1982 schrieb Max Frisch im Alter von 71 Jahren in seinen Aufzeichnungen, die vor einem Jahr als Entwürfe zu einem dritten Tagebuch erschienen sind:
„Ich werde ein Greis.
Man wird ein Greis, wenn man sich zu nichts mehr verpflichtet fühlt, wenn man nicht meint, irgendjemand in der Welt irgend etwas zu schulden, und dazu braucht einer noch nicht am Stock zu gehe oder im Rollstuhl zu sitzen; es gibt auch wanderfähige Greise. Vorderhand erschreckt mich noch meine zunehmende Nachlässigkeit gegenüber Freunden, meine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Ereignissen, meine zunehmende Freiheit …“
(Entwürfe … – Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt – S. 85 – 3. Auflage 2010, Suhrkamp Verlag Berlin)
Mit dem Altern hatte sich Max Frisch bereits in seiner 1979 erschienenen Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän eingehend beschäftigt. Es ist nun nicht so, dass ich mich als Greis fühle. Sicherlich habe ich meine Jährchen auf dem Buckel (so langsam gehe ich auf die sechzig zu), denke auch schon über meinen Renteneintritt nach, aber noch bin ich gut auf den Beinen und – ich hoffe – auch gut im Kopf.
Wie Herr Geiser, dem Protagonisten aus der Holozän-Erzählung, so litt Max Frisch unter einer zunehmenden Merkschwäche, dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Ich selbst prüfe mich nun nicht ständig auf Symptome für einsetzende Senilität. Wenn ich vieles vergesse, dann schon fast aus Absicht, weil ich mich nicht immer mit unnötigem Wissensballast belasten will. Vielleicht ist das schon die von Frisch oben beschriebene ‚Nachlässigkeit’ und ‚Gleichgültigkeit’, obwohl mich ‚öffentliche Ereignisse’ durchaus noch interessieren. Aber hier siebe ich bereits, muss nicht alles wissen. Die Ereignisse müssen mich schon interessieren, also in Bezug zu mir oder meiner Familie stehen.
Es ist sicherlich nicht Senilität, eher so etwas wie Altersweisheit, wenn ich mehr und mehr beginne, mich nicht mehr zu allem ‚verpflichtet zu fühlen’. Auf der Arbeit lasse ich so gern Jüngere ’ran (ich habe überlegt, ob ich mich auf dem Weg befinde, eine ‚innere Kündigung’ auszusprechen, was meinen Arbeitsplatz betrifft – so ganz ist das nicht von der Hand zu weisen). Sie können es schon besser als ich und haben noch Ambitionen. Also?! Lasse ich noch einmal Max Frisch sprechen:
„Wonach drängt es mich?
Ich bin schon noch tätig –
Wäre ich ein Bauer, würde man mir kaum noch die Sense in die Hand geben, die Sichel vielleicht; es würde kaum erwartet, dass ich auf die Leiter steige, um Äpfel zu pflücken; ob man mich auf den Traktor lassen würde, frage ich mich; man fände es richtig, dass ich die Hühner füttere, die Enten usw.
Was erwartet man von einem Schriftsteller?
Dass er Interviews gibt.“
(S. 27)