnerte sich Konrad Lorenz sogar an reale Gefahren: „Meine Freude am Tauchen in Florida beruht zum Teil auf meiner entsetzlichen Angst vor Barracudas. Es ist wunderschön, mit ihnen zu spielen. Wann werden sie böse, wie weit darf ich hin?“ Wir anderen Sterblichen begnügen uns damit, die Existenzangst im Witz anklingen zu lassen. Auch wir wahren dabei die Fluchtdistanz.
Im Krankenhaus sagt der Elektriker zum Patienten, der in der Eisernen Lunge liegt: „Atmen Sie bitte tief durch, ich muß mal für zehn Minuten den Strom abstellen.“
Ich glaube, dieser kleine Schrecken, diese Existenzangst ist lustvoll, weil wir nur betroffen, aber nicht wirklich getroffen sind. Wir spüren das gleiche wohlige Kribbeln, das angenehme Grauen wie im Fernsehsessel. Eine Art Verhaltenstherapie, eine dosierte Impfung. Mehr nicht.
Der Schwerverbrecher Joe aus dem Zentralgefängnis von Illinois darf mit seinem Anwalt telefonieren. „Hören Sie, Boß, hier geht was Komisches vor“, sagt er, „heute früh haben sie mir die Hosenbeine an der Seite aufgeschnitten und die Rockärmel an den Handgelenken auch. Was hat das zu bedeuten?“ „Danke, ich verstehe schon, mein Guter“, sagt der Anwalt. „Da kann ich Ihnen nur den Rat geben: Wenn man Ihnen morgen einen Stuhl anbietet, bleiben Sie stehen!“
Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 48/1984
[Fortsetzung folgt]
Ein Gedanke zu „Der Witzableiter (21): Die Lust an der Angst“