Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise (zum Zweiten)

Meiner gestrigen Literaturempfehlung bin ich selbst gefolgt und habe mir in einigen Stunden von Jean Paul, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern dürfen, die Erzählung Dr. Katzenbergers Badereise ‚einverleibt’. Es ist ein kleines Reclam-Bändchen aus dem Jahr 1966, das ich vor fast genau 35 Jahren (also 1978) zum ersten Mal gelesen hatte, mit gewissen Schwierigkeiten, wie ich heute noch glaube. Denn Jean Paul „erwarb sich ein reiches Wissen – doch nicht eigentlich zur Förderung seiner Gelehrsamkeit und seiner Bildung, sondern seiner Satiren, für die er hier Stoffe, Bilder, Gleichnisse fand. Er sammelte seine Lesefrüchte in vielen Bänden und erschwert manchmal den Zugang zu seinen Werken durch ein zu weit hergeholtes Material“, wie Otto Mann in einem Nachwort zu der Erzählung schreibt, die immerhin über 200 Jahre alt ist.

Jean Paul war ein Zeitgenosse Goethes und Schillers, ist aber gegenüber diesen beiden doch ziemlich dem Vergessen anheimgefallen. Ein Grund ist sicherlich dieser etwas ‚erschwerte’ Zugang zu ihm. Und Jean Paul ist herrlich altmodisch. Aber wer sich einmal in ihn vertieft, sich in ihn eingelesen hat, wird mit köstlichen Textperlen beschenkt, die heute so nirgends zu finden sind.

Nun es geht um eine so genannte Badereise eines Dr. Katzenberger nach dem Badeort Maulbronn. Eine Lustreise soll es eigentlich nicht sein, eher eine Geschäftsreise, denn er gedenkt jenen Brunnen-Arzt Strykius beträchtlich auszuprügeln, der seine drei Werke über die Blutmachung, die Missgeburten und die Wasserscheu als Rezensent geschmäht und ihn somit in seiner Ehre angegriffen hat. Seine Tochter Theoda reist mit ihm, da diese gedenkt, in Maulbronn den Bühnen-Dichter Theudobach zu begegnen.

Den Reisenden schließt sich ein Herr von Nieß an, der sich dem Leser schon sehr bald, nicht aber dem verehrten Fräulein Theoda, als eben jener Bühnen-Dichter zu erkennen gibt. Trotz vielerlei Verwicklung und mancherlei Liebeswirren finden Theudobach von Nieß und Theoda dann doch nicht zusammen, denn es tritt ein weiterer Herr Theurobach auf, ein Hauptmann und Verfasser mathematischer Abhandlungen. Dieser samt dem Töchterlein des Dr. Katzenberger werden dann ein Paar:

[…] er hielt sie an der Hand fest, blickte sie an, wollte etwas sagen, ließ aber die Hand fahren und rief: »Ach Gott, ich kann Sie nur nicht weinen sehen.« Sie eilte in einen Felsen-Talweg hinein, er folgte ihr unwillkürlich nach – da fand er sie mit dem Kopfe an eine Felsenzacke gelehnt; sie winkte ihn weg und sagte leise: »O laßt mich weinen, es fehlt mir nichts, es ist nur die dumme Musik.« – »Ich höre keine (sagte der Krieger außer sich und riß sie vom Felsen an sein Herz) – O du himmlisches, gutes Wesen, bleib‘ an meiner Brust – ich meine es redlich, muß ich von dir lassen, so muß ich zugrunde gehen.« Sie schauerte in seinen Armen, das weinende Angesicht hing wie aufgelöset seitwärts herab, die Töne drangen zu heftig ins gespaltene Herz, und seine Worte noch heftiger. »Theoda, so sagst du nichts zu mir?« – »Ach«, antwortete sie, »was hab‘ ich denn zu sagen?« und bedeckte das errötende Gesicht mit seiner Brust. – Da war der ewige Bund des Lebens zwischen zwei festen und reinen Herzen geschlossen.

aus Kapitel 40)

Die Hauptperson ist aber jener Dr. Katzenberger, ein Liebhaber von Kuriositäten, besonders von Missgeburten, die er in einer in Spiritus eingelegten Sammlung sein eigen nennt. Und so dreht sich für ihn alles um seine medizinische Wissenschaft. Von Liebesnöten hält er nicht viel:

Auch er habe sonst als Unverheirateter an Heiraten gedacht und nach der damaligen Mode angebetet – was man zu jener Zeit Adorieren geheißen –; doch sei einem Manne, der plötzlich aus dem strengen mathematisch-anatomischen Heerlager ins Kindergärtchen des Verliebens hinein gemußt, damal zumute gewesen wie einem Lachse, der im Lenze aus seinem Salz-Ozean in süße Flüsse schwimmen muß, um zu laichen. Noch dazu wäre zu seiner Zeit eine bessere Zeit gewesen – damals habe man aus der brennenden Pfeife der Liebe polizeimäßig nie ohne Pfeifendeckel geraucht – man habe von der sogenannten Liebe nirgend in Kutschen und Kellern gesprochen, sondern von Haushalten, von Sich-Einrichten und Ansetzen. So gesteh‘ er z. B. seinerseits, daß er aus Scham nicht gewagt, seine Werbung bei seiner durch die ausgesognen Maikäfer entführten Braut anders einzukleiden als in die wahrhaftige Wendung: nächstens gedenke er sich als Geburthelfer zu setzen in Pira, wisse aber leider, daß junge Männer selten gerufen würden und schwache Praxis hätten, so lange sie unverehlicht wären. – »Freilich«, setzte er hinzu, »war ich damals hölzern in der Liebe, und erst durch die Jahre wird man aus weichem Holze ein hartes, das nachhält.«

»Bei der Trennung von Ihrer Geliebten mag Ihnen doch im Mondscheine das Herz schwer geworden sein?« sagte der Edelmann. »Zwei Pfund – also halb so schwer als meine Haut – ist meines wie Ihres bei Mond- und bei Sonnenlicht schwer«, versetzte der Doktor. »Sie kamen sonach über die empfindsam Epoche, wo alle jungen Leute weinten, leichter hinweg?« fragte Nieß. »Ich hoffe«, sagt‘ er, »ich bin noch darin, da ich scharf verdaue, und ich vergieße täglich so viele stille Tränen als irgend eine edle Seele, nämlich vier Unzen den Tag; nur aber ungesehen (denn die Magenhaut ist mein Schnupftuch); unaufhörlich fließen sie ja bei heilen guten Menschen in den knochigen Nasenkanal und rinnen durch den Schlund in den Magen und erweichen dadrunten manches Herz, das man gekäuet, und das zum Verdauen und Nachkochen da liegt.«

aus (Kapitel 11)

Es ist schon etwas ekelig, wie sich der gute Dr. Katzenberger äußert. In Bad Heilbronn angekommen, interessiert ihn natürlich, bei welchen Krankheiten eine dortige Badekur Linderung verspricht:

Der Doktor hatte nämlich bei der Suppe seinen Wirt gebeten, ihn mit den verschiedenen Krankheiten bekannt zu machen, welche gerade jetzt hier vertrunken und verbadet würden. Strykius wußte, als ein leise auftretender Mann, durchaus nicht, wie er auf deutsch (zumal da außer dem eignen Namen wenig Latinität in ihm war) zugleich die Ohren seines Gastes bewirten, und die der Nachbarinnen beschirmen sollte. »Beim Essen«, sagte eine ältliche Landjunkerin, »hörte sich dergleichen sonst nicht gut.« – »Wenn Sie es des Ekels wegen meinen«, versetzte der Doktor, »so biet‘ ich mich an, Ihnen, noch ehe wir vom Tisch aufstehen, ins Gesicht zu beweisen, daß es, rein genommen, gar keine ekelhafte Gegenstände gebe; ich will mit Ihnen Scherzes halber bloß einige der ekelhaften durchgehen und dann Ihre Empfindung fragen.« Nach einem allgemeinen, mit weiblichen Flachhänden unternommenen Niederschlagen dieser Untersuchung stand er ab davon.

»Gut«, sagt‘ er, »aber dies sei mir erlaubt zu sagen, daß unser Geist sehr groß ist und sehr geistig und unsterblich und immateriell. Denn wäre dieser Umstand nicht, so wartete die Materie vor, und es wäre nicht denklich; denn wo ist nur die geringste Notwendigkeit, daß bei Traurigkeit sich gerade die Tränendrüse, bei Zorn die Gallendrüse ergießen? Wo ist das absolute Band zwischen geistigem Schämen und den Adernklappen, die dazu das Blut auf den Wangen eindämmen? Und so alle Absonderungen hindurch, die den unsterblichen Geist in seinen Taten hienieden teils spornen, teils zäumen? In meiner Jugend, wo noch der Dichtergeist mich besaß und nach seiner Pfeife tanzen ließ, da erinner‘ ich mich noch wohl, daß ich einmal eine ideale Welt gebauet, wo die Natur den Körper ganz entgegengesetzt mit der Seele verbunden hätte. Es war nach der Auferstehung (so dichtete ich); ich stieg in größter Freude aus dem Grabe, aber die Freude, statt daß sie hienieden die Haut gelinde öffnet, drückte sich droben bei mir und bei meinen Freunden durch Erbrechen aus. Da ich mich schämte wegen meiner Blöße, so wurde ich nicht rot, sondern sogenannt preußisch Grün, wie ein Grünspecht. – Beim Zorn sonderten sämtliche Auferstandne bloß album graecum ab. – Bei den zärtern Empfindungen der Liebe bekam man eine Gänsehaut und die Farbe von Gänse-Schwarz, was aber die Sachsen Gänse-Sauer nennen. – Jedes freundliche Wort war mit Gallergießungen verknüpft, jedes scharfe Nachdenken mit Schlucken und Niesen, geringe Freude mit Gähnen. – Bei einem rührenden Abschied floß statt der Tränen viel Speichel. – Betrübnis wirkte nicht wie bei uns auf verminderten Pulsschlag, sondern auf Wolf- und Ochsen-Hunger und Fieber-Durst, und ich sah viele Betrübte Leichentrunk und Leichenessen zugleich einschlucken. – Die Furcht schmeckte mit feinem Wangenrot. – Und feurige, aber zarte Zuneigung der Ehegatten verriet sich, wie jetzt unser Grausen, mit Haarbergan, mit kaltem Schweiß und Lähmung der Arme. – Ja, als …«

aus (Kapitel 24)

    Jean Paul

Es gibt vielerlei Gesprächsstoff bei den Mahlzeiten. Und als Mediziner kann er von seinem Interesse nicht lassen, alles eben aus dieser, der medizinische Sicht, zu betrachten. Die Nahrungsaufnahme selbst wird hinreichend ‚zergliedert’:

Unter dem Essen lenkte der Doktor die Rede aufs Essen und merkte an, er wundre sich über nichts mehr, als daß man, bei der Seltenheit von Kadavern und vollends von lebendigen Zergliederungen, so wenig den für die Wissenschaft benutze, in dem man selber stecke, besonders im Sommer, wo tote faulen. »Wär‘ es Ihnen zuwider, Herr Mehlhorn, wenn ich jetzo z. B. den Genuß der Speisen zugleich mit einem Genusse von anatomischen Wahrheiten oder Seelenspeisen begleitete?« – »Mit tausend Wohlgefallen, teuerster Herr Doktor«, sagt‘ er, »sobald ich nur kapabel bin, Ihrer gelehrten Zunge zu folgen.« – »Sie brauchen bloß zu meinem Sprechen zu käuen; nämlich bloß von der Käufunktion will ich Ihnen einen kleinen wissenschaftlichen Abriß geben, den Sie auf der Stelle gegen Ihre eigne, als gegen lebendiges Urbild, halten sollen. – Nun gut! – Sie käuen jetzt; wissen Sie aber, daß die Hebelgattung, nach welcher die Käumuskeln Ihre beiden Kiefern bewegen (eigentlich nur den untern), durchaus die schlechteste ist, nämlich die sogenannte dritte, d. h. die Last oder der Bolus ist in der größten Entfernung vom Ruhepunkte des Hebels; daher können Sie mit Ihren Hundzähnen keine Nuß aufreißen, obwohl mit den Weisheitzähnen. Aber weiter! Indem Sie nun den Farsch da auf Ihrem Teller erblicken: so bekommt (bemerken Sie sich jetzt) die Parotis (hier ungefähr liegend) so wie auch die Speicheldrüse des Unterkiefers Erektionen, und endlich gießt sie durch den stenonischen Gang dem Farsche den nötigen Speichel zu, dessen Schaum Sie, wie jeder andere, bloß den ausdehnenden Luftarten verdanken. Ich bitte Sie, lieber Zoller, fortzukäuen, denn nun fließet noch aus dem ductus nasalis und aus den Tränendrüsen alles nach, woraus Sie Hoffnung schöpfen, so viel zu verdauen, als Sie hier verzehren. Nach diesem Seedienst kommt der Landdienst.« –

Hier lachte der Zoller über die Maßen, teils um höflich zu erscheinen, teils das Mißbehagen zu verhehlen, womit er unter diesem Privatissimum von Lehr-Kursus alles verschlang; – gleichwohl mußt‘ er fortfahren, zu genießen. –

»Ich meine unter dem Landdienst dies: jetzt greift Ihr Trompetermuskel ein und treibt den Farsch unter die Zähne – Ihre Zunge und Ihre Backen stehen ihm bei und wenden und schaufeln hin und her – ausbeugen kann der Farsch unmöglich – auswandern ebenso wenig, weil Sie ihn mit zwei häutigen Klappen (Wangen im gemeinen Leben) und noch mit dem Ringmuskel oder Sphinkter des Mundes (dies ist nur Ihr erster Sphinkter, nicht Ihr letzter, damit korrespondierender, was sich hier nicht weiter zeigen läßt) auf das schärfste inhaftieren und einklammern – kurz der Farsch wird trefflich zu einem sogenannten Bissen, wie ich sehe, zugehobelt und eingefeuchtet. – Nun haben Sie nichts weiter zu tun (und ich bitte Sie um diese Gefälligkeit), als den fertigen Bolus in die Rachenhöhle, in den Schlundkopf abzufahren. Hier aber hört die Allmacht Ihres Geistes, mein Umgelder, gleichsam an einem Grenzkordon auf, und es kommt nun nicht mehr auf jenes ebenso unerklärliche als erhabne Vermögen der Freiheit (unser Unterschied von den Tieren) an, ob Sie den Farsch-Bissen hinunterschlucken wollen oder nicht (den Sie noch vor wenigen Sekunden auf den Teller speien konnten), sondern Sie müssen, an die Sperrkette oder Trense Ihres Schlundes geheftet, ihn nun hinabschlingen. Jetzt kommt es auf meine gütige Zuhörerschaft an, ob wir den Bissen des Herrn Zollers begleiten wollen auf seinen ersten Wegen, bis wir weiterkommen.« –

Mehlhorn, dem der Farsch so schmeckte wie Teufelsdreck, versetzte: »Wie gern er seines Parts dergleichen vernehme, brauch‘ er wohl nicht zu beschwören; aber auf ihn allein komm‘ es freilich nicht an.« – »Ich darf denn fortfahren?« sagte der Doktor. »Vortrefflicher Herr«, versetzte eine ältliche Dame, »Ihr Diskurs ist gewiß über alles gelehrt, aber unter dem Essen macht er wie desperat.«

aus (Kapitel 38)

Nun, 2013 ist ein Jean Paul-Jahr – ein Jahr, um den Dichter aus dem Oberfränkischen wieder zu entdecken. Ich würde es mir gern wünschen.

Heute Ruhetag (34): Jean Paul – Dr. Katzenbergers Badereise

2013 ist wieder so ein Jahrestag. Dieses Jahr feiern wir u.a. den 250. Geburtstag von Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, einem deutschen Schriftsteller zwischen Klassik und Romantik. Die Namensänderung geht auf Jean Pauls große Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau zurück.

Eines der bekanntesten Werke von Jean Paul ist neben ‚Flegeljahre’ und ‚Siebenkäs’ die Erzählung Dr. Katzenbergers Badereise (1809), eine Satire, in der der Autor u.a. die Zusammenhänge „zwischen Häßlich und Schön, Böse und Gut, Leib und Seele, Teufel und Gott, Endlichkeit und Unendlichkeit“ untersucht.

Der „verwittibte ausübende Arzt und anatomische Professor Katzenberger von der Universität Pira im Fürstentume Zäckingen“ sucht Gesellschaft für die Reise nach Bad Maulbronn. Schließlich meldet sich Herr Theudobach von Nieß. Katzenberger reist noch mit seiner einzigen Tochter Theoda, beabsichtigt jedoch keine Badekur, sondern macht sich geschäftlich auf den Weg. Der Maulbronner Brunnenarzt Strykius hat Katzenbergers drei Hauptwerke giftig rezensiert. Für diese Schmähungen an der Ehre will der Autor den Rezensenten „beträchtlich ausprügeln“.

Bekannt wurde ich mit diesem Buch übrigens durch die Verfilmung von Gerd Winkler 1978 für das ZDF. Darsteller: Hans Helmut Dickow, Horst Frank, Peter Lakenmacher, Jörg Pleva, Witta Pohl, Alwin Michael Rueffer und Jutta Speidel, Filmmusik: H. E. Erwin Walther.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Erste Abteilung
1. Summula – Anstalten zur Badreise.

[…] für seine Person war Katzenberger kein Liebhaber von persönlichem Umgang mit Gästen: »Ich sehe eigentlich«, sagte er, »niemand gern bei mir, und meine besten Freunde wissen es und können es bezeugen, daß wir uns oft in Jahren nicht sehen; denn wer hat Zeit? – Ich gewiß nicht.« Wie wenig er gleichwohl geizig war, erhellt daraus, daß er sich für zu freigebig ansah. Das wissenschaftliche Licht verkalkte nämlich seine edeln Metalle und äscherte sie zu Papiergeld ein; denn in die Bücherschränke der Ärzte, besonders der Zergliederer, mit ihren Foliobänden und Kupferwerken leeren sich die Silberschränke aus, und er fragte einmal ärgerlich: »Warum kann das Pfarrer- und Poetenvolk allein für ein Lumpengeld sich sein gedrucktes Lumpenpapier einkaufen, das ich freilich kaum umsonst haben möchte?« – Wenn er vollends in schönen Phantasien sich des Pastors Göze Eingeweidewürmerkabinett ausmalte – und den himmlischen Abrahams-Schoß, auf dem er darin sitzen würde, wenn er ihn bezahlen könnte – und das ganze wissenschaftliche Arkadien in solchem Wurmkollegium, wovon er der Präsident wäre –, so kannte er, nach dem Verzichtleisten auf eine solche zu teuere Brautkammer physio- und pathologischer Schlüsse, nur ein noch schmerzlicheres und entschiedeneres, nämlich das Verzichtleisten auf des Berliner Walters Präparaten-Kabinett, für ihn ein kostbarer himmlischer Abrahams-Tisch, worauf Seife, Pech, Quecksilber, Öl und Terpentin und Weingeist in den feinsten Gefäßen von Gliedern aufgetragen wurden samt den besten trockensten Knochen dazu; was aber half dem anatomischen Manne alles träumerische Denken an ein solches Feld der Auferstehung (Klopstockisch zu singen), das doch nur ein König kaufen konnte? –

Der Doktor hielt sich daher mit Recht für freigebig, da er, was er seinem Munde und fremdem Munde abdarbte, nicht bloß einem teuern Menschen-Kadaver und lebendigen Hunde zum Zerschneiden zuwandte, sondern sogar auch seiner eignen Tochter zum Erfreuen, so weit es ging.

Diesesmal ging es nun mit ihr nach dem Badorte Maulbronn, wohin er aber reisete, nicht um sich – oder sie – zu baden, oder um da sich zu belustigen, sondern sein Reisezweck war die …

2. Summula – Reisezwecke.

Katzenberger machte statt einer Lustreise eigentlich eine Geschäftreise ins Bad, um da nämlich seinen Rezensenten beträchtlich auszuprügeln und ihn dabei mit Schmähungen an der Ehre anzugreifen, nämlich den Brunnen-Arzt Strykius, der seine drei bekannten Meisterwerke – den Thesaurus Haematologiae, die de monstris epistola, den fasciculus exercitationum in rabiem caninam anatomico-medico-curiosarum [Für Leserinnen nur ungefähr übersetzt: 1. Über die Blutmachung, 2. Über die Mißgeburten, 3. Über die wasserscheu.], – nicht nur in sieben Zeitungen, sondern auch in sieben Antworten oder Metakritiken auf seine Antikritiken überaus heruntergesetzt hatte.

Indes trieb ihn nicht bloß die Herausgabe und kritische Rezension, die er von dem Rezensenten selber durch neue Lesarten und Verbesserung der falschen vermittelst des Ausprügelns veranstalten wollte, nach Maulbronn, sondern er wollte auch auf seinen vier Rädern einer Gevatterschaft entkommen, deren bloße Verheißung ihm schon Drohung war. Es stand die Niederkunft einer Freundin seiner Tochter vor der Türe.

[…]

Signatur: Jean Paul

Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise

Beitrag BR: 250. Geburtstag von Dichter Jean Paul

Heute Ruhetag (33): Kafka & der Sex (Der Proceß)

In Kafkas Der Prozess (Titel der Kritischen Ausgabe: Der Proceß) gibt es eine pikant erotische Szene, deren ‚Ende’ zwar nicht in Worte gefasst, die aber trotz ‚Ausblendung’ zu erahnen ist. Kafka und Sex? Ja! Kafka gilt als Stereotyp des „Junggesellen der Weltliteratur“. Seine Beziehungen zu Frauen waren immer geprägt von seinem inneren Konflikt, entweder eine eheliche Bindung einzugehen oder sich in selbstgewählter Askese allein dem Schreiben zu widmen. Als er an Lungentuberkulose erkrankte, begriff er die Krankheit „wohl weniger als medizinisches Hindernis der Ehe, umso mehr aber als Zeichen, als Imperativ, nicht mehr heiraten zu sollen“. (siehe auch das Video zu: 125 Jahre Franz Kafka).

Ich habe im Netz Kafkas Roman als PDF-Datei in der Kritischen Ausgabe (Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit (Hrsg.): Kritische Ausgabe. Schriften, Tagebücher, Briefe. Frankfurt am Main: S. Fischer 1982 ff.; auch bezeichnet als „Kritische Kafka-Ausgabe“ (KKA)) gefunden, den ich hiermit (erneut) vorstellen und zum Lesen empfehlen möchte.

Der wesentliche Unterschied gegenüber der von Kafkas Freund, Max Brod, 1925 herausgegebenen Ausgabe (Brod-Ausgabe) liegt in der leicht modifizierte Kapitelreihenfolge und in der Rechtschreibung (Proceß statt Prozess bzw. Prozeß – Schooß statt Schoß usw.). Man sollte wissen, dass dieser Roman erst nach Kafkas Tod veröffentlicht wurde und eine Revision durch den Autor mithin nicht erfolgte. Außerdem entstand der Roman „in nicht-linearer Abfolge. Es lässt sich nachweisen, dass Kafka zuerst das Eingangs- und das (von Brod an diese Stelle sortierte) Schlusskapitel niederschrieb und weiterhin an einzelnen Kapiteln parallel arbeitete. Kafka schrieb den Process in Hefte, die er auch für die Niederschrift anderer Texte verwendete.“ Zudem ist „Der Proceß“ unvollendet.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Der Onkel – Leni

[…]

Wie sie auf meinem Schooß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! „Nein“, antwortete Leni und schüttelte langsam den Kopf, „dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen.“ „Haben Sie eine Geliebte?“ fragte sie nach einem Weilchen. „Nein“, sagte K. „Oh doch“, sagte sie.„Ja, wirklich“, sagte K., „denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie bei mir.“ Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schooß studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn indem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf die Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. „Sie ist stark geschnürt“, sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zusehen war. „Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schließen. So große starke Mädchen wissen oft nichts anderes als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können?“ „Nein“, sagte K., „sie ist weder sanft und freundlich noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja ich habe noch nicht einmal das Bild so genau angesehn, wie Sie,“ „Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr“, sagte Leni, „sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.“ „Doch“, sagte K. „Ich nehme mein Wort nicht zurück.“ „Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein“, sagte Leni, „Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlieren oder für jemand andern z. B. für mich eintauschen würden.“ „Gewiß“, sagte K. lächelnd, „das wäre denkbar, aber sie hat einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Proceß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen.“ „Das ist kein Vorteil“, sagte Leni. „Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?“ „Einen körperlichen Fehler?“ fragte K. „Ja“, sagte Leni, „ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.“ Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. „Was für ein Naturspiel“, sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu: „Was für eine hübsche Kralle!“ Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. „Oh!“ rief sie aber sofort, „Sie haben mich geküßt!“ Eilig, mitoffenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schooß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt da sie ihm so nahe war gieng ein bitterer aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare. „Sie haben mich eingetauscht“, rief sie von Zeit zu Zeit, „sehen Sie nun haben Sie mich doch eingetauscht!“ Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. „Jetzt gehörst Du mir“, sagte sie.
(S. 143 ff.)

[…]

Autograph: Franz Kafka

Franz Kafka: Der Proceß (in der kritischen Ausgabe als PDF)

Heute Ruhetag (32): Thomas Mann – Der Zauberberg

Auf der (eher rudimentären) Liste meiner liebsten Bücher ist der Roman zu finden: Der Zauberberg von Thomas Mann, der 1924 veröffentlicht wurde, spielt in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Er handelt vom Reifeprozess des jungen Hans Castorp. Während eines siebenjährigen Aufenthalts in einem Tuberkulose-Sanatorium trifft Castorp dort Menschen, die ihn mit Politik, Philosophie, aber auch Liebe, Krankheit und Tod konfrontieren.

Es ist eine illustre Gesellschaft, in die der junge Castorp gerät. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, also vor 100 Jahren, begegnet er dem Geist der damaligen Epoche. Da ist der italienische Literat Lodovico Settembrini, ein Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnter Demokraten“, mit dem der junge Deutsche über philosophische und politische Fragen der Zeit in Berührung kommt. Oder „der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Naphta ist ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistischer Logik verpflichteter Intellektueller, von dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund Castorp vergeblich fernzuhalten versucht. In anarcho-kommunistischer Tradition strebt Naphta nach der Wiederherstellung des ‚anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands’ der Staat- und Gewaltlosigkeit, wo es ‚weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit.’ Nach Abschaffung ‚der Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums’ und ‚der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts’ sei ein totalitärer, auf Terrorismus gestützter Gottesstaat zu errichten; das Prinzip der Freiheit sei ein überlebter Anachronismus.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Und zuletzt ist der erst spät auftretende Mynheer Peeperkorn mit seinem kruden Vitalitätskult zu nennen.

Der Roman sollte „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden, geriet dann mit 800 Seiten länger als beabsichtigt. Ohne Zweifel gilt der Roman heute als einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, beleuchtet er mit Geist und Witz die Atmosphäre am Anfang des letzten Jahrhunderts.

Im Roman tritt eine Person auf, der ein Kapitel gewidmet ist und die wir in weiteren kurzen Szenen begegnen. In meinem Beitrag Herr Albin in Thomas Manns „Zauberberg“ finden wir ihn kurz beschrieben. Jede Ähnlichkeit mit mir (bis auf den Namen) ist bekanntlich rein zufällig.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Herr Albin

Drunten im Garten hob sich das Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstabe zuweilen im Windhauch. Der Himmel hatte sich wieder gleichmäßig bedeckt. Die Sonne war fort, und sogleich war es fast unwirtlich kühl geworden. Die gemeinsame Liegehalle schien voll besetzt; es herrschte Gespräch mit Gekicher dort unten.

»Herr Albin, ich flehe Sie an, legen Sie das Messer fort, stecken Sie es ein, es geschieht ein Unglück damit!« klagte eine hohe, schwankende Damenstimme. Und:
»Bester Herr Albin, um Gottes willen, schonen Sie unsere Nerven und bringen Sie uns das entsetzliche Mordding aus den Augen!« mischte sich eine zweite darein, – worauf ein blondköpfiger junger Mann, welcher, eine Zigarette im Munde, seitwärts auf dem vordersten Liegestuhl saß, in frechem Tone erwiderte:
»Fällt mir nicht ein! Die Damen werden mir doch erlauben, etwas mit meinem Messer zu spielen! Nun ja, gewiß, es ist ein besonders scharfes Messer. Ich habe es in Kalkutta einem blinden Zauberer abgekauft… Er konnte es verschlucken, und gleich darauf grub sein Boy es fünfzig Schritte von ihm entfernt aus dem Boden . . . Wollen Sie sehen? Es ist viel schärfer als ein Rasiermesser. Man braucht die Schneide nur zu berühren, und sie geht einem ins Fleisch wie durch Butter. Warten Sie, ich zeige es Ihnen näher . . .« Und Herr Albin stand auf. Ein Gekreisch erhob sich. »Nein, jetzt hole ich meinen Revolver!« sagte Herr Albin. »Das wird Sie mehr interessieren. Ein ganz verflixtes Ding. Von einer Durchschlagkraft . . . Ich hole ihn aus meinem Zimmer.«
»Herr Albin, Herr Albin, tun Sie es nicht!« zeterten mehrere Stimmen. Aber Herr Albin kam schon aus der Liegehalle hervor, um auf sein Zimmer zu gehen, – blutjung und schlenkricht,mit rosigem Kindergesicht und kleinen Backenstreifen neben den Ohren.
»Herr Albin«, rief eine Dame hinter ihm drein, »holen Sie lieber Ihren Paletot, ziehen Sie ihn an, tun Sie es mir zuliebe! Sechs Wochen haben Sie mit Lungenentzündung gelegen, undnun sitzen Sie hier ohne Überzieher und decken sich nicht einmal zu und rauchen Zigaretten! Das heißt Gott versuchen. Herr Albin, mein Ehrenwort!«

[…]

Thomas Mann: Der Zauberberg

Günter Grass: Die Blechtrommel

    Was soll ich noch sagen: Unter Glühbirnen geboren, im Alter von drei Jahren vorsätzlich das Wachstum unterbrochen, Trommel bekommen, Glas zersungen, Vanille gerochen, in Kirschen gehustet, Luzie gefüttert, Ameisen beobachtet, zum Wachstum entschlossen, Trommel begraben, nach Westen gefahren, den Osten verloren, Steinmetz gelernt und Modell gestanden, zur Trommel zurück und Beton besichtigt, Geld verdient und den Finger gehütet, den Finger verschenkt und lachend geflüchtet, aufgefahren, verhaftet, verurteilt, eingeliefert, demnächst freigesprochen. Feiere ich heute meinen dreißigsten Geburtstag und fürchte mich immer noch vor der Schwarzen Köchin – Amen.

So fasst Oskar Matzerath seine bisherige Lebensgeschichte wie ein Gebet zusammen und so steht es kurz vor dem Ende des Romans in Günter Grass’: Die Blechtrommel (S. 490 – Sonderausgabe Sammlung Luchterhand 147 – 13. Auflage 1979 – Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied).

Oskar Matzerath, der kaschubische Trommler, dürfte wohl eine der bekanntesten Romanfiguren der deutschen Nachkriegsliteratur sein. Und mit Romanen wie Martin Walsers Roman „Halbzeit“ (1960 erschienen) ist die Blechtrommel (1959) eine Art „Meilenstein“ der Literatur nach dem 2. Weltkrieg.

Zusammen mit der Erzählung „Katz und Maus“ und dem Roman „Hundejahre“ zählt „Die Blechtrommel“ zur „Danziger Trilogie“, die Günter Grass in einem Zusammenhang von Ereignissen, Figuren und Zeitumständen gestellt hat.

( ebook – german – deutsch) grass, günter – die blechtrommel by Sternenfisch

Zunächst wollte kein Verlag den Roman veröffentlicht. Und als der dann erschien, löste er in der Kritik kontroverse Diskussionen aus. So verweigerte Bremens Senat dem Autor den von einer unabhängigen Jury zugesprochenen Bremer Literaturpreis 1960. Aus heutige Sicht wenig verständlich. Der Roman verhalf immerhin der bis dahin im Ausland wenig beachteten deutschen Nachkriegsliteratur auch über die Grenzen hinweg zu Aufmerksamkeit.

In diesen Tagen habe ich den Roman wiedergelesen und mich erneut an der überbrodelnden Fabulierlust des Autors erfreut. Wer kennt sie nicht, die vier Röcke der Großmutter, mit denen der Roman beginnt, wie Oskar, wenn immer wieder die Leute versucht sind, ihm die zum 3. Geburtstag geschenkte Blechtrommel zu entreißen, alles Glas zersingt – selbst die Brillengläser der Lehrerin zum Schulbeginn. Und dann trommelt Oskar unter der Tribüne und bringt der Aufmarsch der Nationalsozialisten durcheinander. Bekannt dürfte auch die ‚Karfreitagskost’ sein, Aale, die mit Hilfe eines Pferdekopfes aus der Ostsee gefischt wurden und am Ende Oskars Mutter das Leben kosten. Der Kampf um die polnische Post und die Erschießung des Onkel Jan Bronski. Das Brausepulver, wie es zu einem erotisch gefärbten Abenteuer zwischen Oskar und Maria Truczinski wird. Dann versucht Oskar der Jesus-Figur in der Herz-Jesu-Kirche das Trommeln beizubringen. Und wie Oskar indirekt den Tod seiner Mutter und seines Onkels verursacht, so bewirkt er auch den Tod seines vermutlichen Vaters, Alfred Matzerath. Während das erste und zweite Buch des Romans in Danzig vor und während des 2. Weltkriegs spielt, so spielt das 3. Buch in Düsseldorf. Hier finden wir Oskar Matzerath in der Nachkriegszeit u.a. als Trommler der Jazz-Band „The Rhine River Three“ in dem Lokal „Zwiebelkeller“ wieder, dort wo durch das Zerschneiden von Zwiebeln die Besucher dazu gebracht werden sollen, ihren persönlichen Problemen Ausdruck zu verleihen. Kurz gesagt, im ganzen Lokal wird geweint.

Siehe auch meinen Beitrag: Oh, Ohr, geschwungen schön …

„Mit seinem … Roman (Die Blechtrommel) hat sich Grass einen Anspruch darauf erworben, entweder als satanisches Ärgernis verschrien oder aber als Prosaschriftsteller ersten Ranges gerühmt zu werden. Unserem literarischen Schrebergarten, mögen seine Rabatten sich biedermeierlich oder avanciert-tachistisch geben, zeigt er, was eine Harke ist. Dieser Mann ist ein Störenfried, ein Hai im Sardinentümpel, ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur …“ H.M. Enzensberger

Es ist natürlich bekannt, dass der Roman viele autobiografische Bezüge zum Autoren, Günter Grass, hat. Oskars Heimat Danzig ist natürlich auch die Heimat von Günter Grass gewesen – bis hin zum gemeinsamen Geburtshaus der beiden im Labesweg 13 in Danzig-Langfuhr. Dort wo Oskar trommelte, spielte auch der Autor der Blechtrommel in seiner Kindheit. Das Haus mit der Nummer 13 liegt dort an der Hertastraße: Wilhelm Graß Kfm.

Danzig-Langfuhr, Labesweg 13

Längst wurde aus Danzig Gdańsk, aus dem Stadtteil Langfuhr Wreszcz und die Straße Labesweg zur Ulica Lelewela, genauer: ul. Joachima Lelewela (Fotos von einer Bildungsreise siehe unter fo-net.de)


Danzig-Langfuhr, Labesweg 13 (Gdansk, Ulica Joachima Lelewela 13)
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Im dritten Buch des Romans, das in Düsseldorf spielt, sucht sich Oskar eine eigene Wohnung und findet ein Zimmer als Untermieter bei den Eheleuten Zeidler in der Jülicher Straße 7, wo er den Musiker Klepp kennen lernt – und auch das nächtliche Abenteuer mit der Krankenschwester Dorothea erlebt. Auch diese Adresse gibt es. Ob sie mit der im Roman übereinstimmt, vermag ich nicht zu sagen. Es fehlt heute der Hof, wo sich bei Grass Anfang der 50er Jahre das Sargmagazin befand:


Düsseldorf, Jülicher Straße 7
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Von den vier Adressen, die mir die freundlichen Leutchen in der Studentenvertretung der Akademie überlassen hatten, gab ich der Adresse: Zeidler, Jülicher Straße 7, den Vorrang, weil ich es von dort nah zur Kunstakademie hatte.

Anfang Mai, es war heiß, dunstig und niederrheinisch, machte ich mich mit genügend Bargeld versehen auf den Weg. Maria hatte mir meinen Anzug gerichtet, ich sah manierlich aus. Jenes Haus, in dessen dritter Etage Zeidler eine Dreizimmerwohnung bewohnte, stand in bröckelndem Putz hinter einer staubigen Kastanie. Da die Jülicher Straße zur guten Hälfte aus Trümmern bestand, konnte man schlecht von Nachbarhäusern und dem Haus gegenüber sprechen. Links ein mit verrosteten T-Trägern durchwachsener, Grünzeug und Butterblumen treibender Berg die einstige Existenz eines vierstöckigen Gebäudes vermuten, das sich dem Zeidlerschen Haus angelehnt hatte. Rechts war es gelungen, ein teilzerstörtes Grundstück bis zum zweiten Stockwerk wieder instandzusetzen. Doch mochten die Mittel nicht ganz gereicht haben. Es galt noch die lückenhafte, vielfach gesprungene Fassade aus poliertem schwarz-schwedischen Granit auszubessern. Der Inschrift „Begräbnisinstitut Schornemann“ fehlten mehrere, ich weiß nicht mehr welche, Buchstaben. Glücklicherweise waren die beiden, keilförmig vertieften, den immer noch spiegelglatten Granit zeichnenden Palmenzweige unbeschädigt geblieben, konnten so mithelfen, dem lädierten Geschäft eine halbwegs pietätvolle Ansicht zu geben.

Das Sargmagazin dieses schon seit fünfundsiebenzig Jahren bestehenden Unternehmens befand sich auf dem Hof und sollte mir von meinem Zimmer, das nach hinten sah, oft genug betrachtenswert sein. Den Arbeitern sah ich zu, die bei gutem Wetter einige Särge aus dem Schuppen rollten, auf Holzböcke stellten, um die Politur dieser Gehäuse, die sich alle auf mit wohlvertraute Art zum Fußende hin verjüngten, mit allerlei Mittelchen aufzufrischen.

Zeidler selbst machte auf, nachdem ich geklingelt hatte. Er stand klein, untersetzt, kurzatmig, iglig in der Tür, trug eine dickglasige Brille, verbarg die untere Gesichtshälfte hinter flockigem Seifenschaum, hielt sich rechts den Pinsel gegen die Wange, schien ein Alkoholiker und, der Sprache nach, ein Westfale zu sein.

„Wenn Ihnen das Zimmer nich gefällt, sagen Sie es gleich. Ich bin beim Rasieren und muß mir noch die Füße waschen.“

Zeidler liebte keine Umstände. Ich sah mir das Zimmer an. Es konnte mir nicht gefallen, weil es ein außer Betrieb gesetztes, zur guten Hälfte türkis-grün gekacheltes, ansonsten unruhig tapeziertes Badezimmer war. Dennoch sagte ich nicht, das Zimmer könne mir nicht gefallen. Ohne Rücksicht auf Zeidlers trocknenden Seifenschaum, auf seine ungewaschenen Füße, beklopfte ich die Badewanne, wollte wissen, ob es nicht ohne Wanne gehe, die habe doch ohnehin kein Abflussrohr.

Lächelnd schüttelte Zeidler seinen grauen Igelkopf, versuchte vergeblich mit dem Rasierpinsel Schaum zu schlagen. Das war seine Antwort, und so erklärte ich mich bereit, das Zimmer mit Badewanne für monatlich vierzig Mark zu mieten.
(S. 395 f.)

Oh, Ohr, geschwungen schön …

    Als Maria sich die weiße Mantelschürze anzog und sich hinter den Ladentisch unseres Geschäftes stellte, trug sie noch Zöpfe hinter ihren rasch durchbluteten, derb gesunden Ohren, deren Läppchen leider nicht frei hingen, sondern direkt, zwar kein unschönes Fältchen ziehend, aber doch degeneriert genug in das Fleisch überm Unterkiefer wuchsen, um Schlüsse über Marias Charakter zuzulassen. Später schwatze Matzerath dem Mädchen Dauerwellen auf: die Ohren blieben verborgen. Heute stellt Maria unter modisch kurzgeschnittenem Wuschelkopf nur die angewachsenen Läppchen zur Schau; schützt aber die kleinen Schönheitsfehler durch große, ein wenig geschmacklose Klips.
    So steht es geschrieben bei Günter Grass: Die Blechtrommel (S. 214 – Sonderausgabe Sammlung Luchterhand 147 – 13. Auflage 1979 – Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied).

Es sind Ohren, die es mir angetan haben. Ich meine weniger das Hörorgan, sondern das äußere Ohr, die Ohrmuschel. Andere gucken auf den Po oder den Busen einer Frau. Ich betrachte mir die Ohren. Wohlgeformt müssen sie sein, geradezu aerodynamisch gerundet, und Ohrläppchen sollten sie haben. Denn alle Ohren ohne oder mit festgewachsenem Läppchen – wie bei Grass’ Maria – sind die von außerirdischen Damen, ja, das ist meine Meinung: weibliche Aliens! Es sind keine „Schlüsse über den Charakter“, es sind Schlüsse über die Herkunft! Aus entfernten Galaxien kommen sie, um sich bei uns „einzuschleichen“. Ob nun mit Darwin-Höckerlein oder ohne, schaut auf die Ohrläppchen, ob sie „in das Fleisch überm Unterkiefer“ verwachsen sind oder ganz und gar ohne diese lediglich mit Knorpel enden.

Ihr wollt ein Beispiel? Natalie Portman, ihres Zeichen Schauspielerin und sicherlich eine schöne Frau – sie spielte in einem Film namens Mars Attacks! (sic!) und in den drei Folgen Starwars Episode I, II und III die Königin und spätere Senatorin Padmé Amidala vom Planeten Naboo (nochmals: sic!). Ist das nicht Beweis genug? Außerirdisch, wenn auch sonst den Menschen gleich.

Ganz anders Demi Moore. Ich meine die junge Demi Moore aus Filmen wie Ghost – Nachricht von Sam. Da ist das Ohr wunderbar wie auf einer Achterbahn geschwungen und endet in einem fleischigen, ich nenne es knubbeligen Ohrläppchen. Wunderbar!

Natalie Portman: Ohr

Demi Moore: Ohr

David Bennent: Ohr

Natalie Portman: Ohr

Demi Moore: Ohr

David Bennent: Ohr

Noch etwas anders Oskar Matzerath, ich meine David Bennent, sein Darsteller in Schlöndorffs Film. Auch im Erwachsenenalter klein geblieben, sind seine Ohren (es dürfen auch einmal männliche Ohren sein) der Inbegriff der Bodenständigkeit – auch wenn sie etwas zum Segeln einladen mögen.

Was wären wir ohne Ohren – rein optisch gesehen. Es war Vincent van Gogh, der sich ein Ohr, einen Teil des Ohres oder vielleicht doch nur das Ohrläppchen abgeschnitten hat (geklärt wurde das irgendwie nie – und vielleicht war der Übeltäter sogar Paul Gauguin, mit dem van Gogh Streit hatte). Der Vorfall gilt als erste Manifestation seiner psychischen Erkrankung: Ohrverlust als Gesichtsverlust! Ohne Ohren ist das menschliche Gesicht doch ziemlich entstellt. Wer seine Ohren nicht mag, versteckt diese gern unter wallenden Locken.

Natürlich kann ich das Antlitz eines Menschen nicht auf seine Ohren reduzieren. Ohne Nase (in einem früheren Beitrag habe ich wohl etwas zu Nasen geäußert – ganz am Schluss des Beitrags: Was ist bloß mit Ian los? Teil 16: Ians kleiner Finger), ohne Mund, ohne Augen – unvorstellbar! Aber die Ohren werden oft übersehen, einfach ignoriert. Dabei kann in ihnen soviel Anmut, geschwungene Schönheit liegen. Erst wenn sie offensichtlich fehlen, werden die meisten ihrer bewusst.

Martin Walser: Finks Krieg

Martin Walser erzählt in seinem Roman Finks Krieg von dem Konflikt um eine Stellenbesetzung in der Hessischen Staatskanzlei, der sich von 1988 bis 1994 tatsächlich zugetragen hat. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht der Leitende Ministerialrat Stefan Fink, der in der Staatskanzlei für die Verbindung zu den Kirchen zuständig ist. Als er im Zuge einer politischen Veränderung, einer Intrige, versetzt werden soll, wehrt er sich und führt, mit der Zeit immer einsamer werdend, einen langen Kampf über viele Instanzen, der Formen eines persönlichen Krieges annimmt. Je länger er diesen Kampf führt, desto mehr muß er erfahren, daß sein Krieg eben nur sein Krieg ist. Alle raten, diesen zu beenden, Fink dagegen ist der Meinung: ‚Jemand, der um sein Leben kämpft, kann nicht aufhören, um sein Leben zu kämpfen.’“
(aus dem Klappentext)

Martin Walser: Finks Krieg

Walsers Roman habe ich als Taschenbuch (Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2900 – erste Auflage 1998) vorliegen und erneut vor Weihnachten 2012 gelesen. Wie im Klappentext erwähnt bezieht sich der Roman auf einen tatsächlich zugetragenen Fall, den Fall des Rudolf Wirtz. Zum Hintergrund ist u.a. bei FOCUS Online im Artikel Schlacht der Leitz-Ordner zu lesen:

„Rudolf Wirtz, Katholik, Sozialdemokrat, seit 1970 Leitender Ministerialrat in der hessischen Staatskanzlei zu Wiesbaden, zuständig für Kontakte zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften des Landes, wurde am 23. November 1988 über seine Versetzung informiert. Der Beamte fiel beim Chef der Staatskanzlei, Staatssekretär Alexander Gauland (CDU), in Ungnade, weil sich angeblich Kirchenvertreter über ihn, Wirtz, beklagt hätten. In zwei Eilverfahren wehrte er sich erfolgreich gegen die Versetzung. Gaulands durch eine eidesstattliche Versicherung untermauerter Verdacht gegen Wirtz wurde von den Kirchen weder bestätigt noch dementiert.

Zum vorläufigen Sieg des Beamten Wirtz trug auch bei, daß sich sein vermeintlicher Nachfolger, Wolfgang Egerter (CDU), als aktives Mitglied des völkischen Witiko-Bundes entpuppte und somit als untragbar für ein Amt, das unter anderem auch mit der jüdischen Gemeinde Kontakte zu pflegen hat. Um es kurz zu machen: Die rot-grüne Opposition meldete sich zu Wort, vornehmlich in Person von Joschka Fischer. Der forderte, vergeblich, die Entlassung Gaulands, bezeichnete später sein Verhalten gegenüber Gauland aber als ‚Fehler’.

Immerhin: Der Fall Wirtz avancierte zum Politikum. Am Ende blieb der Beamte in seinem Amt, womit er sich allerdings nicht zufrieden gab. Mit juristischen Mitteln wollte Wirtz Gaulands eidesstattliche Versicherung widerlegen, die Kirchen hätten sich unzufrieden über ihn, Wirtz, geäußert. Doch das Ermittlungsverfahren gegen Gauland wurde eingestellt. Der Fall Wirtz versickerte im Sande.“

Sicherlich benötigt der Leser dieses Romans einen gewissen Nerv, denn der finksche Karriere-Fall ist eigentlich nicht die Welt. Aber es ist doch erstaunlich, wie sich Martin Walser dieses Stoffs angenommen hat und in die Rolle des Stefan Fink alias Rudolf Wirtz geschlüpft ist. Beim Erscheinen des Buchs gab es den Vorwurf, Walsers ‚Psychologie’ stimme nicht so ganz. Aber es ist ja nicht Walser, der schreibt, sondern durch ihn schreibt der Beamte Fink. Und dessen Sichtweise wird im Laufe der Zeit immer verschrobener und lässt den Ich-Erzähler Fink zunehmend von sich selbst in der dritten Person reden. Sein Monolog wird zum ‚Selbstentzweiungsgespräch’. Ein altmodischer Mann, dem es um die Ehre geht – ‚der Posten war mein Lebenswerk’ (siehe hierzu den Artikel Kohlhaas im Amt – spiegel.de).

„Sein Kampf um Rehabilitierung nimmt bald kafkaeske Züge an und erinnert an Michael Kohlhaas; bald kann Fink an nichts anderes mehr denken. Das juristisch-bürokratische wird von einem kriegerischen Vokabular abgelöst.“ (Quelle: dieterwunderlich.de)

Sitzen bleiben mußten wir am Computer und einen Artikel entwerfen für eine noch zu findende, wenn nicht sogar zu erfindende Zeitschrift. Einen Artikel gegen das System, aber das Wort System durfte nicht vorkommen. Der Linguist hatte gerügt, daß der Beamte Fink alles, wogegen er anrenne, System nenne. So aber sei die Weimarer Republik von den Nazis genannt worden. Und überhaupt habe der Beamte Fink mit Don Quijote gemeinsam, daß er Erscheinungen so lange auf bausche, bis eine Windmühle herauskomme, gegen deren mächtige Flügel er dann anrennen könne. Das System, das sei die übermächtige Windmühle des Beamten Fink. Zum Schein hatte der Beamte Fink gefragt, wie er denn den Gegner zusammenfassend bezeichnen solle. Überhaupt nicht zusammenfassend, hatte der Linguist gesagt, differenzierend, analysierend, also auseinandernehmend …
Ach ja, ach ja. Mein Gott! Wie soll jemand, der im Krieg lebt, sich verständigen mit einem, der im Frieden lebt!
Martin Walser: Finks Krieg (S. 99 f)

Die vier Kapitel des Romans:

I. Der Rausschmiss [23.11.1988]
II. Unperson
III. Distelblüten
IV. Höhengewinn mit Tractatus skatologikus [etwa: Abhandlung vom Kot] oder Cacata Charta [etwa: Scheiß-Urkunde]

Geschichtlicher Hintergrund (Landesregierung Hessen):

11. Legislaturperiode 1983-87
Wörner SPD ab Oktober 1985 mit den Grünen (u.a. J. Fischer)

12. Legislaturperiode 1987-91
Wallmann CDU mit FDP

13. Legislaturperiode 1991-95
Eichel SPD mit den Grünen

Sicherlich ist dieser Roman nicht jedermanns Sache. Vielleicht sollte man selbst die Strukturen behördlicher Einrichtungen kennen gelernt haben, um einen gewissen Geschmack an diesem Roman zu finden. Man sagt, „Gottes Mühlen mahlen langsam“ und ergänzt das dann mit: „die des Staates aber noch langsamer!“. Bürokratie – und in Übersteigerung der Bürokratismus – findet sich im Besonderen bei staatlichen Stellen und ist als Beamtenwirtschaft verschrieen. Wer in die Zwickmühle des Staates gerät, findet kaum einen Ausweg heraus. Von daher gelingt Martin Walser mit diesem Roman eine Art Lehrstück zu diesem Thema.

Stefan Fink ist sicherlich ein gesitteter Mensch. Aber mit zunehmender Zeit im Verlauf des Verfahrens ‚verroht’ er förmlich und schmeißt mit Fäkalausdrücken um sich, dass es nur so kracht. Wer könnte sich nicht selbst manchmal mit dem Beamten Fink identifizieren?!

„Seit Koeppens Treibhaus 1953 erschienen ist, hat es ein besseres Buch über das leise Verhältnis von Macht und Wahn nicht gegeben.“ Frank Schirrmacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Vorweihnachtszeit 2012 (17): Joachim Ringelnatz – Vorfreude auf Weihnachten

Jetzt geht es wirklich ‚hart’ auf Weihnachten zu. Statt die letzten Geschenke zu kaufen stürze ich mich auf die Fabrikation von Geschenkgutscheinen (es geht um Klamotten, die soll sich der ‚Beschenkte’ selbst kaufen, ich würde nur das Falsche kaufen). Ansonsten ist alles besorgt – einen Festtagsbraten gibt es bei uns schon deshalb nicht, weil der ältere meiner Söhne Veganer ist (was uns Restliche nicht davon abhalten wird, die eine oder andere ‚leichte’ fleischliche Leckerei zu genießen). Am Heiligabend werde ich morgens nur noch Brötchen einkaufen gehen …

Joachim Ringelnatz hatte ich hier bereits mit seiner Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu präsentiert. Heute, so kurz vor Weihnachten, noch ein kleines weiteres Gedicht von ihm: Vorfreude auf Weihnachten. Lassen wir in diesen Tagen wie Ringelnatz die Flämmchen am Christbaum blühen.

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Ein Kind – von einem Schiefertafel-Schwämmchen
Umhüpft – rennt froh durch mein Gemüt.

Bald ist Weihnacht! – Wenn der Christbaum blüht,
Dann blüht er Flämmchen.
Und Flämmchen heizen. Und die Wärme stimmt
Uns mild. – Es werden Lieder, Düfte fächeln. –

Wer nicht mehr Flämmchen hat, wem nur noch Fünkchen glimmt,
Wird dann doch gütig lächeln.

Wenn wir im Traum eines ewigen Traumes
Alle unfeindlich sind – einmal im Jahr! –
Uns alle Kinder fühlen eines Baumes.

Wie es sein soll, wie’s allen einmal war.

Joachim Ringelnatz: Vorfreude auf Weihnachten

Vorweihnachtszeit 2012 (13): Erich Kästner – Weihnachtslied, chemisch gereinigt

Emil Erich Kästner (1899 – 1974) war ein deutscher Schriftsteller, Drehbuchautor und Verfasser von Texten für das Kabarett, der vor allem wegen seiner humorvollen, scharfsinnigen Kinderbücher und seiner humoristischen bis zeitkritischen Gedichte bekannt geworden ist. Wie Kurt Tucholsky war er freier Mitarbeiter der Zeitschrift Die Weltbühne. Sein „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“ lässt sich auf der Melodie von „Morgen, Kinder, wird’s was geben!“ auch gesanglich anstimmen. Ja, Morgen (in einer Woche) wird’s was geben …

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.

Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.

Lauft ein bißchen durch die Straßen!
Dort gibt’s Weihnachtsfest genug.
Christentum, vom Turm geblasen,
macht die kleinsten Kinder klug.
Kopf gut schütteln vor Gebrauch!
Ohne Christbaum geht es auch.

Tannengrün mit Osrambirnen –
Lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!
Reißt die Bretter von den Stirnen,
denn im Ofen fehlt’s an Holz!
Stille Nacht und heil’ge Nacht –
Weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht!

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Wer nichts kriegt, der Kriegt Geduld!
Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!
Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht so weit …
Ach, du liebe Weihnachtszeit!

Erich KästnerWeihnachtslied, chemisch gereinigt
(Nach der Melodie: „Morgen, Kinder, wird’s was geben!“)

Vorweihnachtszeit 2012 (9): William Butler Yeats – Die Anbetung der heiligen drei Könige

William Butler Yeats (1865 – 1939) war ein irischer Dichter. Er gilt als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. 1923 erhielt er den Literaturnobelpreis. In romantischen Stimmungsbildern schilderte er die alten Kelten und ihre Mythen, wie er sie sah. Seine Werke sind gekennzeichnet von verträumter Atmosphäre und irischer Folklore. Kein Wunder also, wenn seine Erzählung von der Anbetung der heiligen drei Könige geprägt ist von wundersamen Dingen, die das christliche Motiv in ein gälisches Märchen verwandeln.

Besonders beeindruckend finde ich den Schluss der Erzählung mit dem Gebet in gälischer Sprache – und den Gedanken, mit den drei alten Männern auch wieder den Unsterblichen begegnet zu sein. Das ist fernab des weihnachtlichen Einkaufstrubels. Dafür gönne ich mir (ähnlich den drei alten Männer: „Nacht für Nacht im Winter trugen ihnen gälische Märchenerzähler über einem Krug Whiskey alte Dichtungen vor“) abends einen wee dram of whisky … wenn’s auch kein irischer, sondern ‚nur’ ein schottischer ist (single malt versteht sich): Slàinte mhath!

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Nicht lange nach meiner letzten Begegnung mit Aherne war es, als ich spät nachts, in meine Bücher vertieft, ein leises Klopfen an meiner Haustür vernahm. An der Schwelle fand ich drei sehr alte Männer mit dicken Stöcken in den Händen, die sagten, es sei ihnen mitgeteilt worden, daß ich auf sei und daß ich bereit sei, und sie hätten mir wichtige Dinge zu sagen.

[…]

Das ist alles, was mir die Alten erzählt haben, und wenn ich mich ihrer Rede und ihres Schweigens entsinne, ihres Kommens und Gehens, dann bin ich fast überzeugt, ich hätte, wenn ich nach ihnen das Haus verlassen, keine Fußspuren im Schnee gefunden. Nach allem, was ich oder irgend jemand hierüber sagen kann, mögen sie selber Unsterbliche gewesen sein, unsterbliche Dämonen, gekommen, um meinem Geiste eine unwahre Geschichte einzugeben, zu einem Zweck, den ich nicht kenne. Wer immer sie gewesen sein mögen, sicherlich habe ich einen Weg eingeschlagen, der mich von ihnen und der Chymischen Rose entfernen wird. Nicht länger mehr lebe ich ein sorgfältiges und hochmütiges Leben, sondern bin bestrebt, mich unter den Gebeten und den Sorgen der Menge zu verlieren. Am liebsten bete ich in den Kirchen der Armen, wo grobe Kittel mich streifen, wenn ich niederknie; und wenn ich ein Stoßgebet gegen die bösen Geister verrichte, dann wiederhole ich ein Gebet, das, ich weiß nicht vor wieviel Jahrhunderten, gelispelt worden, um irgendeinem gälischen Mann oder einer Frau beizustehen, die an einem Leiden gleich dem meinen gelitten.

Seacht b-páidreacha fó seacht
Chuir Muire faoi n-a Mac,
Chuir Brighid faoi n-a brat,
Chuir Dia faoi n-a neart
Eidir sinn ’san Sluagh Sidhe
Eidir sinn ’san Sluagh Gaoith.

Sieben Patres siebenmal
Senden Marien durch ihren Sohn,
Senden Brigitt durch den Mantel,
Senden Gott durch seine Kraft
Zwischen uns und die Zauberschar,
Zwischen uns und die luftgen Geister.

William Butler Yeats: Die Anbetung der heiligen drei Könige (aus: Erzählungen und Essays)

Vorweihnachtszeit 2012 (8): Joachim Ringelnatz – Die Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu

Bevor Joachim Ringelnatz (eigentlich Hans Gustav Bötticher) eine Laufbahn als Kabarettist und Schriftsteller begann, war er als Seemann unterwegs. Meist mit weniger guten Erfahrungen. Aber daraus resultiert eine Kunstfigur, die des Seebären Kuttel Daddeldu, die Hauptfigur in diversen schwarzhumorigen Balladen und Moritaten von Ringelnatz. Weihnachten kommt bei Kuttel Daddeldu auch vor, wenn auch ‚nordisch herb’, aber herzlich, wie eben bei Seeleuten üblich:

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Die Springburn hatte festgemacht
Am Petersenkai.
Kuttel Daddeldu jumpte an Land,
Durch den Freihafen und die stille heilige Nacht
Und an dem Zollwächter vorbei.
Er schwenkte einen Bananensack in der Hand.
Damit wollte er dem Zollmann den Schädel spalten,
Wenn er es wagte, ihn anzuhalten.
Da flohen die zwei voreinander mit drohenden Reden.
Aber auf einmal trafen sich wieder beide im König von Schweden.

Daddeldus Braut liebte die Männer vom Meere,
Denn sie stammte aus Bayern.
Und jetzt war sie bei einer Abortfrau in der Lehre,
Und bei ihr wollte Kuttel Daddeldu Weihnachten feiern.

Im König von Schweden war Kuttel bekannt als Krakehler.
Deswegen begrüßte der Wirt ihn freundlich: »Hallo old sailer!«
Daddeldu liebte solch freie, herzhafte Reden,
Deswegen beschenkte er gleich den König von Schweden.
Er schenkte ihm Feigen und sechs Stück Kolibri
Und sagte: »Da nimm, du Affe!«
Daddeldu sagte nie »Sie«.
Er hatte auch Wanzen und eine Masse
Chinesischer Tassen für seine Braut mitgebracht.

Aber nun sangen die Gäste »Stille Nacht, Heilige Nacht«,
Und da schenkte er jedem Gast eine Tasse
Und behielt für die Braut nur noch drei.
Aber als er sich später mal darauf setzte,
Gingen auch diese versehentlich noch entzwei,
Ohne daß sich Daddeldu selber verletzte.

Und ein Mädchen nannte ihn Trunkenbold
Und schrie: er habe sie an die Beine geneckt.
Aber Daddeldu zahlte alles in englischen Pfund in Gold.
Und das Mädchen steckte ihm Christbaumkonfekt
Still in die Taschen und lächelte hold
Und goß noch Genever zu dem Gilka mit Rum in den Sekt.
Daddeldu dacht an die wartende Braut.
Aber es hatte nicht sein gesollt,
Denn nun sangen sie wieder so schön und so laut.
Und Daddeldu hatte die Wanzen noch nicht verzollt,
Deshalb zahlte er alles in englischen Pfund in Gold.

Und das war alles wie Traum.
Plötzlich brannte der Weihnachtsbaum.
Plötzlich brannte das Sofa und die Tapete,
Kam eine Marmorplatte geschwirrt,
Rannte der große Spiegel gegen den kleinen Wirt.
Und die See ging hoch und der Wind wehte.

Daddeldu wankte mit einer blutigen Nase
(Nicht mit seiner eigenen) hinaus auf die Straße.
Und eine höhnische Stimme hinter ihm schrie:
»Sie Daddel Sie!«
Und links und rechts schwirrten die Kolibri.


Blick in die Mattentwiete/Hamburg

Die Weihnachtskerzen im Pavillon an der Mattentwiete erloschen.
Die alte Abortfrau begab sich zur Ruh.
Draußen stand Daddeldu
Und suchte für alle Fälle nach einem Groschen.
Da trat aus der Tür seine Braut
Und weinte laut:
Warum er so spät aus Honolulu käme?
Ob er sich gar nicht mehr schäme?
Und klappte die Tür wieder zu.
An der Tür stand: »Für Damen«.

Es dämmerte langsam. Die ersten Kunden kamen,
Und stolperten über den schlafenden Daddeldu.

Joachim RingelnatzDie Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu