Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel

    Ich bin Schriftsteller genug, dass ich auch dann noch schreibe, wenn ich weiß oder annehmen muss, dass kein Mensch mich noch liest. Im Gegenteil, nicht mehr gelesen zu werden befreit von jener nie ganz zu überwindenden Schwäche, verständlich sein zu müssen.
    Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel (S. 181)

Zu Martin Walsers letztem Buch Muttersohn sah es die Süddeutsche so, dass Walser sich wohl „selbst genügt und ein landläufiges Gelingen gar nicht im Sinn“ habe. Und jetzt diese beiden Sätze in Walsers neuem Roman Das dreizehnte Kapitel. Will sich Walser wirklich von dieser Schwäche, verständlich sein zu müssen, befreien?

Wer sich im Walser-Kosmos halbwegs auskennt, wird sich von diesen Sätzen nicht erschrecken lassen. Walser bleibt ‚verständlich’, wenn sich mancher neue Leser von dieser Wortgewalt auch eher erschlagen fühlen dürfte, von dieser Schreib- und Empfindungskunst, die so wenig zeitgemäß erscheint. Walser versteht es auch heute noch mit 85 Jahren Sätze zu schmieden, die mehr Geist besitzen als all das Geschwätz, mit dem wir tagtäglich konfrontiert werden.

    Martin Walser: das dreizehnte Kapitel

Die meisten leiden ohne Gewinn – so steht es im Roman Das dreizehnte Kapitel, der ebendiesen Satz widerlegen will. Mit einem Festessen im Schloss Bellevue fängt es an: Ein Mann sitzt am Tisch einer ihm unbekannten Frau und kann den Blick nicht von ihr lösen. Wenig später schreibt er ihr, und zwar so, dass sie antworten muss. Es kommt zu einem Briefwechsel, der von Mal zu Mal dringlicher, intensiver wird. Beide, der Schriftsteller und die Theologin, beteuern immer wieder, dass sie glücklich verheiratet sind. Aber sie gestehen auch, dass sie in dem, was sie einander schreiben aus sich herausgehen können wie nirgends sonst und dass sie ihre Ehepartner verraten. Nur weil ihr Briefabenteuer so aussichtslos ist, darf es sein. An ein persönliches Treffen ist nicht zu denken. Die Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit.

    „Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit.“, nennt es der Schriftsteller (S. 111), was die Theologin konkretisiert: „… Unsere Brücke wird in die Luft gebaut. Sie hat drüben noch keinen festen Punkt erreicht. […] : das In-die-Luft-gestellt-Sein.“ (S. 119)

Eines Tages teilt die Theologin mit, ihr Mann sei schwer erkrankt. Während sie auf einer Fahrradtour durch Kanadas Wildnis mit ihm noch einmal das Leben feiert, wartet der Schriftsteller auf Nachrichten. Als wieder eine eintrifft, wirft sie alles um.

Martin Walsers Roman über eine Liebe, die als Unmöglichkeit so tiefgründig und lebendig ist wie kaum etwas, kreist auf schwindelerregende Weise um das Wesen der menschlichen Existenz. Und führt dabei vor Augen, dass ein Lieben ohne Hoffnung auf Hoffnung das eigene Leben erst empfindbar macht. Ein bewegender, lebenskluger, ja aufregender Roman über eine Frau und einen Mann, die gerade durch die Unmöglichkeit ihrer Liebe zu einer noch nie erfahrenen Gefühlsheftigkeit gesteigert werden.
(aus dem Klappentext zum Roman – 1. Auflage September 2012)

Oder mit eigenen Worten: Basil Schlupp, der Schriftsteller, und seine Frau Iris sind zu einem Empfang beim Bundespräsidenten eingeladen. Gefeiert werden soll der Molekularbiologe Korbinian Schneilin, der sich nicht mehr der Forschung widmet, sondern mit seiner Firma der Produktion von „Medikamenten nach Maß“ widmet. Aus der Ferne sieht Schlupp die Frau des zu Feiernden, eine Theologin, und ist fasziniert von ihr. Von Befallenheit ist später die Rede.

Schlupp wagt es, der Frau des Wissenschaftlers zu schreiben. Und, was vielleicht nicht zu erwarten ist, sie antwortet. So entwickelt sich ein Schriftwechsel, der beiden Gelegenheit zu kleinen Denkspaziergängen, Gefühlsanalysen und Reflexionen über Briefe an sich gibt. Dabei stürzt sich jener Basil Schlupp Hals über Kopf in ein irrwitziges Liebesabenteuer, das allein in seinem Kopf und auf dem Papier stattfindet. Bis auf wenige Einschübe handelt es sich bei diesem Buch also um einen Briefroman.

Die Kritiken sind überraschend wohlwollend. Selbst auf welt.de ist zu lesen: „Diesmal keine Dirty-Old-Man-Fantasie unseres Dichterfürsten, sondern ein sich von einem Brief- in einen E-Mail-Roman verwandelnder hochgeistiger Schlagabtausch zwischen Autor und Theologin. Gott sei Dank lebt die Sprache in Zeiten des Internets – noch.“

„Seit einem halben Jahrhundert ist Martin Walser unser Gewährsmann für Liebe, ehe, Glaube und deutsche Befindlichkeiten. Die Vermessung der Ausdruckswelt, des Daseins als Abfolge schwankender Empfindungen – das ist seine große Stärke.“ (Felicitas von Lovenberg – Frankfurter Allgemeine Zeitung)

„Martin Walser ist einer der wichtigsten Schriftsteller, die wir haben. Sein Gedächtnis, seine Genauigkeit in der Betrachtung von menschlichen Verhältnissen und Unverhältnissen ist unerreicht, seine sprachliche Risikobereitschaft ist beispielhaft. Er geht in jeder Hinsicht aufs Ganze. Kurz, Martin Walser ist ein Dichter.“ (Frank Hertweck, SWR)

Personen im Roman:

Basil Schlupp, Schriftsteller (Verfasser von „Strandhafer“ – arbeitet zz. an „Sternstaub“)
Iris, geborene Tobler, Ehefrau (ca. 55 Jahre alt) – Haldenberg-Projekt (TV-Jugendsendung)
Beatus Niederreither, Architekt (ehemaliger Geliebter von Iris)

Maja Schneilin, geborene Schneilin (ca. 44 Jahre alt), Theologin
Korbinian, ihr Ehemann
Roderich Wegelin, der Fahrer

Luitgard und Ludwig Froh, Freunde von Korbinian (und Maja)

Ein realer Ausgangspunkt ist die Beziehung des Theologen Karl Barth zu Charlotte von Kirschbaum, seiner Assistenten. Barth ist mit seiner existenzphilosophisch grundierten Theologie Vorbild für Maja Schneilin. Bei ihm, Karl Barth, findet sich gewissermaßen das Drehbuch für ihren Schriftwechsel mit dem Schriftsteller. „Mit ihm, dem «Lehrer aller Lehrer», wie sie sagt, imponiert sie erst dem Schriftsteller, später gesteht sie, wie sehr er sie aus allen Halterungen gerissen habe.

Es kommt noch besser: Sie lese nun, schreibt sie später, Barths Briefwechsel mit seiner Mitarbeiterin und Geliebten Charlotte von Kirschbaum. Das Buch ist ihr Offenbarung und Ansporn zugleich. Dieser neue Karl Barth mache sie «als Briefschreiber so schwach und so stark, wie ich noch nie war». Und sie empfiehlt die Lektüre auch Basil, auf dass die Briefe ihn ähnlich stimmen sollen. Und er – immerhin Katholik – noch gleichentags per Mail: Er lasse für Karl Barth eine Messe lesen. – Das sieht nach Ironie und Sarkasmus aus, doch dann folgt der entscheidende Satz, zum Zeichen, wie gelehrig er ist: «Mein Interesse für das Mögliche schrumpft.» Das Mögliche, erfüllte Liebe, physisches Zusammensein also: Es verblasst neben dem anderen, dem Imaginären, dem Unmöglichen.“ (Quelle: nzz.ch)

Walser wäre nicht Walser, wenn er nur scheinbar hochtrabend daherschriebe. Alles hat eine ironische Seite. Und manche ‚Erwähnungen’ in den Briefen, besonders die, die bezogen sind auf die Freundschaft von Majas Ehemann Korbinian zu Ludwig Froh, haben sarkastische Züge, die allein schon das Lesen des Romans lohnenswert machen.

Übrigens: das „13. Kapitel“ ist eigentlich ein Buch, ein loses Zettelwerk, an dem die Frau des Schriftstellers arbeitet. Einige dieser Zettel ‚verrät’ Basil Schlupp an die Theologin, u.a. steht dort:

„Wenn du mit niemanden offen sein kannst, bleibt nur noch das Schreiben.“ (S. 94) – oder auch der schon im Klappentext erwähnte Satz: „Die meisten leiden ohne Gewinn.“ (S. 95). Am Schluss des Romans, in dem alles umgeworfen ist, verbrennt Iris Schlupp, die Ehefrau, ihren Romanversuch, womit der Titel frei wird für den Ehemann, dem sie ihn großzügig überlässt. Frei auch als Titel für Walsers Roman.

Zuletzt noch etwas zu den Namen, die Walser immer wieder gern benutzt. Die stammen überwiegend aus dem alemannischen Sprachraum, also Walsers Heimat. Bei Basil Schlupp musste ich unwillkürlich an Nacke Dominik Bruut aus Walsers Roman Das Einhorn denken. Und Schlupp(en) gibt es auch im ‚Kinderprogramm‘.

Lesenswert ist auch die Rezension auf sueddeutsche.de/kultur: Walsers großes Werk der Liebe, in der eine Verbindung zu Franz Kafkas Korrespondenz mit seiner Verlobten Felice Bauer hergestellt wird. Dieser Briefwechsel begann am 20. September 1912. Fast auf den Tag genau einhundert Jahre später ist nun Walsers Roman erschienen.

Siehe auch meinen Beitrag: Martin Walser und die literarische Verlustanzeige
Übrigens: Walsers Tagebuch wurde bisher noch NICHT gefunden

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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