Wie ich bereits berichtete, hatte ich das „Glück“, in der Schule von Heinrich von Kleist, dessen 200. Todestag wir in diesem Jahr feiern, verschont geblieben zu sein. Gibt es etwas Schlimmeres als Kleists ‚Michael Kohlhaas’, diese Bandwurmsätze, bei denen man am Ende nicht mehr weiß, was man am Anfang gelesen hat? Eine Sprache, die antiquierter nicht sein kann?
Meine heutige Frau, die 1983 die Abendschule besuchte, hatte da weniger ‚Glück’ und
musste eine Interpretation über diese Erzählung schreiben. Und dann auch noch einen dieser für Kleist typischen, scheinbar nie enden wollenden Schachtelsätze grammatikalisch auseinanderpflücken sollte.
Ich habe mich freiwillig mit Kleist beschäftigt. Sicherlich ist Freiwilligkeit ein besserer Ansatz. Vor allem, wenn man sich nicht um grammatikalische Fragen zu sorgen hat. Was schwer wiegt, ist „die quasi-juristische Umständlichkeit der Sätze, deren eigentliches Wunder darin liegt, dass sie dennoch so kraftvoll, federnd und lesbar sind: jeder einzelne eine Illustration des Widerstreits von Gesetz und Freiheit.“ (nachzulesen in: Grammatik und Freiheit von Daniel Kehlmann).
Und es ist der Plot selbst, der den Leser in Spannung hält. Da mag manches altmodisch klingen oder vom Satzaufbau zu lang geraten sein. Beginnen wir mit der Zeichensetzung:
Kleist setzt oft Kommata dort, wo sie nach der Grammatik entbehrlich zu sein scheinen; umgekehrt fehlen sie nicht selten, wo man sie erwartet. Man spricht hier gern von einer akustischen bzw. Vortragsinterpunktion. Und liest man z.B. den Kohlhaas einmal laut vor, so versteht man plötzlich, warum dort ein Komma steht und an anderer Stelle vielleicht nicht. Kleist soll musikalisch gewesen sein. Und Lyriker war er sowieso, da geht’s nicht ohne Sprachrhythmus.
Kleist ist (fast) ohnegleichen. So auch seine Schachtelsätze, also Haupt- mit Nebensätze, die weitere Nebensätze enthalten können. Hier einmal ein Beispiel (und auch schon gleich mit einer ‚Lesehilfe’ versehen):
„Kohlhaas, der inzwischen, wie schon gesagt, in Berlin angekommen, und, auf einen Spezialbefehl des Kurfürsten, in ein ritterliches Gefängnis gebracht worden war, das ihn mit seinen fünf Kindern, so bequem als es sich tun ließ, empfing, war gleich nach Erscheinung des kaiserlichen Anwalts aus Wien, auf den Grund wegen Verletzung des öffentlichen, kaiserlichen Landfriedens, vor den Schranken des Kammergerichts zur Rechenschaft gezogen worden; und ob er schon in seiner Verantwortung einwandte, daß er wegen seines bewaffneten Einfalls in Sachsen, und der dabei verübten Gewalttätigkeiten, kraft des mit dem Kurfürsten von Sachsen zu Lützen abgeschlossenen Vergleichs, nicht belangt werden könne: so erfuhr er doch, zu seiner Belehrung, daß des Kaisers Majestät, deren Anwalt hier die Beschwerde führte, darauf keine Rücksicht nehmen könne: ließ sich auch sehr bald, da man ihm die Sache auseinandersetzte und erklärte, wie ihm dagegen von Dresden her, in seiner Sache gegen den Junker Wenzel von Tronka, völlige Genugtuung widerfahren werden, die Sache gefallen.“
Nun macht Euch daran, und zerpflückt diesen einen Satz in Haupt- und Nebensätze?! Nein, bitte nicht! Wenn ich am Deutsch-Unterricht etwas gehasst habe, dann dieses theoretische Herumgewürge an solchen Sätzen. Man würgt solange, bis der Satz dem Schüler unter der Hand gestorben ist. Sicherlich sollte man schon wissen, was Attribut- und was Adverbialsätze sind und verkürzte Nebensätze wie Infinitiv- und Partizipialsätze (hier eine Webseite, die die Nebensatztypen anschaulich erklärt). Und wenn man die auch noch halbwegs voneinander unterscheiden kann, um so besser. Aber Kleist sollte dafür nicht herhalten müssen (das ist nur etwas für Grammatikfreaks bzw. –fetischisten).
Kleists Sprache ist sicherlich nicht mehr zeitgemäß. Aber seine Gedanken sind es auch 200 Jahre nach seinem Tode noch. Und irgendwie ist es ein doppeltes Abenteuer, sich auf Kleist einzulassen: Einmal der Gedanken wegen – und dann durchaus auch wegen dieser Sprache. Franz Kafka, ein Meister der klaren Prosa, hat Kleist für beides geliebt. Sie waren Blutsverwandte im Geiste.
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