Nein, ihr braucht es erst gar nicht zu googeln: Leerizismus ist die Übersetzung eines Neologismus (voidancy, eine Wortschöpfung des Autors zu voidance = Entleerung), den Wole Soyinka, Träger des Nobelpreises für Literatur 1986, in einem seiner Romane prägte: Leerizismus zu leer wie inhaltslos (geistige Gegenstände), hohl, alle (Gefäße), nüchtern (Magen) – wohl zum englischen empty gebildet. Soyinka lässt einen nigerianischen Intellektuellen, den Journalisten Sagoe, in seinem 1965 erschienen Buch sprechen und verunsichert damit den Botenjungen Mathias, indem er gewissermaßen ‚ins Leere’ hinein philosophiert. Das Ganze geht dann sogar in späteren Kapiteln noch weiter …
Mathias grinste breit, und Sagoe räusperte sich.
„ … Mit diesem Tag grabsinge ich allen anderen –ismen, vom homöopathischen Marxismus bis zum Existentialismus. Wenn ich hier meine eigene Person einbringe, dann deshalb, weil die Übermittlung meiner Geschichte nicht mehr und nicht weniger ist als die Enthüllung des Wunders meiner philosophischen Entwicklung, handelt es sich hier doch um einen Ritualismus, für den ich keinem anderen Vorläufer zu dank verpflichtet bin als der gesamten Menschheit selbst, handelt es sich hier doch um eine Erkenntnis, für die ich keinen anderen Urgrund anerkennen kann als die unveränderlichen Gesetze der Natur. Wenn ich hier meine eigene Person einringe, dann deshalb, weil es sich hier um die innerlichste aller nach innen gekehrten Philosophien menschlicher Existenz handelt. Funktionell, spirituell, kreativ oder rituell, der Leerizismus bleibt die einzig wahre Philosophie des wahren Egoisten. Als Definition, meine Damen und Herren, genüge uns dies: Leeriszismus ist keine Protestbewegung, aber er protestiert; es ist unrevolutionär, aber er revoltiert. Leeriszismus, so möchten wir sagen, ist die unbekannte Größe. Leerizismus ist die letzte auf keiner Karte verzeichnete Fundgrube schöpferischer Kräfte, in seinem Paradoxon liegt der Kern der kreativen Liturgie – in der Freigabe liegt das Erzeugnis. Ich bin kein Messias und doch kann ich nicht umhin zu glauben, ich wurde geboren, diese Rolle zu übernehmen, denn die Natur meiner kongenialen Leiden barg in sich bereits die ersten Anzeichen meines späteren Martyriums und der unvermeidlichen Apotheose. Ich wurde mit einem emotionellen Magen geboren: war ich ärgerlich, revoltierte er; war ich hungrig, schlug er Krawall; wurde ich getadelt, reagierte er prompt; wurde ich enttäuscht, geriet er aus dem Häuschen; er drehte sich um bei Furcht, verkrampfte sich in Momenten der Spannung, er war misstrauisch in Examenssituationen und gänzlich unberechenbar während des Liebesaktes. Meine lieben Freunde, einem Propheten gebührt die Ehre … Oft verdächtigte man mich der Drückebergerei und war mit der Strafe rasch bei der Hand; doch gerade die Begleiterscheinungen des Stark ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühls ist ein Zeichen für die Feinfühligkeit des emotionellen Magens. Weiteren Einfluß auf die Entwicklung meiner Leerungsintroversion nahm die Tante einer Freundin aus Kindertagen, die manchmal zu uns zu Besuch kam. Sie furzte wie Beelzebub. Doch eine noch viel größere Erleuchtung war meine eigene Mutter, die, obschon Opfer des gleichen Leidens, doch zugleich eine tief religiöse Furzerin war. Sie prahlte damit – selbst als sie schon mit einem Fuß im Grabe stand -, daß Gottes Stimme ein Wind sei und daß Gott es keinen Tag verabsäume, nach dem Abendgebet zu ihr zu sprechen. Alle Haushaltsmitglieder trommelte sie als Zeugen zusammen, und alle sagten – Amen. Meine Vorstellung vom rechten Ort für das Gebet formte sich daher wohl in jenen Tagen, als ich erkannte, daß der Grund, die Toilette aufzusuchen, weniger in der physiologischen Notwendigkeit als vielmehr in einem psychologischen und religiösen Druck lag. Bereits in dieser Lebensperiode begann ich mich dem Problem zu widmen, dem ich später in systematischen, objektiven Forschungen weiter nachging, dem Problem des digestiven Behaviorismus beim sensiblen Kind. Ich sprach zwar auf die wohlbekannte Pose des Schnell-fertig-und-weg gut an, doch mitunter erfuhr ich eine Selbstbesinnung, eine Entschlossenheit, einen Glauben, einen inneren Frieden; ich entwickelte eine geistige Fühlungnahme mit einer Welt der Spannungen und Widersprüche …“
Sagoe hielt inne und blickte Mathias an, der mit offenem Mund dasaß. Erklappte das Manuskript zu und sagte: „Das war’s für heute, Mathias. Die erste Lektion ist vorbei.“
Mathias würgte ein „Yessah. Dankschön, Sah“ hervor und ließ Sagoe mit seiner Dissertation allein. Beim Hinausgehen schwenkte er die Bierflasche übertrieben lässig, um zu kaschieren, wie froh er war, endlich wegzukommen.
aus: Wole Soyinka: Die Ausleger (S. 100 ff. – Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1983 – Dialog Afrika – Übersetzung von Inge Uffelmann – Original: The interpreters, 1965)