- Die vielbödige Hinterhältigkeit des höher gebildeten Normalmenschen. (S. 128)
Gute Manieren sind ein Ausdruck schlechten Gewissens (S. 135)
Ohne Selbstbeherrschung ist Anarchie nicht möglich. (S. 213)
Martin Walser: Jagd (suhrkamp taschenbuch 1785, 3. Auflage 2002)
Frauen sind Männern ein Rätsel. Aber fast mehr noch verstehen sie sich selbst kaum. Was veranlasst ihr Handeln, was prägt ihr Verhalten? Menschen, speziell Männer, unterscheidet man gern in die Kategorien Jäger oder Sammler. So ganz habe ich den Unterschied nicht verstanden. Beide, Jäger wie Sammler, müssen doch ‚hinaus’, um ihrem Bedürfnis entsprechend handeln zu können. Vielleicht ist der Jäger eher der Abenteurer, dem die Jagd als solches Ziel ist, während der Sammler eher der Stubenhocker ist, dem die Trophäen das Wichtigste sind.
Nachdem ich zum ersten Mal Das Schwanenhaus (Erstveröffentlichung 1980) Anfang des Jahres gelesen habe, so nahm ich mir jetzt den Roman Jagd (Erstveröffentlichung 1988) zum 2. Mal vor – der erste und zweite der drei Gottlieb Zürn-Romane von Martin Walser.
Da Gottlieb Zürn seine Unterlegenheit als Immobilienhändler erkennen mußte, überließ er seiner Frau Anna, die sich im Handel und Wandel mit den Kunden erfolgreich gezeigt hatte, den Part der größeren Einträglichkeit: Anna, das Zentrum der Familie, Ärztin, die Glaubensfähige, die Tonangebende. Es beginnt idyllisch, aber die Idylle hält nicht. Die Jagd beginnt. Als die Tochter Julia, achtzehn, verschwindet, erweist es sich, wie wenig der Familienfrieden einer war. Das Jagdmotiv, handle es sich um Lebenssituationen oder um gesellschaftliche Bereiche, wird aufs vielfältigste variiert. Sechs Frauen sind es, die diese Variationen bewirken.
(aus dem Klappentext)
Im zweiten Roman ist Gottlieb Zürn, der mit seiner Frau und den beiden jüngeren der vier Töchter in Überlingen (Ortsteil Nußdorf) am Bodensee lebt, hauptsächlich als Akquisiteur tätig und für die Zeitungsanzeigen zuständig. Dort am Bodensee haben die Zürns auch zwei Ferienwohnungen, die sie u.a. schon öfter an Helmut Halm und Frau in „Ein fliehendes Pferd“ (1978) vermietet haben. Diesmal ist es das Ehepaar Gisela und Stefan Ortlieb. Dieser Gisela („Gisi“) und ihrer paranoiden Freundin Annette Mittenzwei (sic! – der Name ist Programm) wird Gottlieb Zürn auf der Suche nach der Tochter bis nach München ‚nachjagen’. Und über das Heranschaffen von Immobilien lehrt Zürn Liliane Schönherr kennen, eine Frau, die ihren schwerkranken Mann zu pflegen hat und darüber sich vom Leben vernachlässigt fühlt. Zwar erjagt Gottlieb Zürn die Frau, aber nicht die Immobilie, deretwegen er sich in dieses amouröse Abenteuer begeben hat. Wieder ist es jener Jarl F. Kaltammer, der sich das Lebkuchenhäuschen unter den Nuß- und Kastanienbäumen in Nonnenhorn (oder wie Kaltammer selbst inseriert: „Traumhäuschen auf großem Grund unter Märchenbäumen“) unter den Nagel gerissen hat.
Übrigens: Entgegen meiner ersten Berechnung kommt das Wort Jagd und seine Variationen (Jäger, jagen) beim 2. Lesen statt achtmal sogar zwölfmal vor.
Personenliste zum Roman:
Dr. Gottlieb Zürn, Makler, Ende 50 Jahre
Anna, seine Frau
Rosa, die älteste Tochter
Magda(lena), Tochter
Julia, Tochter, 18 Jahre alt <-> Bert Diekmann
Regina, die jüngste Tochter, 15 Jahre alt
Gisela Ortlieb und
Ehemann Stefan Ortlieb (Diplom-Bibliothekar), Feriengäste aus München
Annette Mittenzwei, Freundin von Gisela Ortlieb
Liliane Schönherr, Kundin (als Verkäuferin) von Gottlieb Zürn in Frankfurt/Main
Elisabeth Stapf, genannt Lissi, Punkerin und Freundin von Julia
Dr. Kevelaer, Frauenarzt
Rudi W. Eitel, Kollege und Freund von Gottlieb Zürn
Helmut ‚Schaden’-Meier, früher Architekt, jetzt Schätzer, Freund von Gottlieb Zürn
Paul Schatz, Immobilienhändler und Konkurrent
Jarl F. Kaltammer, Immobilienhändler und Konkurrent
außerdem:
Armin, der Hund der Familie Zürn
u.a.
Und wie schon öfter an anderer Stelle erwähnt, hat Gottlieb Zürn zwei Cousins, die Walser ebenfalls literarisch bedacht hat (siehe Übersicht Hauptpersonen Romane Martin Walser als PDF) und die so mindestens in aller Kürze auch in „Jagd“ Erwähnung finden, dort heißt es:
… Was kann man mit Schmerz anfangen? Bitte, mit Lebensschmerz! Er kennt weder den ewigen Magenschmerz seines Vetters Xaver [Seelenarbeit] noch den Weltschmerz seines Vetters Franz [Franz Horn – Jenseits der Liebe und Brief an Lord Liszt], ihm tut das Leben selber weh. Nur das, sonst nichts. (S. 196)
Wie eingangs erwähnt: Männer verstehen sich selbst kaum. Diesmal gibt zwar Gottlieb Zürn kein unnötiges Geld für einen noch unnötigeren teuren Teppich aus. Dafür jagt er nach erotischen Abenteuern und ist manchmal der Jäger, aber meist doch eher der Gejagte. Seine Abenteuer enden geradezu kläglich. Was tut ‚Mann’ sich selbst nicht alles an, um auch noch im fortgeschrittenen Alter ‚männlich’ zu sein.
Der Roman stieß in den Feuilletons auf ein wenig positives Echo, weil Walser wieder einmal falsch verstanden wurde. Jörg Magenau, der Walser-Biograph, nannte „Jagd“ einen „Roman der Stagnation“ und meinte die Stagnation Walsers als Literat. Dabei hat Magenau gar nicht so Unrecht: Gottlieb Zürns Leben, trotz aller Turbulenzen in Beruf und Familie, ist mit über 50 Jahren ‚stagniert’. Da gibt es kaum noch Entwicklungsmöglichkeiten. Und selbst das, was noch geschieht, geschieht so, als wäre es ein Abschiednehmen.
Sicherlich ist das nicht Walsers bester Roman. Es ist eher wie ein Baustein, ein Teil eines Mosaiks, das aber für das Gesamtbild unerlässlich ist. Hier ist es vor allem die erotische Suche, die ‚Jagd’, der sich selbst der gesetzte Mann immer noch nicht verschließen kann.
„Die Suche nach erotischem Leben ist bei Walser eine erotische Suche nach Leben. Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust sein geheimes Motiv. Kaum einer vermag die Verwerfungen und Abgründe in den menschlichen Verhältnissen besser auszuloten als Walser.“
Volker Hage, Die Zeit