„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, dass eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Esszimmer befand, ihr Herz suchte. Als der Knall ertönte, etwa fünf Minuten, nachdem das Mädchen den Tisch verlassen hatte, stand der Vater nicht sofort auf, sondern verharrte ein paar Sekunden lang wie gelähmt mit vollem Mund und wagte nicht zu kauen noch zu schlucken und noch weniger, den Bissen auf den Teller zurückzuspucken; und als er sich endlich erhob und zum Badezimmer lief, sahen jene, die ihm folgten, wie er, als er den blutüberströmten Körper seiner Tochter entdeckte und die Hände an den Kopf hob, den Bissen Fleisch im Mund hin und her bewegte, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte.“
(S. 9 – Klett-Cotta Deutscher Taschenbuch Verlag 12507 – Juni 1998)
„Eine junge Frau erhebt sich vom Tisch, geht ins Bad, knöpft ihre Bluse auf und erschießt sich. Diese dunkle Szene, von der der Ich-Erzähler nur gehört hat, läßt ihm keine Ruhe. Die junge Frau war seine Tante, die Schwester seiner Mutter, die Frau, die sein Vater vor seiner Mutter geheiratet hatte. Vierzig Jahre später ist der Erzähler selbst verheiratet. Dunkle Vorahnungen und nebensächliche Ereignisse beunruhigen ihn. Der Ich-Erzähler ist Dolmetscher und leidet an eine déformation professionelle, die ihn dazu zwingt, jedes Detail zu registrieren und zu interpretieren: die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge im Leben zu zweit und auch jene Details, die ihm nach und nach mehr über die Ereignisse vor seiner Geburt verraten, als ihm lieb ist …“ (Aus dem Klappentext)
Javier Marías Franco (* 20. September 1951 in Madrid) ist ein spanischer Schriftsteller, Kolumnist und Übersetzer. Sein Roman Mein Herz so weiß (Original: Corazón tan blanco, Barcelona 1992) erschien in Deutschland 1996 in der J. G. Cotta_sche Buchhandlung, Stuttgart, in einer Übersetzung von Elke Wehr.
Javier Marías gilt als einer der bedeutendesten Schriftsteller des heutigen Spaniens. Sein Werk wurde in dreiundzwanzig Sprachen übersetzt (Stand: 1998). Der Titel des Romans ist ein Zitat aus Shakespeares Macbeth (2. Akt, 2. Szene):
„My hands are of your colour; but I shame
To wear a heart so white.” (Shakespeare)
Oder:
“Meine Hände
Sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme
Mich, daß mein Herz so weiß ist.“
In meinem Beitrag „I have done the deed” habe ich mich bereits mit diesem Roman einwenig beschäftigt. Es geht darin u.a. um eine Tat, ein Verbrechen, das „nicht existiert, [… wenn es] nicht ausgesprochen wird.“ (S. 53) „Vielleicht kommt ein Augenblick, in dem die Dinge erzählt werden können, sie selbst, vielleicht um zur Ruhe zu kommen oder um endlich zu einer Fiktion zu werden.“ (S. 283) Hinter dem Selbstmord der jungen Frau vor 40 Jahren, der Tante des Ich-Erzählers, verbirgt sich ein Drama Shakespeare’schen Ausmaßes. „Es ist die Glut Macbethscher Einflüsterungen, sprachlicher Verderbtheit, die reales Verderben bewirkt.“ (Hellmuth Karasek im „Spiegel“). Lady Macbeth stiftete ihren Mann zum Mord an König Duncan an und begeht vom Gewissen geplagt Selbstmord. Der Selbstmord im Roman ist ähnlich gelagert. Auch die Tante hatte einen Satz gesprochen: „Es war ein Satz des Verzichts, nicht der Anstiftung, es war der Satz von jemandem, der sich zurückzieht und für besiegt erklärt.“ (S. 321) Aber genau dieser Satz führte zum Verbrechen. Und als der Tante bewusst wurde, was sie damals so beiläufig gesagt hatte, wurde sie sich ihrer Schuld bewusst: “Meine Hände sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme mich, daß mein Herz so weiß ist.“ Und: „Übersetzbare, herrenlose Worte, […] die zu […] Handlungen anstiften, […] Aber wer sie sagt, erträgt sich nicht, wenn er sie vollzogen sieht.“ (S. 321)
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Calle de Alcalá, 15, Madrid (im Roman: Calle Alcalá 15, hier in einem alten Casino fand die Hochzeitsfeier von Juan, dem Ich-Erzähler, und Luisa statt, siehe S. 100 – der Name der Straße nach einer alten Universität in Madrid: Alcalá)
Der Roman ist ein Buch, von dem man hin- und hergerissen wird. Einige Passagen im ersten Teil sind sicherlich etwas ermüdend und schleppend (Marías sinnt schwermütig-pessimistisch über die Ehe nach). Erst am Schluss des Romans ergeben sie Sinn. Aber dann kommen Passagen, die den Leser in ihren Bann ziehen, es gibt kaum ein Entkommen. Selbst scheinbar unbedeutenden Dinge im Leben des Ich-Erzählers verursachen durch die Erzählweise eine Spannung, die sich erst zuletzt ähnlich wie beim Protagonisten, dem ein Unbehagen plagt, lösen. Marías erzeugt diese Spannung, dieses Unbehagen auch beim Leser, durch kleine Sätze, deren Bedeutung erst spät geklärt wird: „… sie denken nicht daran, daß sich bisweilen alles ändert, nachdem man weiß, sogar das Fleisch oder die Haut, die sich auftun, oder etwas wird aufgeschlitzt.“ (S. 169)
Unser Literaturpapst reagierte übrigens beim Erscheinen des Buchs enthusiastisch: „Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt … Ich habe seit vielen Jahren kein Buch gelesen, das mich so tief getroffen hat.“ (Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“) Ich kann es ihm nicht ganz verdenken. Was mich allerdings wundert ist, dass der Roman Mein Herz so weiß seit längerer Zeit nicht mehr neu in Deutschland aufgelegt wurde. Überhaupt erscheint mir die Literatur von Javier Marías in Deutschland etwas stiefmütterlich behandelt zu sein. Sollte es doch etwas zu ‚schwer’ sein fürs deutsche Gemüt?
Zuletzt hier noch eine sicherlich hilfreiche Rezension mit weiteren Textpassagen zu Mein Herz so weiß