Martin Walser: Muttersohn

Es ist ein seltsamer Roman, dieser Muttersohn von Martin Walser, und die Kritiken sind entsprechend harsch, wenn auch dem Alter des Autors Rechnung getragen, d.h. Nachsicht geübt wird. Martin Walser probt schon mal das Altersirresein, heißt es da, oder: „In ‚Muttersohn’ genügt der Autor sich selbst, ein landläufiges Gelingen hatte er gar nicht im Sinn.“ (süddeutsche.de)

„Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen.

Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei.

Mir diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten, einen Motorradlehrer, der sich allen Therapieversuchen stumm widersetzt. Dieser Patient heißt: Ewald Kainz.

Percy ist inzwischen berühmt, weil er keiner Weltvernunft zuliebe verzichtet auf die von der Mutter in ihn eingegangene Botschaft vom Kind ohne leiblichen Vater. Berühmt auch durch seine prinzipiell unvorbereiteten Reden. Das ist sein Thema: Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin.“

„In ‚Muttersohn’ fügen sich Bekenntnisse und Handlungen zu einem Roman des Lebens: empfindungsreich, ironisch und schwerelos zugleich.“

(beides aus dem Klappentext zur 1. Auflage Juli 2011 – Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg)

Im Mittelpunkt stehen die drei Herren Percy Slugen, sein Mentor, der Professor Augustin Feinlein, und Ewald Kainz, verstummter Patient des Psychiatrisches Landeskrankenhauses in Scherblingen, ein fiktiver Ort – als Vorbild könnte das Psychiatrisches Zentrum Nordbaden gedient haben.

Im ersten Kapitel „Dem Leben zuliebe“ lernen wir Anton Parcival (genannt Percy) Slugen, geboren 1977, kennen, zu dessen Zeugung kein Mann nötig gewesen sein soll. Percy heilt Kranke, die alle anderen aufgegeben haben und er hält spontane Ansprachen, die den Zuhörern ungewöhnlich zu Herzen gehen. Er ist ganz ‚positiv’, so positiv, dass er sich selbst ankreidet, nicht ein wenig negativ zu sein. Es gelingt ihm lediglich, die Verneinung zu verneinen (S. 170).

Im Kapitel zwei „Dieses Leben“ erleben wir Ewald Kainz, den Heimzögling, Kommunisten, dem dadurch vom Berufsverbot Betroffenen, Sonderschulpauker und Motorradfahrlehrer. Sein Lebensschicksal hat ihn zum Stotterer werden lassen. Geheilt wird er durch Elsa Frommknecht, die er auch lieben lernt. Aber da kommt ihn eine Frau Dr. Silvi Schall in die Quere. Hingerissen zwischen diesen beiden Frauen endet er im Verstummen – und schließlich im PLK (Psychiatrisches Landeskrankenhauses) Scherblingen des Professor Augustin Feinlein.

Das dritte Kapitel „Mein Jenseits“ (kam bereits letztes Jahr als selbständiges Buch heraus) kennt den Professor Augustin Feinlein, Leiter des PLK Scherblingen, als Autoren. Dieser hat seinen Kampf mit dem noch jungen Chefarzt Dr. Bruderhofer auszutragen, der gern sein Nachfolger werden möchte. Hier kämpft Tradition gegen Moderne, Johanniskraut gegen Psychopharmaka, Religiosität gegen europäische Aufklärung, ein Kampf, den der ‚alte Knabe’ verliert, als er die Monstranz mit der Heilig-Blut-Reliquie aus der Stiftskirche stiehlt, um sie vor dem Unverständnis der Gegenwart in Sicherheit zu bringen. Er wird selbst zum Fall.

Im 4. Kapitel „Fortleben“ lernen wir noch einen gewissen Modest Müller-Sossima kennen, der mit Slugen und dem ‚befreiten’ Professor auf der ebenfalls fiktiven Insel Rheinau eine Akademie für Unvollendete gründet. Dies erinnert mich komischerweise an das Alterswerk „Das Glasenperlenspiel“ von Hermann Hesse, obwohl es hier nicht um die Perfektion der Wissenschaften und Künste und insbesondere der Synthese beider Bereiche geht, sondern gerade das Unvollendete, das Spontane, das Zusammenkommen von Denken und Sagen im Vordergrund steht. Und Autoren, die möchten, können hier ihre Werke shreddern lassen, natürlich zuvor nicht ungelesen.

Der Roman geht dem Ende zu – und wir erfahren nicht nur, das Ewald Kainz doch den Freitod gewählt hat, nein auch Percys mögliche Adoptivväter, Modest Müller-Sossima und der Professor, kommen ums Leben. Und im letzten Kapitel „Letzte Nachricht“ erfahren wir dann auch noch vom Tode Percys.

In „Muttersohn“ zieht sich Martin Walser sehr weit zurück. Wie so oft im Alter spielt das Heute keine eigentliche Rolle mehr. Dafür beschäftigt sich Walser verstärkt um Glaubensfragen. Es klingt fast wie eine Entschuldigung, wenn er den Glauben für eine Fähigkeit, eine Begabung hält: „Bei Musik weiß jeder: Manche sind musikalisch, andere nicht. So mit der Glaubenskraft.“ (S. 173) Sollte Walser dieses Talent fehlen, so kompensiert er es gewissermaßen intellektuell und kommt da Kierkegaard sehr nahe, der u.a. davon ausging, dass die Wahrheit nicht in Sätzen gelehrt werden könne, sondern eine Bewegung des Menschen in der Zeit sei.

Bemerkenswert ist die Figur des Percy Slugen, der sich zuletzt als „Fürst der Freundlichkeit“ (S. 504) definiert. Sollte er wirklich ein neuzeitiger Jesus sein? Neben Geburt und Wirken erinnert auch sein Tod stark an den Tod von Jesus Christus. Aber kann und darf man einen Jesus von Nazareth in unsere Zeit hineinstellen? Muss er da nicht zu einer naiven Kitschfigur verkommen? Walser hat die Gefahr durchaus erkannt. Aber die Grantwanderung seines Percy-Jesus gelingt nur halb – und genau da schwächelt dann Walsers Roman.

Wie sagt der Motorradfreak ‚Katze’, der Percy Slugen später tötete, zu diesem: „Ein toller Text, Percy. Leider nicht von dieser Welt. Und nicht für diese Welt.“ (S. 435). So könnte man auch zu Martin Walser sagen: Ein toller Text. Leider nicht von dieser Welt.

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

Ein Gedanke zu „Martin Walser: Muttersohn

  1. Die Klosterinsel Rheinau, Schweiz, ist überhaupt nicht fiktiv. Das kulturelle Leben floriert, auch im Rahmen der „Klosterkonzerte“. Und tatsächlich hat ein Nationalrat, auch wenn er nicht Modest Müller-Sossima heisst, eine Stiftung gegründet mit dem Ziel, eine Art „Akademie“, genauer: Eine Musikinsel mit Hotelräumlichkeiten einzurichten.

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