Irgendwie komme ich in den letzten Monaten kaum noch zum Lesen. Endlich habe ich es geschafft und Martin Walsers letzten Roman „Angstblüte“ (erschienen Mitte des letzten Jahres) zu Ende gelesen. Zunächst zum Inhalt:
Das Telefon klingelt. Karl von Kahn, Münchner Anlageberater, gut 70 Jahre alt, erfährt von Gundi, der Frau seines besten Freundes, dass der gelähmt im Krankenhaus liegt. Als er kurz darauf an dessen Bett steht, ist er erschüttert, ihn derart sterbensmatt zu sehen. Gundi lädt Karl zu sich nach Hause ein. Lange schon war er nicht mehr in diesem Schönheitsimperium zu Gast; Kunst und Künstlichkeit berauschen ihn. Als sie ihn bittet, einen Vertrag zu unterschreiben und so den letzten Wunsch des Freundes zu erfüllen, zögert er nicht, und eine Firma ist verkauft. Doch noch am Abend desselben Tages geht es dem Freund viel besser. Ist Karl von Kahn betrogen worden? Da klingelt sein Telefon schon wieder: Er soll helfen, eine Verfilmung des „Othello“ zu finanzieren. Den Verführungskünsten der jungen Hauptdarstellerin Joni kann er sich nicht entziehen, und ein zweiter Betrugsverdacht keimt auf.
Martin Walsers neuer Roman handelt von Täuschungen, vom Aufhören müssen und vom Geld – von Wahn, Scheinheiligkeit, Freundschaft, Liebe und von einem Leben, das sich von keiner Moral hemmen lassen will, nur von sich selbst.
Wie immer, wenn ein neuer Roman von Martin Walser erscheint, sorgt dieser für Aufregung in den Rezensentenbüros und damit für eine kontroverse Debatte in Deutschlands Literaturblättern. Allein das ist immer schon einen neuen Walser wert.
Mir hat Walser immer schon gefallen und mir gefällt auch „Angstblüte“, wenn ich diesen Roman auch nicht für seinen besten halte. Allein wie er die ‚hohe Gesellschaft‘ wieder aufs Korn nimmt, diese anhand des Protagonisten Karl von Kahn seziert, lohnt das Lesen. Walser zeigt uns auf, wie hier mancherlei dem Ende entgegen geht: der Held Karl von Kahn, ein Finanzjongleur ersten Ranges, der sich unsinnig in eine viel zu junge Schauspielerin verliebt, aber auch die Gesellschaft überhaupt, in der es wie erwähnt in erster Linie um Täuschen und Getäuschtwerden geht.
Durchaus mutig finde ich auch, wie Martin Walser davon schreibt, was einige für eine „schwitzige, sabbernde Altmännerfantasie“ halten, andere für „wunderbar schamlose Altherrenerotik“. Wenn man wie ich selbst in die Jahre kommt, hat man das Thema Sexualität längst noch nicht zu den Akten gelegt.
Hier eine eher unaufgeregte und daher für mich zutreffende Rezension aus Spiegel online
Zuletzt ein kurzer Ausschnitt, in dem sich der Bruder von Karl von Kahn zu Diego, Karls Freund, äußert:
.. als er dann reich geworden war, erstarrte seine Mundpartie zusehends, sie gefror. Das war, bitte, mein Eindruck. Der Mund war jetzt eine Wucht, eine pathetische Wucht. Immer begleitet und verstärkt von einem ebenso massiven Pathosblick. Insgesamt eine Dauerdrohgrimasse. Vorher war er doch öfter lustig, manchmal sogar herzlich gewesen. Sogar zu mir. Daraus schließe ich: Reich sein macht häßlich. Das ist keine moralische, sondern eine ästhetische Erfahrung. Und daß Reichsein unanständig ist, ist auch eine ästhetische Erfahrung. Unanständiges kann vielleicht schön sein. Reichsein gehört nicht zum schönen Unanständigen, sondern zum häßlichen. Reichsein platzt andauernd aus allen Nähten. Sein Zuvielhaben dringt dem Reichen andauernd aus allen Poren. Und aus jedem Wort. Als Diego reich geworden war, kam aus seinem erfrorenen Mund kein Wort so häufig wie das Wort Brüderlichkeit. Der ehedem sportlich Freche und manchmal herzlich Kühne hatte nichts dagegen, finster pastoral zu werden. Er drohte denen, die sich weigerten, in der Brüderlichkeit das globale Heil zu erkennen. Es war, es mußte sein, das ungeheuer angeschwollene Selbstgefühl, das ihn jetzt bedrängte. Er erlebte andauernd nur noch, daß er im Recht war. Mehr im Recht als jeder andere, den er kannte. Das war die Wirkung seines Reichseins. Sein Reichsein erlebte er dann nicht mehr als Reichsein, sondern als Erfolg. Und sein Erfolg kam nicht von seinem Reichsein, sondern von ihm selbst. Das heißt, sein Rechthaben war nicht mehr zurückzuführen auf seinen Erfolg oder auf sein Reichsein, sondern ganz allein auf ihn selbst. Er, er, er selbst war im Recht. Er war das ungeheure Selbst. Das Selbst aller Selbste. Er war das Selbst selbst. Und daß ihr alle um ihn herumsitzt und ihn feiert, gibt ihm recht. Das ist der Feudalismus von heute.
Seit mindestens zweitausend Jahren wird die Geisteskraft der Besten verbraucht zur Propagierung dessen, was wir nicht sind, aber sein sollen, dieses Lügengewebe soll uns uns selbst bis zur Unfühlbarkeit entfremden. Beispiel Calvin: … reich sind wir, sofern wir dienen können und andere uns brauchen … Das ist Dein Diego, der Propagandist der Brüderlichkeit.