Während unseres diesjährigen Urlaubs im Brandenburgischen machten wir auch einen Abstecher nach Frankfurt/Oder. Und es war nicht zu übersehen: 2011 ist Kleist-Jahr anlässlich seines 200. Todestages am 21. November. Kleist wurde 1777 in Frankfurt/Oder geboren.
Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (* 18. Oktober, nach Kleists eigenen Angaben 10. Oktober 1777 in Frankfurt (Oder); † 21. November 1811 am Stolper Loch, heute Kleiner Wannsee (Berlin)) war ein deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker und Publizist. Kleist stand als „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit […] jenseits der etablierten Lager“ und der Literaturepochen der Weimarer Klassik und der Romantik. Bekannt ist er vor allem für das „historische Ritterschauspiel“ „Das Käthchen von Heilbronn“, seine Lustspiele „Der zerbrochne Krug“ und „Amphitryon“, das Trauerspiel „Penthesilea“ sowie für seine Novellen „Michael Kohlhaas“ und „Die Marquise von O…“
Heinrich von Kleist war ein leidenschaftlicher Dichter mit einem überschäumenden Temperament, ein Querdenker und Revolutionär mit einem „Hang“ zu sinnloser Gewalt – und ein Stotterer. Er war unstet, ruhelos, ohne festen Wohnsitz. Und er war angetan vom Gedanken der Freiheit. Am 21. November 1811 nahm er sich mit seiner Freundin Henriette Vogel das Leben, denn „die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“ So Kleist in seinem Abschiedsbrief.
Video auf zdf.de: Vor 200 Jahren erschoss sich Kleist
Ich hatte das „Glück“, in der Schule von Kleist verschont geblieben zu sein. Gibt es etwas Schlimmeres als Kleists ‚Michael Kohlhaas’, diese Bandwurmsätze, bei denen man am Ende nicht mehr weiß, was man am Anfang gelesen hat? Eine Sprache, die antiquierter nicht sein kann?
Ich bin über die Lektüre von Franz Kafka zu Heinrich von Kleist gekommen. Kafka war ein großer Verehrer der Erzählungen von Kleist. Und so habe ich mich zum ersten Mal vor über 40 Jahren an den Michael Kohlhaas, die Marquise von O. und all die anderen Erzählungen gewagt. Nur drei Jahre später las ich dann den ‚Michael Kohlhaas’ erneut. Meine heutige Frau, die damals die Abendschule besuchte, musste eine Interpretation über diese Erzählung schreiben. Und dann auch noch einen dieser für Kleist typischen Schachtelsätze mit einer Länge von mehr als einer Seite grammatikalisch auseinanderpflücken. Dazu morgen etwas mehr. Hier zum Inhalt der Erzählung:
„Der im Brandenburgischen lebende, angesehene Rosshändler Michael Kohlhaas reitet mit einer Koppel Pferde nach Sachsen. Unterwegs wird er jedoch an der Burg des Junkers Wenzel von Tronka mit der willkürlichen Forderung nach einem Passierschein aufgehalten. Nachdem Kohlhaas in Dresden feststellt, dass es einen solchen Passierschein nicht gibt, erfährt er bei seiner Rückkehr, dass seine beiden als Pfand zurückgelassenen Pferde durch den Einsatz in harter Feldarbeit abgemagert und damit wertlos geworden sind.“ (Quelle: de.wikipedia.de)
Kohlhaas versucht zunächst sein Recht durch Klage zu erlangen. Doch dank der Vetternwirtschaft der Tronkas („Hinz und Kunz“) wird diese abgewiesen. Als auch noch seine Frau beim Versuch, ihrem Mann Gehör zu verschaffen, den Tod findet, greift Michael Kohlhaas zur Selbstjustiz und beginnt einen Rachefeldzug gegen den Junker. Dieser kann aber immer wieder entkommen. So legt Kohlhaas mit seinem wachsenden Heerhaufen Wittenberg in Schutt und Asche, weil die Stadt den Junker nicht ausliefern will.
Die verwickelte Geschichte endet damit, dass in einem erneuten Prozess der Junker von Tronka zwar auf Schadensersatz, Kohlhaas aber zugleich wegen Landfriedensbruch zum Tode verurteilt wird.
Wer war nun dieser Michael Kohlhaas, was stellt er dar? War er nur ein unverbesserlicher Querulant, der sogar über Leichen zu gehen bereit ist, um zu seinem Recht zu kommen? Ernst Bloch nennt ihn in seinem Aufsatz „Über den Begriff Weisheit“ (1953) den „Don Quijote rigoroser bürgerlicher Moralität“. In ihm glühe „der Paragraph eines vorhandenen Gesetzes so, als wäre göttliches Recht darin“. Kohlhaas sei nur deshalb anderes als ein neurotischer Querulant, weil er „auf die Befolgung eines Paragraphen so rebellisch“ dränge, „als wäre hier Naturrecht, ja ein Glanzstück von Naturrecht“. So will der Pferdehändler sich für die erlittene Kränkung seines Rechts nicht Genugtuung um ihrer selbst willen verschaffen, sondern fühlt sich „der Welt in der Pflicht verfallen“, will „Sicherheit für zukünftige“ – vor zukünftigen Rechtsbeugungen – „seinen Mitbürgern verschaffen“. Noch im Zustand der „Verrückung“ ist es Kohlhaas um die „Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge“ zu tun. Und am Ende geht seine Sehnsucht nach „anderen Menschen, als die er kannte.“ (aus dem Nachwort von Rolf Tiedemann: Ein Traum von Ordnung –
Ausgabe: Insel-Verlag Frankfurt am Main – insel taschenbuch 247 – 1. Auflage 1977)
Franz Kafka, Jurist im Brotberuf und als solcher in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ tätig, schrieb in einem seiner Briefe (wohl in „Briefe an Felice“):
„Gestern abend habe ich Dir nicht geschrieben, weil es über Michael Kohlhaas zu spät geworden ist, den ich in einem Zug gelesen habe. Wohl schon zum zehnten Male. Das ist eine Geschichte, die ich mit wirklicher Gottesfurcht lese, ein Staunen faßt mich über das andere, wäre nicht der schwächere Schluß, es wäre etwas Vollkommenes, jenes Vollkommene, von dem ich gern behaupte, daß es nicht existiert.“
Der schwächere Schluss wird sich wohl auf das Eingreifen der geheimnisvollen Zigeunerin, in der Kohlhass’ tote Frau wiederkehrt, beziehen. Diese sorgt auf geheimnisvolle Weise für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und für das Abgleiten der Erzählung ins Märchenhafte.
Sicherlich ist Selbstjustiz nie zeitgemäß gewesen. Kohlhaas schöpft bis zuletzt alle Möglichkeiten aus, um zu seinem Recht zu kommen. Erst als der Staat seiner Pflicht, Gerechtigkeit zu schaffen, nicht nachkommt, nimmt Kohlhaas selbst das Gesetz in die Hand. Da es dabei längst nicht mehr allein um Schadensersatz, sondern um Gerechtigkeit, ja um die „Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge“ geht, ist das Tun Kohlhaas’ auch als revolutionärer Akt zu verstehen. Lässt sich Kohlhaas so vielleicht mit der RAF vergleichen?
Bühnenstücke, Erzählungen und weitere Werke im Projekt Gutenberg und als Bücher/Audio-CD Heinrich von Kleist