Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, heißt es. Oder wie der Angelsachse sagt: The laugh is always on the loser. Womit wir bereits beim Kern der Sache wären: Da lässt ein Schriftsteller sein Tagebuch mit Skizzen und Notizen im Zug liegen. Und schon stürzt sich eine Meute auf den armen Mann, um ihn, den Verlierer (Versager), noch mit Hohn zu verlachen (The laugh is always on the loser).
Wie geschrieben hat Martin Walser sein in rotes Leinen gebundenes Tagebuch im Zug von Innsbruck nach Friedrichshafen vergessen: „Drin kein Name, keine Adresse. Ich hatte ja nicht vor, es liegen zu lassen“. Und schon witzelt frau in welt.de: „Martin Walser sorgt wieder einmal für einen Skandal: Er hat sein Leben liegen lassen.“ – und zieht über Walsers bisher veröffentlichte Tagebücher her. Und weiter: „Dann bot Walser der Nachrichtenagentur dpa ein Interview an. Darin stehen nun so Sätze wie ‚Wenn etwas verloren ist, entsteht ein Gefühl. Nichts entwickelt sich in uns zu solcher Deutlichkeit wie Verlorenes. Aber nur das Verlustgefühl nimmt zu, das Verlorene selbst bleibt verloren.’ Walser hat damit eine neue Kunstgattung erfunden. Neben dem literarischen Tagebuch gibt es jetzt auch die literarische Vermisstenanzeige. Immerhin hat er ‚ein aufgeschriebenes Leben im Zug liegen’ lassen. Nie wieder wollen wir an Laternenpfählen ‚Schlüsselbund verloren’ lesen. Sondern vielleicht ‚Der Zugang zum Heim, zur eigentlichen Heimat ist uns verwehrt. Heimlicher Schmerz, Heimatschmerz’. Oder so ähnlich.“
Erst einmal sollte es Verlustmeldung oder Verlustanzeige heißen, nicht Vermisstenanzeige, denn Herr Walser hat nur sein Tagebuch im Zug vergessen und vermisst keinen lieben Menschen (das vielleicht in seinem Alter auch, aber davon ist hier ja keine Rede). Martin Walser neigt nun einmal zu ‚Wortgewalt’ und äußert sich vielleicht auch in so profanen Dingen wie den Verlust eine Sache als Dichter. Aber es ist ja nicht nur eine Sache, die er verloren hat, es sind handschriftliche Aufzeichnungen von rund 200 Seiten, deren idealen Wert man durchaus erahnen kann. Inzwischen hat Walser selbst den Finderlohn von 3000 €, die sein Verlag aussetzte, um eigene 2000 € erhöht.
Aber irgendwie kommt es noch dicker. In gewissen unernsten Betrachtungen äußert man sich bei nw-news.de wie folgt: „Unbestätigten Branchengerüchten zufolge, hat Walsers Verlag die Beseitigung des Tagebuchs in Auftrag gegeben. Zum einen, weil der Autor mit Hinweis auf Thomas Manns Notate (‚Verdauungssorgen und Plagen’) auf einer Veröffentlichung bestanden haben soll. Zum andern, weil ihn der Eintrag ‚Eines Tages bringe ich Reich-Ranicki um’ in unnötige Schwierigkeiten bringen könnte. Walser hofft noch, dass das Tagebuch wieder auftaucht. ‚Für den Schriftsteller’, sagt er, ‚wäre es eine Erlösung.’ Wir armen Leser müssen ihn ja nicht kümmern.“
Ob sich sein Tagebuch nun endlich angefunden hat, ist zz. nicht zu erfahren. Wollen wir es für Martin Walser hoffen. Immerhin steht er nicht allein da. T.E. Lawrence, bekannt geworden als „Lawrence von Arabien“, vergaß 1919 in einem Bahnhofscafé das einzige Manuskript von „Die sieben Säulen der Weisheit“. Er fand es nie wieder und musste alles neu schreiben. Auch Heimito von Doderer oder Alfred Polgar verloren Manuskripte. Die meisten unwiderruflich verlorenen Manuskripte sind aber Erstlinge, die bei den Verlegern verlegt werden (und zwar wörtlich) oder sich schon vorher auf dem Postweg in Luft auflösen. Arthur Conan Doyle traf es ebenso wie Henry Miller (Quelle: diepresse.com).
Hier findet sich ein Hinweis auf den Roman „Lila, lila“ von Martin Suter, der auch verfilmt wurde, in dem ein Manuskript in der Schublade eines Nachtschränkchens verschollen geht und von einem jungen Mann auf dem Flohmarkt gefunden wird. Er veröffentlicht es unter seinem Namen und wird berühmt, irgendwann aber bittet der wahre Autor bei einer Lesung um ein Autogramm. Nun Martin Walser hat ja wenigstens kein vollständiges Manuskript verloren.