Aus Anlass des Todes von Günter Grass im April diesen Jahres las ich erneut einen seiner wichtigsten Romane: Der Butt, der 1977 erschien. Mit Fokus auf das Gebiet der Weichselmündung behandelt er auf mehreren Erzählebenen die Geschichte der Menschheit von der Jungsteinzeit bis zur Gegenwart und hier insbesondere das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Das Märchen Vom Fischer und seiner Frau ist dabei Ausgangspunkt und strukturgebendes Merkmal. Daraus entnommen der Butt, ein sprechender Fisch, den Grass als allzeitiger Berater der Männersache vorführt.
Mit der Zeugung eines Kindes beginnt der Icherzähler Günter Grass seinen Roman ‚Der Butt‘ und er beendet ihn mit der Geburt. Dazwischen, in den neun Monaten der Schwangerschaft, denen die neun Kapitel des Romans entsprechen, erzählt er seiner Frau, die er nach dem Märchen ‚Vom Fischer un syne Frau‘ Ilsebill nennt, von seinen Lebensläufen durch die Jahrhunderte.
Wie in jenem Märchen nahm seine lange Geschichte ihren Lauf an einem schönen Sommertag gegen Ende der Jungsteinzeit, als der Fischer Edek aus der Ostsee, dort wo Jahrtausende später die Stadt Danzig erstand, einen wundersamen Fisch fing, den uralten, sprechenden, allwissenden Butt. Zum Dank für die geschenkte Freiheit macht ihn der Butt unsterblich, begleitet er ihn als Mentor durch die Jahrhunderte. Vom Butt beraten, löst sich der Icherzähler aus der wärmenden Fürsorge der herrschenden Frauen, verläßt er Aua, das dreibrüstige Urweib in der Weichselmündung, vertritt er fortan die Herrschaft der Männer über die Frauen. Und doch verfällt er immer wieder dem Ewig-Weiblichen, vor allem den Kochkünsten der Frauen. Von neun Köchinnen weiß er Ilsebill zu berichten, von neun, vom Zeitgeist der jeweiligen weltgeschichtlichen Epoche bestimmten Frauen, liebenden und mörderischen, treusorgenden und herrschsüchtigen – immer neue Verwandlungen und Geschichten, Legenden, Sagen und Parabeln von Jahrhundert zu Jahrhundert. Indessen vollendet sich das Märchen vom Butt in der Gegenwart.
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, während Ilsebill vergangenen Mythen lauscht, haben drei Frauen an der Ostseeküste den Butt erneut an der Angel, muß er sich in Berlin in einer Zinkwanne vor einem feministischen Tribunal verantworten, angeklagt als Betreiber der Männersache, als Verantwortlicher für das bittere Los der Frauen von der Steinzeit bis heute.
Dieser prall und sinnlich, poetisch und frivol erzählte und von Küchendüften durchzogene Roman von der Herrschaft der Männer und der Freiheit der Frauen ist eine magisch beschworene Menschheitsgeschichte aus mythologischer Vergangenheit und realer Gegenwart, phantastische Erfindungen und wahren Geschichten ohne Ende, ein „Danziger ‚Zauberberg‘“.
(aus dem Klappentext)
- Ilsebill salzte nach. Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen, weil Anfang Oktober. Beim Essen noch, mit vollem Mund sagte sie: „Wolln wir nun gleich ins Bett oder willst du mir vorher erzählen, wie unsre Geschichte wann wo begann?“
So beginnt dieser gut 550 Seiten starke Roman, wobei der Romanbeginn 2007 zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gewählt wurde. Es geht also um Bett- und Küchengeschichten. Oft deftig das eine wie das andere. Und es geht um Männer und Frauen. Am Anfang stand das Matriarchat, eine Zeit, in der die Frauen das Sagen hatten. Aber die Männer wollten ihr ‚eigenes Ding‘. Und dank des Butts, der sich den Männern als Mentor anbot, übernahmen die Männer nach und nach das Ruder: „Das war am 3. Mai 2211 vor unserer Zeitrechnung – es soll ein Freitag gewesen sein – an einem jungsteinzeitlichen Tag“ (S. 26), als Edek, der junge Fischer, den sprechenden Plattfisch aus der Ostsee angelte.
Die Frauenbewegung war wenig von dem Roman angetan. Die Frauenzeitschrift Emma kürte Grass für sein Werk sogar zum Pascha des Monats. Heute liefe der Roman Gefahr, des Sexismus bezichtigt zu werden
Ja, es geht kaschubisch-rustikal zur Sache. Was da auf den Teller kommt, ist deftig-kräftig und verlangt einen guten Magen. Und in den Betten und Kojen fließen reichlich Körpersäfte. Am Ende kommt dann so etwas wie eine Bestandsaufnahme heraus: die Geschichte der Menschen, die durch Männer bestimmt ist, hat meist nur Krieg und Verderben hervorgebracht.
So kann und muss man Grass‘ Roman als eine Suche nach einem Dritten Weg verstehen. Ende der 60-er, Anfang der 70-er Jahre gab es die Suche nach alternativen Konzepten zu Kommunismus und Kapitalismus (Stichwort: Prager Frühling 1968). Dem Inhalt und der Thematik des Romans zufolge, könnte die von Grass gesuchte Alternative ein Mittelweg zwischen den zwei Extremen Matriarchat und Patriarchat sein. Ich denke aber, dass für Günter Grass der Dritte Weg letztendlich doch nur Illusion, nie aber eine realisierbare Option war.
Ich habe den Roman als Fischertaschenbuch 2181 – Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 101. – 150. Tausend: November 1979 – vorliegen und zum ersten Mal im Herbst 1981 gelesen. Damals habe ich mir ein kleines Personenregister angelegt, das ich hier als PDF-Datei beilege. Denn über die Jahrhunderte des erzählenden Werkes treten recht viele Personen auf. So behält man die Übersicht. Ich habe den Roman wie anfangs erwähnt anlässlich des Todes von Günter Grass erneut gelesen. Dabei habe ich mir Zeit gelassen. Es ging mir dabei wohl ähnlich wie Rolf Michaelis, der damals in der Wochenzeitschrift Die Zeit schrieb:
„Schon lange nicht mehr so Schönes gelesen. Ein Buch, mit dem man lange leben kann. Mit diesem Roman, nach dem sprechenden Plattfisch des Märchens benannt, geht es einem wie mit Menschen: Man hört zu, hört auch mal weg, ist glücklich und mal ärgerlich.“
Bei dieterwunderlich.de habe ich eine sehr ausführliche Inhaltsangabe samt Zitaten gefunden, die ich dem interessierten Leser hiermit empfehlen möchte. Zuletzt noch einige weitere Auszüge aus Rezensionen:
„Es ist die kunstvollste Verzwirnung individuellen Geschehens mit Historie, die ein Roman seit Joyce‘ ‚Ulysses‘ geleistet hat.“
Fritz J. Raddatz in Merkur
„Groß, frisch, oft überraschend, vor allem dann, wenn Grass sinnliche Sagas oder menschliche Tragödien unserer Gegenwart beschreibt, sind Sprache und phantasmagorische Phantasie dieses genialischen Erzählers.“
Joachim Kaiser in Süddeutsche Zeitung
„Ein Roman, in jeder Zeile erfüllt von praller Sinnlichkeit, voller Gerüche und auch Gestank, kraftvoll zupackend und zart, weit ausholend, ausschweifend und gebändigt.“
Kurt Lothar Tank in Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt