Was ist bloß mit Ian los? Teil 50: Tulls Folk-Alben

Hallo Wilfried,

selbst in unserer Gemeinsamkeit des Folk-Faibles finden sich Unterschiede: Mir gefällt „Heavy Horses“ besser als „Songs from the wood“. Zwar enthält das Album der Waldlieder einige Highlights, aber Heavy Horses finde ich durchgängiger. Die Lieder sind nicht nur sehr gut, sie reihen sich auch nahtlos aneinander zu einer Kette, von der man sich gerne einwickeln lässt. Es ist tatsächlich so: Jedes Mal, wenn ich dieses Album höre, spüre ich den Drang, auf einer englischen Farm zu leben. Das ist im Grunde Unsinn, denn auf einer englischen Farm wird es nicht anders zugehen als auf einem deutschen Bauernhof, aber ich kenne kein Lied, dass mich auf einen deutschen Bauernhof zieht. Es ist eben meine unerklärliche Vorliebe für (fast) alles Britische. Um noch einmal eine Phrase zu bemühen: Heavy Horses hat in seiner Durchgängigkeit etwas von einem Konzeptalbum.

Zu Deiner These:
Es sind unbestreitbare Tatsachen, dass Mr. Anderson kommerziell erfolgreiche Alben produziert hat und dass er auch anspruchsvollere Musikgeschmäcker bedienen kann. Nicht einmal ich nehme ihm diese „leite Kost“ übel; er hat sich schließlich für den Beruf des Musikers entschieden und muss nun damit sich, seine Familie und seine Musiker ernähren. Dieser Verantwortung wird man mit kommerziell erfolgreicher Musik besser gerecht als mit Produktionen für einige wenige Nischen. Dabei ist die „leichte Kost“, die er seinem Publikum präsentiert, kein fader Einheitsbrei, wie wir ihn in der aktuellen Popmusik beklagen müssen. Das, was für Mr. Anderson ein leichter Imbiss war, stellt für andere Künstler ein unerreichbares 4-Sterne-Menü dar.

Und tatsächlich konnte er darüber hinaus noch mehr. Das hat er mit seinen Ausflügen in die klassische Musik hinlänglich bewiesen. Allerdings vermag ich nicht zu beurteilen, woran sein Herz mehr gehangen hat, an Rock und Folk oder der Klassik und der Orchestermusik. Wie ich an früherer Stelle schon einmal geschrieben habe, wirkte Mr. Anderson während seiner Folk-Phase sehr glaubwürdig und authentisch. Dem Leben als Landmann ist er bis heute treu geblieben. Pferde, Katzen und Fans danken es ihm.

Dass Stücke wie „Thick as a Brick“ und „Passion Play“ in ihrem Bombast und ihrer Komplexität an Orchesterwerke erinnern ist auch meine Meinung. Das wird schon offensichtlich, wenn man sieht, wie viele Musiker bei den Liveauftritten auf der Bühne beschäftigt sind. Mit der 4-Mann-Besetzung einer typischen Rockband ist JT nur in der frühen Phase ausgekommen. Ich verzichte an dieser Stelle ganz bewusst auf den Hinweis, dass Queens Bohemian Rhapsody in meinen Augen ebenfalls ein Werk für Orchester darstellt.

Der Kern Deiner These besteht in der Aussage, dass die Hinwendung Mr. Andersons zur klassischen Orchestermusik nur eine logische Konsequenz und gradlinige Fortsetzung seines bisherigen Wirkens ist. Dass er jahrelang in den Fesseln der Rockmusik gefangen war und sich nun, wo er finanziell und künstlerisch einigermaßen unabhängig ist, sich aus diesen Fesseln befreit. Ob dem so ist, kann ich natürlich nicht beurteilen. Jedenfalls kann eine solche These nur im Kopf eines absolut begeisterungsfähigen Fans heranreifen (ich meine das diesmal nicht sarkastisch; verstehe es als Kompliment !).

Ich halte diese These durchaus für denkbar, sogar wahrscheinlich. Aber bei mir als geborenem Zweifler und Zyniker bleibt eine gewisse Skepsis. Mir ist diese Erlösungstheorie einfach zu hoch gegriffen, um sie auf den Businessman, Egozentriker, Diktator und Fast-Misanthropen Anderson uneingeschränkt anzuwenden.

Auf jeden Fall ist Deine These ein interessanter Aspekt, den es sich weiter zu beleuchten lohnt.

Zum Schluss noch ein Wort zu einer Künstlerin, die uns beide beeindruckt hat. Auf youtube fand ich Mitschnitte von Kate Bush – Konzerten. Das Video ist in vier etwa gleichgroße Teile zu jeweils etwa 10 Minuten aufgeteilt. Es liegt bei youtube in mehreren Versionen vor. Die beste Bild- und Tonqualität findet sich in der Version Kate Bush in Concert ¼ bis 4/4.

Neben den Konzertausschnitten werden uns Interviews und einige private Szenen aus dem Leben der Künstlerin gezeigt. Sehr sehenswert, wie ich finde. Auch Kate Bush zählt für mich zu den Musikschaffenden, die jede Form der Beachtung und Würdigung wert sind. Wenn Du also Zeit, Lust und Internetzugang hast….

Um Deine Entfernung zum Epizentrum des Rheinischen Karnevals beneide ich Dich.

Wir bleiben weiter in Verbindung.
Lockwood

09.02.2007

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Hallo Lockwood,

bevor ich zu den Folk-Alben von Jethro Tull komme, möchte ich eine Vorbemerkung los werden. Da ich ja einige Tage ‚offline’ war (richtig: war, ich habe meinen Rechner wieder, auch bei dem war das Netzteil defekt), habe ich diese u.a. genutzt, um einmal wieder in alte Schallplatten hineinzuhören. So habe ich auch ein Doppel-Album mit schottischer Folklore. Wirklich sehr schön. Bemerkenswert daran ist, dass viele Lieder einen politischen Hintergrund haben; angesichts der Geschichte Schottlands auch kein Wunder. Besonders schön ist natürlich Robert Burns’ „A Man’s A Man for A’ That“ aus dem Jahre 1795, das ich vor vielen Jahren – wie bereits vermeldet – selbst einmal vorgetragen hatte.

Burns Werke haben selbst über 200 Jahre nach seinem Tod noch immer einen großen Stellenwert in Schottland, was unter anderem auch daran gesehen werden kann, dass zur Eröffnung des schottischen Parlaments 1999 das besagte Lied gesungen wurde; siehe hierzu das Video (wer hört schon ein ganzes Parlament singen) : (siehe: Schottland 2005: Robert Burns und ‘Die Toten Hosen’)

Nun zu diesem Lied gibt es auch einen deutschen Text, ebenso politisch, von Ferdinand Freiligrath: Trotz alledem. Neben Biermann hat bzw. hatte es auch Hannes Wader im Repertoire.

Was ich damit sagen will: Folklore bzw. Folk-Musik ist im Wesentlichen sehr politisch. Dagegen sind die Folk-Alben von Jethro Tull eher rustikal. Weiter zu deiner Mail:

Ich denke, dass man auch „Songs from the Wood“ als Konzeptalbum ansehen muss. Eigentlich müsste man ‚die Frage’ anders herum stellen: Welches der Tull-Alben ist kein Konzept-Album? Mir gefällt „Songs from the Wood“ wohl deshalb besser, weil es rockiger ist (oder im Umkehrschluss zu „Heavy Horses“: weniger „blumig“). Ich denke, dass auch Ian Anderson die Lieder aus dem Wald ‚besser’ findet, dafür spricht, dass er Lieder dieses Albums öfter (auch später) auf die Bühne gebracht hat, z.B.:

Songs from the Wood, Jack-in-the-Green, Hunting Girl, Ring out, Solstice Bells, Velvet Green, The Whistler, Pibroch (Cup in Hand), wenn auch nur in einer kurzen instrumentalen Fassung. Lediglich von Cup of Wonder und Fire at Midnight gibt es kein mir bekanntes Video-Material. Von den neun Stücken „Heavy Horses“ sind vier Lieder im Video ‚überliefert’: Neben Heavy Horses sind das No Lullaby, Moths und Weathercock in einer noch sehr aktuellen Aufnahme (Lugano 2005).

Jethro Tull: Songs from the Wood (1976) Jethro Tull: Heavy Horses (1978)
Jethro Tull: Songs from the Wood (1976) Jethro Tull: Heavy Horses (1978)

Ich will „Heavy Horses“ nicht schlecht machen. Wir können ja in unserem weiteren Gedankenaustausch sicherlich näher auf dieses Album (und „Songs from the Wood“) eingehen. Dazu müsstest Du etwas zu sagen haben. Und mich würden auch die Texte näher interessieren (besonders die Waldlieder haben es wohl in sich).

Backcover zu 'Heavy Horses' von Jethro Tull (1978) - Fotografie von Shona Anderson

Zum Titelsong „Songs from the Wood“. Vielleicht weißt Du es ja längst. Der A-Capella-Gesang am Anfang ist allein Ian Anderson, nur mehrmals aufgenommen. So kam der Gesang bei Live-Auftritten an dieser Stelle vom Band, wenn die Herren Mitstreiter auch so tun, als ob … Ich bin ein ziemlich stark ausgeprägt visueller Typ. Aber auch für jeden anderen sind die vorhandenen Videoaufnahmen von diesem Stück einfach ein Hochgenuss. Zum einen der A-Capella-Chor, dann der kurze Flötenauftritt von Barriemore Barlow – und natürlich Ian Anderson, wie er die Becken am Anfang des Stücks (Peng…….Peng-Peng) und am Ende (Peng……. Peng…….Peng-Peng) zusammenschlägt. Hier lässt Monty Python grüßen …

So nebenbei: Das Moths-Video hatte unser Freund Francis bei myvideo.de eingestellt. Ja, hatte … denn wie ich jetzt feststellen musste, hat Francis sich dort verabschiedet. Kein Francis, keine Videos – auch nicht die löblichen Play back-Aufnahmen. Schade. Immerhin ist seine kleine Homepage noch vorhanden. Ich werde versuchen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Francis heißt übrigens Franz K. (erinnert mich irgendwie an Franz Kafka) und lebt in Kaufbeuren.

Apropos englische Farm: Als ich mit meinen Lieben 2005 in Schottland Urlaub machte, da waren wir auch für zwei Nächte auf einer Farm untergebracht – im kleinen Ort Keith, dort, wo Chivas Regal sein Stammhaus hat (Strathisla Distillery). Das war ziemlich rustikal dort und „Heavy Horses“ entsprechend, wenn es dort auch keine Pferde, sondern nur Kühe und Schafe gab. Wir selbst leben ja auch in fast ländlicher Idylle, denn wir brauchen nicht weit zu gehen, um nur Felder und kleine Wäldchen um uns zu haben (und Heide – ich lebe mit meiner Familie ja in der nördlichen Lüneburger Heide).

Kühe in Keith/Schottland - mit Warehouses von Chivas Regal im Hintergrund
Kühe in Keith/Schottland – im Hintergrund ‚Warehouses’ von Chivas Regal

In meiner These gehe ich zunächst einmal davon aus, dass Ian Anderson viele Elemente der schottischen Musik in seine Lieder und Stücke eingebaut hat. Bagpipe und Flöte werden zwar nicht immer synonym verwendet, oft erklingt mir aber Martins Gitarre wie ein Dudelsack. Es verwundert mich eben nicht, dass der Meister sich für die Flöte entschieden hat. Welche Band außer Jethro Tull ‚setzt’ so sehr auf das Flötenspiel?! Das hat für mich etwas mit seiner Herkunft zu tun.

Für Andersons Hinwendung zur klassischen Orchestermusik gibt es noch mindestens zwei weitere Indizien. Soviel ich weiß, hatte er auf einer Tournee zur Band auch einmal mehrere Damen (ich denke, es waren 3) auf die Bühne geladen, die in klassischen Gewändern Geige (vielleicht auch Cello) spielten. Die gute Lucia ist also nicht die erste, die mit Herrn Anderson gegeigt hat. Ich habe im Internet nach Fotos gesucht, bin aber bisher nicht fündig geworden. Es müsste aber in der Zeit von „Thick as a Brick“ und „A Passion Play“ bis maximal „War Child“ gewesen sein. Hast Du vielleicht dazu irgendwelche Infos oder Bilder? Mir erscheint es einfach so, als hätte Ian Anderson schon früher gern mit Orchestern zusammen gespielt. Damals hat es nur zu den wenigen Damen gereicht.

Ein weiteres Indiz ist die Musik selbst. Nicht nur, dass sich Tull manchmal sehr orchestral anhört oder zur Untermalung Streichersätze verwendet werden (früher von David/Dee Palmer arrangiert und von echten Violinisten und Violinistinnen eingespielt – heute künstlich, also elektronisch am Keyboard erzeugt). Ian Andersons Stücke bedienen sich zunehmend des Kontrapunktes. Es ist nicht nur, dass z.B. ein Solo auf der Flöte von der Gitarre (oder dem Keyboard) übernommen und weitergeführt wird. Oft ‚überlagern’ sich zwei (oder auch mehr) Instrumente, eine obere und eine untere ‚Stimme’, die aber auch getauscht werden können (mehrstimmige Themen). In dieser Polyphonie entfaltet sich das, was auch dem ungeübten Ohr den orchestralen Eindruck vermittelt.

Den Kontrapunkt finden wir hauptsächlich in der klassischen (Orchester-)Musik. Sicherlich gibt es dazu viele theoretische Anmerkungen (siehe Wikipedia), ich denke aber, dass ein gutes (wahrscheinlich doch: absolutes) Gehör genügt, um mit dem Kontrapunkt arbeiten zu können. An dieser Stelle stellt sich für mich aber wieder die Frage, ob Ian Anderson Noten lesen und schreiben kann. Wer eine solch komplexe Musik verfasst, kommt eigentlich ohne Notenlesen nicht mehr aus. Aber genug der Musiktheorie. Ich bin da leider selbst nur Laie.

Es ist schon erstaunlich, was das deutsche Fernsehen in früheren Tagen aufgezeichnet und gesendet hat. So erscheint wohl in keinem anderen Land Herr Anderson noch in diesen Jahren so häufig auf der Mattscheibe wie bei uns. Das ZDF hat ja wohl so viel Material (Konzertaufzeichnungen von Jethro Tull) angesammelt, dass es für eine abendfüllende DVD reicht. Ich bin gespannt darauf, obwohl ich vieles schon (aber eben in bescheidener Qualität) kenne. Und auch von Kate Bush stammt das ‚In Concert’-Material aus deutschen Landen (SWF Baden-Baden 1980). Ich habe auf die Schnelle einen Blick hineingeworfen. Der oder die das bei youtube.com ins Netz gestellt hat, hat ja noch vieles mehr zu Kate Bush bereitgestellt. Da kann man sich einen schönen Abend machen. Wenn die Ähnlichkeiten zu Jethro Tull auch nicht allzu groß sind, so gibt es doch eine Gemeinsamkeit: beide liefern ungewöhnliche Musik ab.

Nun, nächste Woche geht es ja mit dem Karneval bei Euch in die große finale Runde. Das Epizentrum mag vielleicht bei Euch sein – aber die Beben spüren wir inzwischen auch bei uns. Letztes Wochenende fand in Bremen ein Samba-Karneval statt (Umzug mit rund 50 Samba-Gruppen aus ganz Deutschland und auch aus dem näheren Ausland), in Hamburg hüpften die Jecken in venezianischen Kostümen herum (Tostedt liegt zwischen Hamburg und Bremen). Mich würde es nicht wundern, wenn einige Kollegen oder Kolleginnen am kommenden Montag bei uns mit roter Pappnase aufkreuzen.

Nun denn, lass Dich nicht verdrießen von so viel (Ange-)Heiterkeit. Komm gut durch die nächste Woche. Zuvor aber ein schönes Wochenende mit Deinen Lieben

wünscht Dir
Wilfried

P.S. Francis lebt wohl doch noch. Bei myvideo.de ist er unter Francis_Rock wieder auferstanden, wenn ich mich nicht täusche (Hat er eine Therapie gemacht? – nein, ich will nicht gehässig sein, er ist mit Sicherheit ein lieber Kerl, nicht nur, weil er ein alter Tull-Fan ist).

P.P.S. Kennst Du eigentlich die niederländische Gruppe Flairck?

15.02.2007

English Translation for Ian Anderson