Martin Walser: Der Sturz

Mit dem Roman Der Sturz endet die so genannte Anselm Kristlein-Trilogie von Martin Walser, die mit Halbzeit begann und mit Das Einhorn fortgesetzt wurde.

Aus dem Umschlagtext:

Im Zentrum des 1973 erschienenen Romans steht jener Anselm Kristlein, der in „Halbzeit“ als Vertreter und Werbefachmann aggressiv und übermütig im Wirtschaftsleben Erfolge suchte; und der sich in „Das Einhorn“ als Schriftsteller vergeblich mühte, etwas aus dem gelebten Leben, z.B. Liebe, in die Erinnerung zu retten. Dieser Anselm Kristlein erreicht in „Der Sturz“ sein letztes Stadium; seine Erlebniswelten, seine Reibungsflächen, seine Sturzbahnen sind die gleichen: Ökonomie und Liebe.

Konsequent und unerbittlich zieht das Roman „Der Sturz“ die Summe von Kristleins Leben in unserer Zeit. In ihm endet die Biografie eines Mannes, der an der vorgegebenen Ordnung der Gesellschaft scheitert.

„Der Sturz“ beschreibt die bundesrepublikanischen Verhältnisse Anfang der siebziger Jahre mit einem leidenschaftlichen Interesse, also realistisch, das in der zeitgenössischen Prosa seinesgleichen sucht.

„Wenn man den ersten Satz des Buches gelesen hat, ist man gezwungen, weiterzulesen bis zum letzten Satz. Das ist Sprachkunst, die zum Lesen zwingt.“ Aurel Schmidt

Wer etwas intensiver in diesem, meinem Blog liest, wird es wissen, dass Martin Walser einer meiner Lieblingsautoren ist. Diesen dritten Band der Anselm Kristlein-Trilogie (suhrkamp taschenbuch 684 – erste Auflage 1981) habe ich in diesen Tagen nun bereits zum vierten Mal gelesen (nach 1987, 1995 und 2003 jetzt 2011 … also alle acht Jahre, wenn das etwas zu bedeuten hat?!) und ich kann mich immer noch für dieses Buch begeistern.

„Ich glaube, es war im November 1972, als sich Anselm Kristlein das letzte Mal bei mir meldete …“ – so beginnt im Nachwort der Nachruf auf einen Verstummten, nämlich auf Anselm Kristlein. „… Geboren 1920. …“ wurde dieser Anselm Kristlein, also sieben Jahre vor Martin Walser. „Er war allein. Alles war Feindesland. … Er muß anziehend gewirkt haben auf in Schwierigkeiten geratene Abenteurer. Also auf seinesgleichen.“ – und „Mein Gott, wie wohlgesonnen zog er immer aus, und wie zugerichtet kam er jedes Mal zurück!“ (aus: Nachwort – Nachruf auf einen Verstummten – und ebenso hier:) „… Von 1958 bis 1960, 1964 und 1965 und dann noch von 1970 bis 1972 war er rund um die Uhr bei mir. …“, also bei Martin Walser, der in dieser Zeit an den drei Teilen der Trilogie schrieb.

Ohne Zweifel hat dieser Anselm Kristlein viel mit Martin Walser gemeinsam. Er ist in Vielem das Alter Ego Walsers. Nicht umsonst hat Walser diesem Anselm Kristlein drei Romanbände gewidmet, die allerdings von Band zu Band in der Seitenzahl merklich schrumpften. Der Erzähler Kristlein (aka Walser) zeigt sich deutlich diszipliniert, denn ihm sind die verbalen Exzesse durch Lebensüberdruss nach und nach abhanden gekommen. Das hindert Kristlein-Walser aber nicht daran, die Phantasie weiterhin ausschweifen zu lassen. Hat mich Walsers „Das Einhorn“ schon beeindruckt, so zähle ich „Der Sturz“ zu meinen absoluten Lieblingen, wenn mir auch das Ende (siehe unten) nicht so ganz gefällt. Das hat Martin Walser wohl selbst gemerkt und hat dem Roman ein Nachwort verfasst (siehe oben).

Lesenswert ist ohne Zweifel hierzu eine Rezension von Peter Wapnewski bei spiegel.de

Und wie „Das Einhorn“ so wurde auch dieser Roman verfilmt, wenn Walser diesmal auch nicht am Drehbuch mitgewirkt hatte. Regie des 1979 entstandenen Films führte Alf Brustellin, die Hauptrollen spielten Franz Buchrieser als Anselm Kristlein, Hannelore Elsner als seine Frau Alissa und Wolfgang Kieling als Edmund Gabriel, Anselms ‚besten’ Freund. Das Drehbuch schrieben Alf Brustellin und Bernhard Sinkel. Musik: Klaus Doldinger. Leider habe ich bisher nicht ermitteln können, ob der Film, in welcher Form auch immer, erhältlich ist. Vielleicht kann einer von Euch mir hier weiterhelfen. Mich würde der Film wirklich brennend interessieren.

Nachtrag zur Verfilmung: Inzwischen sind bei YouTube vier Filmausschnitte eingestellt worden (weitere Informationen zu diesem Film auf der Website des Regisseurs Bernhard Sinkel, der wie erwähnt auch am Drehbuch beteiligt war – ich recherchiere weiter nach einer Filmkopie):


Der Sturz – nach dem Roman von Martin Walser – Regie: Alf Brustellin

Hier noch einige Sätze aus den letzten Seiten des Romans. Das Verstummen des Anselm Kristlein kommt nicht von ungefähr. Auf dem Weg in den Süden mit seinem alten Mercedes samt Anhänger und darauf ein Segelschiff, überquert er mit seiner Frau Alissa die Alpen. Von Splügen in der Schweiz aus wählt er eine alte Passstraße, die ihn bei Schneetreiben ins Verderben und zum Verstummen führt:

„Wir standen schon bergauf, Richtung Splügen. … Es ist die alte Paßstrasse. Sie führt durch kein Tunell. Sie führt oben drüber. ….Ich weiß, daß wir bei diesem Wetter mit Sommerreifen und einem 7 Meter langen Segelschiff nicht ohne weiteres über den 2117 Meter hohen und nicht gut gebauten Paß kommen werden. … Drunten an der Abzweigung wird der Paß längst als geschlossen angezeigt. … Selbst wenn es uns so gelingen sollte, ins ennetbirgische Misox zu kommen, kann ich es nicht ändern. Dann sind wir eben entkommen und rutschen irgendwie ermattet ins Italienische, in die Kastanienwälder Chiavennas hinunter. … Der Trailer steht schon fast senkrecht zu uns. Jetzt knackt schon Blech. Etwas splittert. Wir kippen. Wir sind nicht mehr auf der Straße. Es geht hangabwärts mit uns.“

(S. 348 –352)


Größere Kartenansicht
Splügen – Chiavenna über Splügenpass
(Fahrtroute von Anselm Kristlein)

Der Roman besteht aus drei Kapiteln mit jeweils 19 Unterkapitel. Die Kapitel sind benannt. Die Unterkapitel selbst tragen keine Überschriften, so habe ich diese ihrem Inhalt gemäß wie folgt beschriftet:

I. Geldverdienen

1 Bewegungslos im Bett
2 Schwimmen, Pferd und Schmetterlinge
3 Irmgard, die Cousine … zuvor: Hotel und 72.000 DM „Verlust“
4 Geldverdienen – Absage beim BuSoM (Bund sozialdemokratischer Millionäre) … und wieder auf der Wiese ohnmächtig …
5 Waffenklang der Währungen oder Der Dollarstrom
6 Armenische Arbeit …
7 Leiter Blomichs Betriebserholungsheim am Bodensee (in Reutenen)
8 der Gegentyp
9 Genovev im Grasbett
10 Fortsetzung „der Reise“
11 Fabrikarbeit – Angis Brust – Genovev-Alma „wiedergefunden“
12 Traum: Blomichs Ansprache an Anselms Erschöpfung
13 „Leben“ mit der sechsfingrigen Finchen …
14 Blomichs Bote – der unangreifbare Heinrich Müller …
15 Birnmostkommune (Agi & Co.) und der “neue” Anzug
16 Loch ausgraben – Dr. Zerrls Rassenforschungen und Frau Finchen (2) – Hajar-Kommune und Festnahme
17 Anklage wegen Doppelmord …
18 Tracht Prügel dem Allgemeinen zuliebe auf dem Weg zu Alissa
19 Bewegungslos im Bett (Schluß des Kreislaufs, s. I. 1)

II. Geldverdienen. Phantasie der Angestellten

1 Alissa pachtet das Gästehaus – statt Angestelltentum u.a.
2 Königs (Sozialabt.) Ansichten zum Kaiser (Liegenschaften) – vor ihrem gemeinsamen Tode …
3 Loch schaufeln
4 Gespräche über Blomich – 2 Schreibmaschinengeräusche vom Band (Edmunds Buch …)
5 Anselm und Hanni im Schäferkarren, zuvor die Apothekenhelferin – Alissa mit Schock im Krankenhaus …
6 Vorweihnacht: Alissa im Krankenhaus; abendliche Gespräche, u.a. mit Fritz Hitz, dem dichterischen Anarchisten …
7 Silvester(vorbereitungen)
8 Im neuen Jahr schlechte Nachrichten und Michel Enzingers Briefe (bis zu seinem Tod in Anselms Grube)
9 1. Schub Weibliche – 2. Schub Männliche – Verkauf der Blomich-Gruppe an die Amis und damit „Schluss“
10 Der Gegentyp (2)
11 Familienausflug mit Semmelautomaten und Unfall
12 Zukunftspläne
13 Anselms Vorstellungen …
14 Edmunds „Selbstmord“
15 Edmunds Notizen (Spinnensexualität)
16 Tod (Blomich u.a.) im Atombunker …
17 Probleme mit Lissa und ein weiterer Freitod …
18 Vor dem Auszug
19 Alissas Innenleben

III. Geldverdienen. Phantasie der Angestellten. Mit dem Segelschiff über die Alpen

1 Unterbringung der Kinder: Lissa und die Saucen
2 Unterbringung der Kinder: Guido und die Beerengewinnung des Onkel Josef
3 Unterbringung der Kinder: Drea und die Friedhofgärtnerei
4 Unterbringung der Kinder: Philipp und die Reinlichkeit
5 Kinder aussetzen oder ab mit ihnen ins Akademische …
6 Fortschreibung des Gegentyps
7 Die Cousine im Fetzenkleidchen
8 Aufbruch (mit dem Segelschiff …)
9 Erinnern an die Kinder – Jobs im Hotel …
10 Empfangschef und Anselm, der Kofferträger
11 Unerkannt …
12 Hoteldiener als Hochstapler – vom unaufhaltsamen Fall und der Unbestimmtheit des Tuns …
13 Über Stoppeln springen und ein weiterer Sturz
14 Dieses Hin und Herr … und Alissas Sieg
15 Im Schlafsack einkehren unter dem milchigen Gletscher …
16 Das wird Anselm nie vergessen …
17 Vor ’m Nadelöhr
18 Über die Alpen …
19 Papierschneeweiß liegend zwischen Autoteilen, Weg- und Satzzeichen

Nachwort – Nachruf auf einen Verstummten

„Walser hat im „Sturz“ das Höllenhafte unserer Existenz zum Furchtbaren hin zu gespitzt … Seine Gegen-Utopie trägt die realen Züge des Spätkapitalismus.“
Peter Laemmle

„… das konsequenteste Denkspiel der deutschen Nachkriegsliteratur.“
ARD-Fernsehen

Und nach etwas: Martin Walser wurde vor wenigen Tagen (am 24. März) 84 Jahre alt. Das hindert ihn aber nicht daran, weiterhin produktiv zu sein. Am 15. Juli erscheint im Rowohlt Verlag mit Muttersohn ein weiteres umfassendes Werk aus seiner Feder. Ich bin sehr gespannt. „Thema sei das Verhältnis von Glauben und Wissen. Im Mittelpunkt stehe ein dreißigjähriger Mann, dem seine Mutter beigebracht habe, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig war. Der Roman spiele in der Landschaft zwischen Donau und Bodensee mit ihren vielen Klosterbauten, wo Glaubensleistungen erbracht worden sind wie sonst kaum wo in Europa.“ (Quelle: St. Galler Tagblatt)

noch ein Nachtrag: Die nach wie vor sehenswerten Kinofilme von Bernhard Sinkel (Co-Autor am Drehbuch zum Film „Der Sturz“) sind jetzt in einem 6-DVD-Schuber erhältlich: Lina Braake, Berlinger, Der Mädchenkrieg, Taugenichts, Kaltgestellt, Der Kinoerzähler

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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