Es war im März 1993, da brach bei mir wieder einmal die poetische Ader auf und ergoss sich in Form einer Einleitung zu einem Kriminalroman aufs weiße Papier (eigentlich doch eher in kleinen Bits bzw. Bytes auf die Festplatte meines Rechners). Über diesen Anfang bin ich nie hinweg gekommen (in des Wortes doppelter Bedeutung), denn schon sehr bald versiegte die schöpferische Quelle und es blieb mir nur das folgende Roman-Fragment, dessen ersten Teil ich hiermit zum Besten gebe. Immerhin hat es geradezu Kafka’sche Qualität und sollte nicht in einer Schublade meines Schränke verstauben (respektive Festplatte). Und auch thematisch passt es in die jetzige Jahreszeit. Also viel Spaß beim Lesen:
1 Tauwetter
Tauwetter – Sauwetter! Es kommt tja schon selten vor, daß der Schnee in Hamburg liegen bleibt. Und wie der Schnee alles unter seiner weißen Decke verschwinden läßt, alles gewissermaßen verhüllt, so daß Schritte, der Autolärm und alle anderen Geräusche, die eine Stadt alltäglich hervorbringt, dämpft und sogar, wenigstens teilweise, zum Schweigen bringt … man könnte denken, daß Leben kommt zum Erliegen … so schwieg auch das Telefon von Ahooga Nonsen, der tagelang allein in der weißverhüllten Stille des Winters in seinem Büro hockte, sprungbereit, um beim nächsten Klingeln des Telefonapparats den Hörer aufzunehmen, z.B. die Zigarre lässig zwischen Daumen und Mittelfinger der linken Hand drehend – absolute Sendepause! Es gab für ihn nichts zu tun. Und irgendwie war er froh darum, nichts tun zu müssen und stattdessen seinen Blick aus dem Fenster auf die fallenden Schneeflocken richten zu können. Als dann die Dämmerung einsetzte und das Telefon immer noch nicht zu klingeln wagte, als wäre es eingeschneit, da drückte Ahooga seine längst schon erkaltete Zigarre im rettungslos überfüllten Aschenbecher aus; die Zigarettenkippen samt Asche quollen wie aufgeschäumter Kunststoff hervor und mehrere fielen dann auch über den Rand auf den mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln übersäten Schreibtisch. Tagsüber bevorzugte Ahooga Zigaretten, die er sich wie beiläufig selbst zu drehen pflegte. Stand der Abend vor der Tür, dann gönnte er sich eine Zigarre, nicht die billigste, beileibe aber auch nicht die teuerste. An einen Tag wie diesen rauchte er viel, während er in den Zeitungen blätterte und den einen oder anderen Artikel, der ihm interessant erschien, mit der angerosteten Schere ausschnitt, er rauchte zu viel, wie sein Arzt ihm sagen würde. Und der Kippen sammelten sich zusehends. Als interessiere ihn der übergequollene Aschenbecher nicht, ließ Ahooga alles liegen und stehen, stand aus seinem abgestoßenen Ledersessel auf, schlich langsam und bedächtig auf den Garderobenständer zu, der einen in den Ärmeln ausgebeulten hellen Mantel und seine schottengemusterte Schlägermütze wie auf gegen die Zimmerdecke ausgestreckte Spiddelfinger barg, um beides aufzunehmen, zuerst den Mantel mit der rechten Hand, um ihn über den linken Arm zu hängen, dann die Mütze ebenso mit der rechten, um sie sogleich über den Kopf zu stülpen, wobei die linke Hand, durch den in der Armbeuge eingeklemmten Mantel behindert, beim Richten der Mütze nachzuhelfen suchte, was aber nicht auf Anhieb gelang. Erst beim dritten Versuch schien es zu klappen, zumindest dachte Ahooga Nonsen das, aber die Mütze knüllte einen größeren Haarbüschel des Hinterkopfes, so daß die ansonsten vermeidlich geordnete Frisur durcheinander geriet und die Mütze am Hinterkopf unmäßig beulte. Den Mantel zog er erst im Hausflur an, nachdem er die Türe zu seinem Büro mit dem Schlüssel, den an einem mit unzählig vielen Schlüsseln unterschiedlichster Art übersäten Schlüsselbund, verschlossen hatte. Wie ein Magier fand er aus dem Metallknäuel in Sekundenschnelle den richtigen Schlüssel, schloß mit der linken Hand ab, um gleichzeitig mit der rechten den Mantel aufzunehmen, diesen gewissermaßen in die Luft warf, um mit dem rechten Arm in den durchaus richtigen rechten Ärmel hineinzuschlüpfen. Und kaum war die Tür verschlossen, war auch schon das Schlüsselknäuel in der linken Hosentasche verstaut. Im Hinuntergehen zog er sich dann den Mantel vollständig an. Unten an der Haustüre, zwei Stockwerke unterhalb seines Büros, nesselte er am Mantelkragen herum, noch bevor er die Tür zur Straße geöffnet hatte. Ein Kälteschauer fuhr ihn über den Rücken. Er knöpfte auch den obersten Knopf schnell zu, öffnete die Tür und mit einem kleinen Sprung, so als wäre er gestoßen worden, hüpfte er auf den Gehweg, der, obwohl vor kurzem gefegt, wieder fast vollständig beschneit war. Als er auf das Pflaster aufsetzte, mußte er mit den beiden Armen balancierend seinen Schwung ausgleichen, um nicht ins Staucheln zu geraten. Das Pflaster war glatt, zumal er nicht die für diese Witterung richtigen Schuhe anhatte. Er hatte keine anderen Schuhe außer diese schwarzen, deren rechter Schürsenkel schon vor längerer Zeit gerissen und dann von Ahooga notdürftig zusammengeknotet war, um weiterhin seinen Dienst zu verrichten. So kam Ahooga Nonsen bei fast jedem Schritt, den er tat, ins Rutschen, mußte einmal den einen, dann den anderen, meist aber beide Arme zu Hilfe nehmen, um seinen Gang auf dem glitschigen Grund aufrecht zu halten. Fast wie ein Seiltänzer balancierte er auf Eis und Schnee.
Tauwetter ist Sauwetter! dachte sich Ahooga Nonsen. Denn nach einer Woche der Eiseskälte hatte eine Westströmung plötzlich wärmere Luft über Frankreich aus dem Mittelmeerraum um Spanien herum auch nach Hamburg gebracht, die innerhalb kürzester Zeit den angehäuften Schnee zum Schmelzen brachte. Ahooga hatte sich extra für dieses unverhofft eingebrochene Winterwetter feste Stiefel mit Fellimitat und Profilsohle gekauft, weil seine schwarzen Schürschuhe förmlich im Schnee ersoffen waren und mit Zeitungspapier ausgefüttert zum Trocknen unter der Heizung seines Büros standen. Einen halben Tag lang war er mit nassen, eiskalten Füßen durch die Innenstadt Hamburgs gelaufen, die ersten Anzeichen eines Schnupfens hatte er halbwegs erfolgreich mit einem Tee, der verdächtig nach Rum roch, bekämpft, um sich dann endlich zu diesem Kauf zu entschließen. Wie zufällig kam er an einem Schuhgeschäft vorbei, das diese dunkelbraunen Stiefel mit dem Plastikfell in Massen zu einem herabgesetzten Preis: besonders preisgünstig – der Sommerschlußverkauf nahte – an den Käufer zu bringen suchte. Eigentlich war er am Schuhgeschäft schon vorbei, da schmerzten ihn plötzlich seine halberfrorenen Füße, so daß er kehrt machte, ein Paar seiner Größe am Eingang des Ladens aufnahm und unter die linke Achselhöhle stopfte, den Laden betrat, Ausschau noch nach dicken Socken hielt, keine passenden auf Anhieb finden konnte, so zur Kasse schritt, um den Preis zu entrichten. Das Anprobieren vergaß er dabei, bereute es sehr bald, denn die Schuhe waren zu groß. Zunächst erschien das kein Problem zu sein. In seinem Büro zurückgekehrt, suchte er im rechten unteren Schreibtischschubfach nach Socken, konnte keine finden und nahm so bereits getragene, die auf der Heizung zum Trocknen lagen. Sie waren noch etwas klamm, er zog die alten Schuhe samt nassen Strümpfe aus, stülpte sich die lauwarmen Socken über und schlüpfte in die neuen Stiefel. Da diese zu groß waren, ergänzte er sein Fußkleid um die kaltnassen Strümpfe, was aber auch nicht viel half, denn er rutschte mit den Füßen hin und her, wobei sich die Hacken am rauhen Stiefelleder rieben. Zunächst kein Problem, wie gesagt. Als er aber vom Büro nach Hause kam, unterwegs noch schnell Zutaten für sein Abendessen einkaufte, sich auch noch in seiner Eckkneipe mit einem Grog stärkte, da verspürte er bereits ein Stechen in beiden Hacken, das in ein Brennen überging, nachdem er sich von den Stiefel befreit hatte, und nicht wie der Schmerz eisiger Füße vorübergehen sollte. Nachdem er sich die Füße rundum wund gelaufen hatte, diese mit Salben behandelt und Pflästerchen unterschiedlichster Größe verbunden hatte, da setzte das Tauwetter ein. Seine schwarzen Schuhe standen im Büro und er saß auf seiner Couch mit einer Flasche Bier vor dem Fernseher, um sich ein Bundesligaspiel mit dem HSV anzugucken, obwohl er alles andere als ein HSV-Fan war.
Am nächsten Tag ging er dann zum letzten Mal mit diesen quälenden Stiefeln in sein Büro. Das lauige Lüftchen aus dem Mittelmeerraum hatte dem Schnee nun gänzlich den Garaus gemacht. Die bisher tiefgefrorene Hundescheiße lag häufchenweise quirlig-frisch und von besonders weicher Konsistenz an fast jedem Straßenrand und nicht nur gelegentlich, auch mitten auf dem Bürgersteig. Ahooga mußte es also passieren, daß er voll in einen solchen braunen Stinkhaufen hineintrat. Und wäre er nicht so gut bei Training und Balance, so hätte er sich bestimmt noch hingelegt, denn er rutschte auf dem Scheißmist aus, ruderte mit den Armen verzweifelt in der Luft, fand aber schnell das Gleichgewicht, um fluchend Ausschau zu halten nach einem Herrchen oder Frauchen mit Hundeseele, um dieser sein Leid zu klagen. Aber er war allein auf weiter Flur und kratzte den Hundedreck am nächsten Bordstein notdürftig ab. Im Büro angekommen zog er schnell die Stiefel aus, um sie in Richtung Papierkorb zu werfen. Da dieser aber mit zusammengeknüllten alten Zeitungen bereits übervoll war, einzelne Papierschnipsel lagen zerstreut daneben, so trumpften die Stiefel lediglich einzeln auf dem Korb auf, um sich in Richtung Garderobenständer zu verflüchtigen. Hier sollten sie noch einige Zeit liegen bleiben, obwohl von dem an ihnen haftenden Hundekot ein etwas übelverursachender Gestank ausging.