Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Vorweihnachtszeit 2012 (7): Günter Grass – Advent

Heute feiern wir bereits den 2. Advent. In dieser Vorweihnachtszeit lese ich Das Weihnachtsbuch, das mit alten und neuen Geschichten, Gedichten und Liedern aufwartet, die Besinnliches, aber auch manch Kritisches enthalten.

Mit ‚Krieg im Kinderzimmer’ könnte man Günter Grass’ Gedicht „Advent“ betiteln. Grass, der erst in diesem Jahr mit einem Israel-kritischen Gedicht („Was gesagt werden muss“) für Aufregung sorgte. Aus welchem Grund auch immer erinnert mich das Gedicht „Advent“, wenn auch mit einem Augenzwinkern mehr, an Weihnachten bei Hoppenstedts von Loriot.

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Wenn Onkel Dagobert wieder die Trompeten vertauscht
und wir katalytisches Jericho mit Bauklötzen spielen,
weil das Patt der Eltern
oder das Auseinanderrücken im Krisenfall
den begrenzten Krieg,
also die Schwelle vom Schlafzimmer zur Eskalation,
weil Weihnachten vor der Tür steht,
nicht überschreiten will,
wenn Onkel Dagobert wieder was Neues,
die Knusper-Kneißchen-Maschine
und ähnliche Mehrzweckwaffen Peng! auf den Markt wirft,
bis eine Stunde später Rickeracke . . . Puff . . . Plops!
der konventionelle, im Kinderzimmer lokalisierte Krieg
sich unorthodox hochschaukelt,
und die Eltern,
weil die Weihnachtseinkäufe
nur begrenzte Entspannung erlauben,
und Tick, Track und Trick,
das sind Donald Ducks Neffen, –
wegen nichts Schild und Schwert vertauscht haben,
ihre gegenseitige, zweite und abgestufte,
ihre erweiterte Abschreckung aufgeben,
nur noch minimal flüstern, Bitteschön sagen,
wenn Onkel Dagobert wieder mal mit den Panzerknackern
und uns, wenn wir brav sind, doomsday spielt,
weil wir alles vom Teller wegessen müssen,
weil die Kinder in Indien Hunger haben
und weniger Spielzeug und ABC-Waffen,
die unsere tägliche Vorwärtsverteidigung
vom Wohnzimmer bis in die Hausbar tragen,
in die unsere Eltern das schöne Kindergeld stecken,
bis sie über dreckige Sachen lachen,
kontrolliert explodieren
und sich eigenhändig,
wie wir unseren zerlegbaren Heuler,
zusammensetzen können,
wenn ich mal groß und nur halb so reich
wie Onkel Dagobert bin,
werde ich alle Eltern, die überall rumstehen
und vom Kinder anschaffen und Kinder abschaffen reden,
mit einem richtigen spasmischen Krieg überziehen
und mit Trick, Track und Tick, –
das sind die Neffen von Donald Duck,
eine Familie planen,
wo bös lieb und lieb bös ist
und wir mit Vierradantrieb in einem Land-Rover
voller doll absoluter Lenkwaffen
zur Schule dürfen,
damit wir den ersten Schlag führen können;
denn Onkel Dagobert sagt immer wieder:
Die minimale Abschreckung hat uns bis heute, –
und Heiligabend rückt immer näher, –
keinen Entenschritt weiter gebracht.

Günter Grass: Advent
Aus: Gedichte und Kurzprosa © Steidl Verlag, Göttingen 1993/2007

Vorweihnachtszeit 2012 (3): Martin Walser: Überredung zum Feiertag

Von der rechten ‚Weihnachtsstimmung’ schrieb ich erst vorgestern: Weihnachtliche Stimmung ist nicht immer frei von Sentimentalität, also von Rührseligkeit oder gar Gefühlsduselei (auch das sind ‚schöne’ deutsche Wörter). Daher graut es manchem vor dem ‚Fest’.

Auch Martin Walser graut es. Ihm kommen ‚zwiespältige Empfindungen’ und er muss zum Feiertag geradezu überredet werden. Dafür nimmt er auch schon ’mal ein Blatt vor den Mund.

Im besagten Das Weihnachtsbuch findet sich ein kleiner Text von Martin Walser, der übrigens bereits in der Ausgabe der Süddeutsche Zeitung vom 22./23.12.1962 erstveröffentlicht wurde – und dann noch einmal im Neuen Deutschland vom 23.12.2009 zu finden war (und auch als kleines Hörbuch erhältlich ist).

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Ich sage mir: Nimm ein Blatt vor den Mund, die Feiertage nahen.

Ich sage mir: Mach, was du willst, Edelrauhreif fällt gezielt auch auf den sprödesten Fleck, das Klima ist teuer präpariert, mach, was du willst: Es weihnachtet sehr. Zögere, ganz zuletzt schlüpfst du doch noch in eine Rolle. Es muß ja nicht gleich das am meisten getragene Drogistenlächeln sein. Schau einen Winterbaum an, beachte den durchdringenden Ernst, mit dem er auf dürren Zweigen Schnee trägt, als ginge ihn der was an. Mach, was du willst, du wirst mitmachen. Schließlich sind das deine Festspiele. Ich sage mir: Wer jetzt eine Großmutter hat oder ganz kleine Kinder, der hat Glück, der hat rasch eine Rolle. Gib dir feierlich Mühe, sag ich mir. Dazu stehen ja die Feiertage mit hohen Wänden im Wind als Vitrinen auf Zeit, daß wir in angestrengter Gelassenheit darin spielen, für uns, für den beliebten Himmel, oder bloß so, daß gespielt wird. Am Ende hat jedes Jahr seine gefürchteten Feiertage verdient. Die Schneegrenze sinkt ins Tal, Maiwege sind nur noch mit Ketten befahrbar, nun rück schon zusammen mit allen, der traurige Gemeinplatz wärmt auch dich. Schellengeläut der Erinnerung und so. Taube Nüsse, Wehmut, der Geruch der Jahrzehnte. Lach doch mit. Das ganze Jahr flüssiger Maskenwechsel, jetzt wird dir doch nicht zuletzt noch das Gesicht ausgehen für ein bißchen Kerzengerechtigkeit. Und ist denn das gar nichts, wenn dir im Halse das Silberglöcklein wächst, die Kerze dir fünfsterniges Edelweiß auf dem Zahnschmelz züchtet und in deinen Ohrgängen Chöre nisten, daß es dich vor inwendigem Brausen auf die Zehenspitzen hebt. Du kannst sogar ausführlich von Liebe reden. Das ist das rechte Wort für diese Festspiele. Das hat Kunstcharakter, darin klirrt Leistung. Denk, was das Ballett der schieren Natur abringt. Trau dir was zu. Ganz positiv. So richtig in Rechtshändermanier. Tu, als könntest du momentan nicht anders. Wähl also Liebe, wähl Heimlichkeit, furchigen Ernst, wähl einen weißen Bart oder verhalten flackernde Würde, beobachte die Wirkung, und dein Lampenfieber ist weg. Du spielst dich frei, und ringsum verfallen die Glocken sofort in wildfröhliches Läuten.

Ich sage mir: Was soll dir jetzt Asien? Vergiß doch Asien. Vergiß alle möglichen Brüder. Ausgerechnet zur hohen Festspielzeit fällt es dir ein, den Christenmenschen zu spielen, dem sein Punsch nicht schmeckt, weil andere noch immer kein gutes Wasser haben. Überhaupt, wenn du an Christus denkst, hört sich sowieso alles auf. Dann können wir einpacken. Hübsch barbarisch-kultivierte Feiertage, mehr ist nicht drin. Falls zwiespältige Empfindungen dich stören, bleib schön irdisch, bleib hart. Keine christlichen Anfechtungen. Du willst am Leben bleiben und deine Anzüge selber tragen. Das ist schon eine Welt, in der man sich wegen eines so schlichten Vorsatzes gleich Gewissensbisse einbilden muß zur eigenen Beruhigung.

Zum Beispiel – nein, bitte keine Beispiele. Daß das Fräulein im fünften Stock besonders kalte Füße hat und irgendwo einen Pilz, ist ja auch kein Beispiel. Die Misere blüht so gut wie die Riviera. Darum haben wir doch die Vitrinen. Also Vorsicht. Sonst zieht es gleich, und die Feiertage kriegen die Schwindsucht. Bewegungen nur wie am Steuer eines Autos auf Glatteis. Und allen Mitspielern einen um Beschränktheit bemühten Verschwörerblick. Wir wollen Feiertag spielen, auch wenn uns auf blankem Eis Asche und Asche serviert wird. Daß Regen als Schnee fällt zur Zeit, ist kalkuliert. Wer ein Glas hebt, zerbricht es, vielleicht. Aber wenn du dann trotz allem deinem Freund übern Kopf streichst, beherrsche dich, zähl nicht seine Haare. Wir kommen sonst einfach nicht in die richtige Stimmung. Zuletzt müssen wir die Feiertage noch abblasen mit Trompeten aus Himmelsrichtungsschrott. Wenn aber jeder weiß, er ist ein ungesunder Elefant, dann wird schon ein Zauber mäßig gelingen. Viel Musik, wenig Text.

Den Blick starr auf die Kerze. Bis sie qualmt. Dann dürfte es ohnehin spät genug sein, Zeit, das Blatt wieder vom Mund zu nehmen.

Vorweihnachtszeit 2012 (2): Maxim Gorki: Von einem Knaben und einem Mädchen, die nicht erfroren sind

Im bereits erwähnten Das Weihnachtsbuch: Mit alten und neuen Geschichten, Gedichten und Liedern (insel taschenbuch it 46) herausgegeben von Elisabeth Borchers – Insel Verlag 1973, das ich als 10. Auflage – 253.-262 Tausend 1980 vorliegen habe, gibt es eine kleine Erzählung von Maxim Gorki, die etwas Herzerfrischendes innehat (siehe online weitere Erzählungen und Bühnenstücke vom Maxim Gorki)

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Die Erzählung beginnt in einem spöttischen Ton und nimmt dabei die Massenproduktion von Weihnachtserzählungen, die mit kalendarischer Regelmäßigkeit in russischen Provinzzeitungen erschienen sind, aufs Korn:

In den Weihnachtserzählungen ist es von alther üblich, jährlich mehrere arme Knaben und Mädchen erfrieren zu lassen. Der Knabe oder das Mädchen einer angemessenen Weihnachtserzählung steht gewöhnlich vor dem Fenster eines großen Hauses, ergötzt sich am Anblick des brennenden Weihnachtsbaumes in einem luxuriösen Zimmer und erfriert dann, nachdem es viel Unangenehmes und Bitteres empfunden hat.

Ich verstehe die guten Absichten der Autoren solcher Weihnachtserzählungen, ungeachtet der Grausamkeit, welche die handelnden Personen betrifft; ich weiß, daß sie, diese Autoren, die armen Kinder erfrieren lassen, um die reichen Kinder an ihre Existenz zu erinnern; aber ich persönlich kann mich nicht dazu entschließen, auch nur einen einzigen Knaben oder ein armes Mädchen erfrieren zu lassen, auch zu solch einem sehr achtbaren Zweck nicht. Ich selbst bin nicht erfroren und bin auch nicht beim Erfrieren eines armen Knaben oder armen Mädchens dabeigewesen und fürchte, allerhand lächerliche Dinge zu sagen, wenn ich Empfindungen beim Erfrieren beschreibe, und außerdem ist es peinlich, ein lebendes Wesen erfrieren zu lassen, nur um ein anderes lebendes Wesen an seine Existenz zu erinnern.

Das ist es, weshalb ich es vorziehe, von einem Knaben und einem Mädchen zu erzählen, die nicht erfroren sind. (S. 74f.)

Er folgt die Erzählung der kleinen „Helden – arme Kinder: der Knabe Mischka Pryschtsch und das Mädchen Katjka Rjybaja.“

„Die ‚Weihnachtserzählung’ (Untertitel) von Maksim Gorki, zuerst erschienen in der Zeitung ‚Nizhegorodskij listok’, 1894, 25. Dezember, ist ein interessantes Beispiel für die Frische und Originalität der Erzählweise Gorkis in der ersten Periode seines Schaffens. Vieles ist dort unverkennbar Gorki: der ‚gewiefte Frechdachs’ (opytnyj prostrelenok) Mischka, ein kindliches Exemplar des Bosjaken (Barfüßers) und des Ozornik (Unruhestifters); seine weniger mutige kleine Gefährtin Katjka, die ihn glühend bewundert, und ebenso ihre gemeinsame Arbeit, das mit viel Talent organisierte Handwerk des Bettelns. Das alles wird in einem humorvollen und zärtlichen Ton erzählt, der offensichtlich darauf gerichtet ist, dem Leser die Welt dieser Kinder nahezubringen, seine Rührung und Begeisterung über diese Äußerungen kindlicher Lebensfreude zu wecken und Bewunderung für ihre Fähigkeit, den grausamen Bedingungen ihrer sozialen Umgebung zu widerstehen.“ (Quelle: der-unbekannte-gorki.de)

Beide Kinder erbetteln sich an diesem Abend mehr als einen Rubel, damals viel Geld. Eigentlich müssen sie das Geld an ihre Tante abgeben. Aber an diesem Abend gönnen sie sich einige Kopeken, um sich Essen zu kaufen und in einer schmuddeligen, aber warmen Schenke bei einem Glas Tee einzukehren:

Er schüttelte den Kopf und sagte: „Nun wollen wir essen ..“ „Ja, los!“ stimmte Katjka bei, die schon längst gierige Blicke auf Brot und Wurst geworfen hatte.

Dann begannen sie ihr Abendessen zu verspeisen inmitten des feuchten, übelriechenden Dunkels der mit berußten Lampen schlecht beleuchteten Schenke, im Lärm zynischer Schimpfreden und Lieder. Sie aßen beide mir Gefühl, Verstand und Bedacht, wie echte Feinschmecker. Und wenn Katjka, aus dem Takt kommend, heißhungrig ein großes Stück abbiß, wodurch sich ihre Backen blähten und ihre Augen komisch hervortraten, brummte der bedächtige Mischka spöttisch: „Schau mal einer an, Mütterchen, wie du über das Essen herfällst!“

Das machte sie verlegen, und sie bemühte sich, beinahe erstickend, die wohlschmeckende Kost rasch zu zerkauen.

Nun, das ist auch alles. Jetzt kann ich sie ruhig ihren Weihnachtsabend zu Ende feiern lassen. Glauben Sie mir, sie werden nun nicht mehr erfrieren! Sie sind am richtigen Platz … Wozu sollte ich sie erfrieren lassen ….? Meiner Meinung nach ist es äußerst töricht, Kinder erfrieren zu lassen, welche die Möglichkeit haben, auf gewöhnliche und natürliche Weise zugrunde zu gehen. (S. 84)

Vorweihnachtszeit 2012 (1): Das Weihnachtsbuch

Spätestens mit dem heutigen Tag beginnt die Vorweihnachtszeit. Wenn man rechtzeitig die meisten der von uns erwarteten Geschenke besorgt hat, kann es eine geruhsame Zeit werden. Denn das sollte sie eigentlich sein. Statt der Hetze durch überfüllte Kaufhäuser sollte man die Ruhe suchen und finden, die unsere Seelen brauchen. Das soll nicht heißen, untätig zu sein. Wer kleine Kinder hat, sollte mit ihnen basteln. Und um leckere Kekse zu backen, geht es auch ohne Kinder. Die schmecken auch uns Größeren.

Schöne Vorweihnachtzeit 2012

Da die Tage so kurz geworden sind, laden die Abende zum Lesen ein. Es muss nicht unbedingt etwas Weihnachtliches sein. Aber um in ‚Stimmung’ zu kommen, dann vielleicht doch … Ja, Stimmung … ein schönes deutsches Wort, das mehrere Bedeutungen hat. Zum einen hat es etwas mit der Erzeugung von Sprache und Tönen zu tun, dann betrifft es Musikinstrumente (‚hauptsächlich die geigen, … welche vor allen dingen rein und sauber gestimmt seyn müssen’ – lt. Wörterbuch der Brüder Grimm) – oder bedeutet ‚in eine haltung versetzen’ (immer noch die Grimms) bzw. wie der Duden schreibt: ein bestimmter Gemütszustand … Letzteres ist gemeint. Weihnachtliche Stimmung ist nicht immer frei von Sentimentalität, also von Rührseligkeit oder gar Gefühlsduselei (auch das sind ‚schöne’ deutsche Wörter). Daher graut es manchem vor dem ‚Fest’.

Um die richtige Stimmung zu finden, empfehle ich Das Weihnachtsbuch: Mit alten und neuen Geschichten, Gedichten und Liedern (insel taschenbuch it 46) herausgegeben von Elisabeth Borchers – Insel Verlag 1973, das ich als 10. Auflage – 253.-262 Tausend 1980 im Bücherschrank neben viel anderer weihnachtlicher Lektüre stehen habe und jetzt nach langer Zeit wiederlese.

    Das Weihnachtsbuch – herausgegeben von Elisabeth Borchers

„Dies ist ein Buch zum uralten Fest, das geliebt und gefeiert, verschmäht und angefeindet wird, das Empfindungen von Sanftmut, Freude, Erinnerung oder ‚zeitgemäße Ungeduld’ aufkommen läßt. Ein legendäres Fest, das ein alter Brauch ist und von Bräuchen mißbraucht wird. Das Weihnachtsbuch enthält Texte von Abraham a Santa Clara, Walter Benjamin, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Alphonse Daudet, Günter Grass, Friedrich Hebbel, Johann Peter Hebel, Heinrich Heine, Hermann Hesse, Hölderlin, Franz Kafka, Luther, Rainer Maria Rilke, Ringelnatz, Martin Walser, Robert Walser, Oscar Wilde, W. B. Yeats u.v.a.“
(aus dem Klappentext)

Allein die Autorenliste zeigt, dass das Buch frei ist von allzu großer Gefühlsduselei. Manchmal geht es eher herbe zu – sowie ziemlich gleich am Anfang mit einem alten deutschen Weihnachtsspiel (Verfasser: unbekannt). Das ist in einem bayrischen Tonfall gehalten, ziemlich rustikal und nicht beschönigend wie es der Dialog zwischen Herodes und seinen Knechten zeigt. Es geht um den Befehl Herodes’ zum Kindermord von Bethlehem:

Spricht Herodes u.a.: Ihr Soldaten, euch befehl ich nun:
Seht im ganzen Land herum
Und tötet geschwand die Knäblein all,
Die da seind unter der anderen Jahreszahl.

[…]
Laßt euch mit Worten nicht überlisten,
Reißt ihnen die Kinder von den Brüsten,
Schlauft in alle Winkel, Ort und Eck,
Daß man vor euch kein Knaben versteck;

[usw.]

Ein erster Knecht vermeldet dann: Vollzogen haben wir diese Schlacht.
Die Kindlein sind alle umgebracht.
Wir habens zerstochen und zerhaut,
An meinem Schwerte hängt noch die Haut.

Und ein zweiter Knecht ergänzt: Wie habens gerissen aus Mutters Hand,
Wir habens geschmissen an die Wand
[…]

Worauf Herodes: Recht, das klingt meinen Ohren hold,
Ihr Knechte, gut, so hab ich’s gewollt.

Klaus Wagenbach: Kafkas Prag – Ein Reiselesebuch

    Kafka in Prag – Fotomontage von Peter Rink

Es ist nun über dreißig Jahre her, dass ich mit einem Freund Prag besucht habe. Damals waren es wahrlich noch andere Zeiten. Zlatá Praha, das goldene Prag stand bereits vor so langer Zeit für mich auch für Franz Kafka. An seinem Geburtshaus war bereits eine Gedenktafel angebracht. Ansonsten kannte ich da noch keine weitere ‚Adresse’, die ich mit Kafka in Verbindung bringen konnte.

Ich hätte noch gut 11 Jahre warten müssen, denn im Oktober 1993 erschien in der wunderbaren Buchreihe Salto in Klaus Wagenbachs eigenem Verlag ein kleines, aber wunderschönes Büchlein: Kafkas Prag – Ein Reiselesebuch. Ich selbst habe es mir 2 Jahre später gekauft (Verlag Klaus Wagenbach, Berlin – 42. Salto – 21. – 25. Tausend September 1995).

Klaus Wagenbach: Kafkas Prag – Ein Reiselesebuch

Nun Kafka hat seine Heimatstadt Prag nur selten verlassen. Als notorischer Herumtreiber, wie er sich selbst nannte, war er mit ihr bestens vertraut. Klaus Wagenbach ist ihm nachgegangen, besucht mit ihm Schule, Universität und Büro, folgt ihm über die Brücken, ins Theater, in die Cafes und Parks. Viele seiner Erzählungen bekommen so einen konkreten Hintergrund.

„Ein wunderschönes Buch, das den Kritiker verlegen macht: denn er weiß nicht, wo er mit dem Loben und Bewundern beginnen soll. Die alten Fotos sind vielleicht das Schönste – noch nie wurden sie so kenntnisreich präsentiert und so liebevoll kommentiert …
Die Genauigkeit in der Übereinstimmung von Text, Abbildungen und Stadtplänen, die Sorgfalt, mit der Wagenbach seine Stadtreis betrieben hat, ist das beste an dem Buch. Sie hebt es über andere Reisebücher weit hinaus.“
(FAZ, Reiseblatt)

Dem kann ich nur zustimmen. Das kleine Buch animiert (vielleicht nicht nur Kafka-Liebhaber) zu einer Reise in die tschechische Hauptstadt, die nicht nur geschichtsträchtig ist, sondern neben vielen Sehenswürdigkeiten durch ein pulsierendes Kulturleben besticht: Prag! Zlatá Praha!

Kafkas tatsächliche Unterschrift

Tuiavii aus Tiavea: Der Papalagi

Papalagi – wer in etwa in meinem Alter ist, der wird irgendwann einmal über dieses Buch, das angeblich die (nicht gehaltenen) Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii aus Tiavea enthält, gestolpert sein, vielleicht sogar gelesen haben. Aber wohl auch heute noch erfreut sich das Buch einer gewissen Beliebtheit: Der Papalagi

Tuiavii aus Tiavea: Der Papalagi

Der eigentliche Verfasser ist wohl Erich Scheurmann, ein deutscher Maler und Schriftsteller. 1914 erhielt dieser von seinem Verleger einen Vorschuss über 2.000 Mark für eine Südsee-Geschichte. Scheurmann fuhr nach Samoa, das zu dieser Zeit noch deutsche Kolonie war. Er wurde dort vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht und verließ Samoa 1915, um in die USA zu reisen. Dort schrieb er den fiktiven Reisebericht „Der Papalagi“, der 1920 zu ersten Mal als Buch erschien. Ich habe das Buch als eine reich illustrierte Ausgabe aus dem Tanner + Staehelin Verlag, Zürich (220.-260. Tausend November 1980 – erweiterte Neuauflage der Originalausgabe von 1920 – Felsenverlag, Buchenbach/Baden), vorliegen.

Jener Häuptling Tuiavii (was ein Titel und kein Name ist) lebte dem Buch zufolge auf der Insel Upolu in dem Dorf Ti’avea. Ich habe nachgeschaut; den Ort gibt es tatsächlich auf der Insel, die im Jahr 1899 Teil der Kolonie Deutsch-Samoa geworden war. Während des Ersten Weltkriegs wurde die Insel dann von Großbritannien besetzt.


Größere Kartenansicht
Ti’avea auf der Insel Upolu (Samoa)

Was ist der Grund für die Beliebtheit dieses Buchs? Es ist eine Zivilisationskritik in elf „Reden“, die Scheurmann jenem Südseehäuptling in den Mund legte. Dieser berichtet von seiner Reise nach Europa und warnt sein Volk vor den dort herrschenden Wertvorstellungen. Real hatte jedoch nicht ein Südsee-Häuptling Europa bereist, sondern Scheurmann das polynesische Samoa. Bei seinem in etwa einjährigen Aufenthalt auf Samoa wird er viele Gespräche mit den Einwohnern geführt und deren Lebensumstände erforscht haben, was zur Idee zu diesem Buch führte.

    Tuiavii aus Tiavea: Der Papalagi

Die „Reden“ üben ohne Zweifel einen gewissen Reiz aus, wenn sich Scheurmann auch oft einer Sprache bedient, die die Dinge umschreibt, für die es aber auf Samoa schon längst Worte gab. Aber das erhöht natürlich die romantisch geprägte Exotik dieser Zivilisationskritik. Sicherlich regen die „Reden“ uns zum Nachdenken an – über unsere Stellung in der Gesellschaft, über unser Tun und Trachten. Aber wir sollten auch bedenken, dass „im Falle des Papalagi sich Scheurmann nicht der samoanischen Gesellschaft [widmet], sondern in den europäisch geprägten Vorstellungen von der Südsee als einem Paradies auf Erden [verharrt]. Die samoanische Lebenswelt ist dem reisenden Autor keine Zeile wert, seine Augen richten sich allein auf den europäischen Alltag durch die Brille des so hellsichtigen ‚Wilden’.“ Und weiter: „Dass dieser Ethnokitsch dann immer noch so populär ist, gibt zu denken – besonders angesichts der doch selten fremdenfreundlichen Tendenzen in unserem Alltag.“ (Quelle: literaturkritik.de)

Ganz so hart mag ich mit dem Buch nicht umgeben. Scheurmanns konstruierte Perspektive des Außereuropäischen hätte sich vielleicht nicht so konkret in Person eines Samoaner finden sollen. Das ist wohl der damaligen Zeit geschuldet, die dann tatsächlich in der Südsee ein Paradies vermutete. Wahrscheinlich wird aber auch Scheurmann selbst Samoa als heile Welt empfunden haben – angesichts der Hetze der Vorkriegszeit in Europa kein Wunder.

Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität

    Man fühlt sich mitten unter lauter anderen, die an dem gleichen Defekt leiden, recht wohl; tatsächlich ist es der geistig völlig gesunde Mensch, der sich in einer geistesgestörten Gesellschaft isoliert fühlt – und er kann so sehr unter seiner Unfähigkeit, mit den anderen in Beziehung zu treten, leiden, daß er nun seinerseits psychotisch wird.
    Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität (S. 401)
    Erich Fromm

Krieg, Gewalttätigkeit, Verbrechen haben ein Ausmaß erreicht, das die Aufdeckung ihrer Ursachen zu einer Frage des Überlebens macht. Keine Lösung, allenfalls Entlastung für das schlechte Gewissen bietet die These, mit der Konrad Lorenz berühmt wurde. Er erklärte die menschliche Aggression zum Naturgesetz, zum angeborenen Trieb, der vielleicht zu kanalisieren, aber nicht zu unterbinden sei. Ihm erteilt Erich Fromm, einer der bedeutendsten Sozialpsychologen unserer Zeit, eine radikale Absage.

Fromm unterscheidet zwischen defensiver Aggression, die der Erhaltung des Lebens beim Menschen wie beim Tier dient, und einer destruktiven Lust am Quälen und Töten, die spezifisch menschlich ist. Gestützt auf die wichtigsten Daten der Neurophysiologie, Paläontologie, Anthropologie und Tierpsychologie klärt er die Grundvoraussetzungen der menschlichen Existenz. Er beschreibt detailliert – am eindringlichsten in den brillanten Studien zu Stalin, Himmler und Hitler -, aus welchen individuellen und sozialen Ursachen die Unfähigkeit, zu lieben und sich rational zu verhalten, erwächst und wie sie notwendig zu der Leidenschaft führt, Leben entweder absolut zu kontrollieren oder zu vernichten.

Die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ ist ein epochemachendes Werk von größter empirischen Sorgfalt und höchster theoretischer Originalität. Es ist eine Verteidigung der menschlichen Würde, ein wohlbegründeter Appell an die Menschheit, ihr Leben und dessen gesellschaftspolitische Bedingungen zu verändern.

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialphilosoph und Autor […] wurde 1900 in Frankfurt geboren.

Neben Marcuse, Löwenthal, Adorno, Benjamin und Pollock gehörte Fromm, nach seinem Studium in Heidelberg, Frankfurt und München und seiner Promotion 1922, zum Kreis junger Gelehrter um Max Horkheimer, zur weltbekannten „Frankfurter Schule“.

1933 ging Fromm an das Psychoanalytische Institut in Chicago und zog 1934 nach New York, wo er an der Columbia University Vorlesungen hielt.

1946 gründete er mit anderen das William Alanson White Institute […]. 1949 nahm er eine Professur an der Nationaluniversität in Mexico City an und wurde dort 1950 Ordinarius für Psychoanalyse.
(aus dem Klappentext)

1980 verstarb Erich Fromm in der Schweiz.

Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität

Erich Fromm war einer der einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts, „auch wenn er in der akademischen Welt oft unterschätzt wurde. Viele seiner Bücher wurden zu Bestsellern; seine Gedanken wurden auch außerhalb der Fachwelt breit diskutiert.“ Eines seiner wichtigsten Werke ist Anatomie der menschlichen Destruktivität, das ich als Taschenbuch (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 29. – 35. Tsd. September 1977) vorliegen und bereits 1978 zum ersten Mal gelesen habe. In meinem Beitrag Bestie Mensch habe ich mich bereits einmal auf dieses Buch bezogen.

Wer sich als Mensch verstehen will, kommt eigentlich an diesem Buch nicht vorbei. Natürlich gibt es fast 40 Jahre nach seinem Erscheinen einige Kritik, die sich auf inzwischen neue natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse beziehen. Im Ganzen bleibt aber viel auch heute noch Gültiges bestehen, das uns aufzeigt, wohin der Mensch in seiner Entwicklung ‚kommen’ kann. Fromm glaubt, das trotz der Destruktivität, trotz aller Grausamkeit auch unserer Tage, eine Änderung zum Besseren möglich ist. Was bleibt uns sonst übrig. Fromm schreibt am Schluss:

Die meisten Menschen sind schnell bereit, den Glauben an eine Vervollkommnung des Menschen als unrealistisch abzutun; aber sie erkennen nicht, daß die Verzweiflung oft genauso unrealistisch ist. Es ist einfach zu sagen: „Der Mensch war von jeher ein Mörder.“ Aber diese Behauptung ist nicht richtig, denn sie versäumt, die Kompliziertheit in der Geschichte der Destruktivität zu berücksichtigen. Ebenso leicht ist es, zu sagen: „Der Wunsch, die anderen auszubeuten, entspricht eben der menschlichen Natur“; aber auch diese Behauptung übersieht (oder verzerrt) die Tatsachen. Kurz gesagt, die Behauptung „Die menschliche Natur ist böse“ ist keine Spur realistischer als die Behauptung „Die menschliche Natur ist gut“. Aber es ist viel leichter, das erstere zu sagen; jeder, der die Schlechtigkeit des Menschen beweisen will, findet nämlich bereitwillig Zustimmung, weil er damit einem jeden ein Alibi für die eigenen Sünden bietet – und scheinbar damit nichts riskiert; und dennoch – irrationale Verzweiflung zu verbreiten ist destruktiv, wie es das Verbreiten jeder Unwahrheit ist; es entmutigt und verwirrt. Irrationalen Glauben zu predigen oder einen falschen Messias anzukündigen, ist kaum weniger destruktiv – es verführt und lähmt.

Die Haltung der Majorität ist weder die des Glaubens noch die der Verzweiflung, sondern leider die einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft der Menschheit. Wer nicht völlig gleichgültig ist, nimmt die Haltung des „Optimismus“ oder des „Pessimismus“ ein. Die Optimisten sind die Gläubigen des Dogmas vom ständigen „Fortschritt“. Sie haben sich daran gewöhnt, die menschliche Leistung mit der technischen Leistung zu identifizieren, die menschliche Freiheit mit der Freiheit vom unmittelbaren Zwang und der Freiheit des Konsumenten zur Wahl zwischen vielen, angeblich unterschiedlichen Gebrauchsgütern. […] (S. 489)

Um die Vervollkommnung des Menschen zu erreichen, muss es allerdings Änderungen in unserer Gesellschaft geben. In seinem Buch Haben oder Sein hat Fromm eine Utopie entworfen, die er Stadt des Seins nannte. Hier beschrieb er die Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft. Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität ist im Wesentlichen auch eine Kritik unserer, der vor allem auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft. Wie wahr seine Gedanken auch heute noch sind, zeigt z.B. die Rücksichtslosigkeit der Bankenbranche, die u.a. mit Lebensmittel zockt, ohne einen Gedanken an die Mitmenschen zu verlieren. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass ich das Buch von Erich Fromm, wie übrigens alle seine Bücher, empfehlen kann.

Siehe auch meine Beiträge:
Die Kunst des Liebens – zum 25. Todestag von Erich Fromm
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus

Anleitung zum Unglücklichsein – der Film

Aus gegebenem Anlass habe ich noch einmal Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein gelesen.

„Unserer Welt, die in einer Flutwelle von Anweisungen zum Glücklichsein zu ertrinken droht, darf ein Rettungsring nicht länger vorenthalten werden …. Der Sozialstaat braucht die stetig zunehmende Hilflosigkeit und das Unglücklichsein seiner Bevölkerung so dringend, daß diese Aufgabe nicht den wohlgemeinten, aber dilettantischen Versuchen des einzelnen Staatsbürgers überlassen bleiben kann. Wie in allen anderen Sparten des modernen Lebens ist auch hier staatliche Lenkung vonnöten.

Unglücklich sein kann jeder; sich unglücklich machen aber will gelernt sein, denn dazu reicht etwas Erfahrung mit ein paar persönlichen Malheurs nicht aus.“

[…] Jeder Leser dürfte etwas von sich selbst in diesem Buch wiederfinden – nämlich seine eigene Art und Weise, den Alltag unerträglich und das Triviale enorm zu machen.
(aus dem Klappentext)

    Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein

Vor vier Jahren habe ich bereits einmal einiges zu diesem Buch (Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein) geschrieben. Und auch sonst habe ich Paul Watzlawick, der nicht nur Psychoanalytiker, sondern u.a. auch ein prominenter Kommunikationswissenschaftler war (siehe die fünf Axiome der Kommunikationstheorie), hier in weiteren Beiträgen zitiert.

Eines dieser Axiome, dass jede Kommunikation eine Objekt- und eine Beziehungsebene hat, spielt auch in diesem kleinen Büchlein eine nicht unbedeutende Rolle – und in diesem Zusammenhang wird ein Mechanismus genannt, den man zurecht den Namen Illusion der Alternativen gab („Tut er A, hätte er B tun sollen, und tut er B, hätte er A tun sollen.“). Aber ich will nicht zuviel verraten, lesen … (Übrigens: Loriot war ein Meister darin, uns diese Illusion der Alternativen vor Augen zu führen …).

Was ist der Anlass, noch einmal auf Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein zurück zu kommen? Das Buch bildet sozusagen den theoretischen Rahmen für einen Film, der am 29. November 2012 in unsere Kinos kommt: Anleitung zum Unglücklichsein – der Film; da darf man gespannt sein:

Neurotisch? Verträumt? Abergläubisch? Widersprüchlich? Single? Das ist Tiffany Blechschmid (Johanna Wokalek). Sie betreibt in Berlin ein Feinkostgeschäft und wartet auf das große Glück. Aber in Tiffanys Leben folgt auf Glücksgefühle in der Regel die Katastrophe. Sie, die zuversichtlich Glückskekse in ihrem Laden verkauft, muss sich da Watzlawicksche Fragen stellen. Was heißt schon Glück? Und wieso steht man sich immer selbst im Weg? Würde sie es sehen, wenn plötzlich der Mann ihrer Träume auftaucht? Als dann ihr ehemaliger Klavierlehrer Hans Luboschinski (Richy Müller) in die Nachbarschaft zieht, sie sich zum draufgängerischen Polizisten Frank (Benjamin Sadler) hingezogen fühlt und auch noch der Fotograf Thomas (Itay Tiran) ihr Interesse weckt, ist die junge Frau ratlos. Die Tatsache, dass immer in den unpassendsten Momenten ihre tote Mutter (Iris Berben) erscheint und ungefragt Lebensweisheiten von sich gibt, macht die Sache für Tiffany auch nicht gerade einfacher.

Aus: filmstarts.de


Anleitung zum Unglücklichsein – Trailer zum Film

Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft

    „Es gibt einen stinkenden Geruch, ähnlich dem, der von Kleidungsstücken ausgeht, und einen fauligen Geruch, der weniger hervortritt, aber durch den allgemeinen Ekel, den er auslöst, unangenehmer ist als der erste. Ein dritter, den man Verwesungsgeruch nennen kann, läßt sich als eine Mischung aus Saurem, Fadem und Stinkendem beschreiben, die eher Übelkeit erregt als daß sie die Nase beleidigt; sie geht einher mit der Zersetzung und ist der widerwärtigste unter all den Gerüchen, die im Hospital anzutreffen sind. Ein weiterer Geruch, der in Nase und Augen sticht, kommt von der Unsauberkeit; man könnte meinen, die Luft enthielte etwas Pulverförmiges, und wenn man sich auf die Suche macht, findet man gewiß feuchte, verstockte Wäsche, einen Haufen Unrat oder von gärenden Miasmen verseuchte Kleider und Betten. Die verschiedenen Ansteckungsstoffe haben je eigene Ausdünstungen: die Ärzte kennen den besonderen Geruch des Brandes, den des Krebserregers und den Pesthauch, der sich bei Knochenfraß verbreitet. Doch was die Ärzte durch Erfahrung über diesen Gegenstand lernen, kann jeder erproben, wenn er nur die unterschiedlichen Gerüche in den Krankensälen vergleicht. Bei den Kindern riecht es sauer und stinkend; bei den Frauen süß und faulig; von den Schlafsälen der Männer dagegen geht ein starker, aber nur stinkender und daher längst nicht so abstoßender Geruch aus. Obwohl mehr auf Sauberkeit geachtet wird als früher, herrscht in den Krankensälen der guten Armen von Bicêtre ein fader Geruch, durch den zarte Personen schwach ums Herze wird.“
    (S. 12 – Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft – aus: Jean-Noël Hallé: Artikel „Air – Air des hôpitaux de terre et de mer“ in : Encyclopédie méthodique, Médecine, Paris 1787.)

Von diesem Buch geht ein ganz besonderer Geruch aus, pardon, eine ganz besondere Faszination: Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft – Eine Geschichte des Geruchs – Aus dem Französischen von Grete Osterwald – Verlag Klaus Wagenbach – Berlin – 9. – 12. Tausend Oktober 1984 (Original : Le Miasme et la Jonquille. L’odorat et l’imaginaire social XVIIIe – XIXe siècles – Paris 1982). Leider längst vergriffen, aber im Antiquariat bestimmt erhältlich.

Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft

Alain Corbin ist ein französischer Historiker und Hochschullehrer, der sich überwiegend mit der Geschichte Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt. Neben dieser Geschichte des Geruchs hat er auch Bücher zur Geschichte des Strandes und der Badekultur oder zur „sexuellen Gewalt in der Geschichte“ geschrieben, die sicherlich auch den interessierten Laien-Historiker lesenswert erscheinen dürfte. Mir liegt noch das Buch Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung in Frankreich des 19. Jahrhunderts vor.

Auch wenn weder ein Pesthauch noch ein Blütenduft von dem Buch ausgeht, so seien „zarte Personen“ gewarnt: Manche Beschreibung (siehe die Voranstellung) kann „schwach ums Herze“ machen.

Aber eines nach dem anderen: Wer sich in seiner ‚bürgerlichen’ Existenz verstehen will, sollte den Blick zurück in die Vergangenheit nicht scheuen. Die Geschichtsschreibung befasst sich gottlob nicht nur mit Ereignissen und Daten, die wir im Geschichtsunterricht vorgesetzt bekamen, sondern beschäftigt sich längst mit dem Alltag der Menschen in früheren Zeiten. Corbins Geschichte des Geruchs ist zwar im Wesentliche eine Geschichte, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts spielt. Aber was die Franzosen da zu riechen bekamen, dürfte auch deutsche Nasen entsetzt oder entzückt haben, je nachdem. Es ist natürlich besonders auch eine Geschichte der Hygiene, dann was aus den Häusern oder Gullis der Straßen entströmte, hatte immer auch etwas mit (fehlender) Reinlichkeit zu tun.

„Die erste Kulturgeschichte der Hygiene und ihrer sozialen Folgen: von der frühen Bekämpfung ‚verdächtiger’ Gerüche im achtzehnten Jahrhundert, der Reinigung des ‚öffentlichen Raums’ und der Kanalisation bis zu den Feinheiten der Parfümerie und der Entwicklung neuer Sitten.“ (aus dem Klappentext)

„Die Vorgeschichte unserer Geruchsempfindlichkeit beginnt Ende des 18. Jahrhunderts, als ein heute unvorstellbarer Gestank den Alltag in Stadt und Land beherrschte. Von da an ging es aufwärts: Während Robespierre das Laster ausrotten will, wird in Paris der erste Lehrstuhl für Hygiene eingerichtet, und in der Folge verschwistert sich der Geruchssinn mit der Polizeiwissenschaft, er wird zum Desinfektionswahn.

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wird aber auch immer deutlicher unterschieden zwischen Gestank und Wohlgeruch: der Pöbel stinkt, der Bourgeois parfümiert sich, und so entstehen immer wieder neue Vorstellungen von Eleganz und Individualität, bis heute.“ (Quelle: u.a. wagenbach.de)

Corbin schreibt anschaulich und zitiert viele Quellen, sodass ein überaus authentisches ‚Bild’, ja geradezu ein Geruch von Scheiße und Veilchenduft dem Leser vermittelt wird. Hier ein Beispiel für die Gerüche des Zerfalls:

Becher [Becher, Johann Joachim, u.a. Physica subterranea, Frankfurt am Main, 1669.] selbst hatte sich bemüht, die Gerüche in den einzelnen Stadien des Zerfalls zu beschreiben. 1760 legt Féou in Montpellier eine Doktorarbeit vor, in der er Bechers Analyse aufgreift und verfeinert. Unmittelbar nach dem Tode verströmt der Leichnam einen ‚süßlichen Geruch’, den manche für eine ‚Weingärung’ halten. Dann entwickelt sich ein stärkerer, beißender Geruch, der ‚recht oft an den Gestank von überreifem Käse erinnert’; Gardane bezeichnet ihn als ‚säuerlich’. ‚Schließlich tritt der Geruch der Fäulnis auf, der zunächst nur fade und nicht scharf ist, jedoch von einer Fadheit, die Übelkeit erregt (…); unmerklich wird er penetrant, ätzend und widerwärtig. Auf den faulen Geruch folgt ein krautartiger, und schließlich einer, der nach Ambra riecht …’ Der Autor schließt mit der Bemerkung: ‚Dies soll die Ärzte in die Lage versetzen, die bei Krankheiten entstehenden Gerüche genauer zu bestimmen.’ (S. 31)

Aber es geht auch um Wohlgerüche und ihre Wirkung:

‚Der Geruch’, so heißt es bei Saint-Lambert [Les saisons, zitiert von Robert Mauzi: L’idee du bonheur au XVIIIe siècle, Paris, 1960], ‚vermittelt uns ein innigeres Gefühl, einen unmittelbaren, vom Geist unabhängigeren Genuß als der Gesichtssinn. Schon beim ersten Eindruck ergötzen wir uns zutiefst an einem angenehmen Duft. Die Freuden des Sichtbaren dagegen sind stärker an Reflexionen gebunden, an das Verlangen nach sehenden Gegenständen und die Hoffnungen, die selbige erzeugen.’ (S: 115]

Übrigens diente Corbins „Pesthauch und Blütenduft“ Patrick Süskind als Recherchequelle für seinen Roman „Das Parfum“, denn es enthält auch eine lebendig erzählte Kulturgeschichte von den Anfängen der Körperpflege und öffentlichen Hygiene, der Parfümmanufakturen und der Ökologie im 19. Jahrhundert.

Hier noch einige weitere aufschlussreiche Zitate:

All die […] wissenschaftlichen Überzeugungen machen eine ausgeprägte Benutzung des Geruchssinns verdächtig. Das Schnüffeln und Beriechen ist ebenso verpönt wie die scharfe Geruchswahrnehmung oder eine Vorliebe für schwere tierische Riechstoffe; auch die Anerkennung der erotischen Rolle von Sexualgerüchen erregt Mißtrauen. Derartige Verhaltensweisen, die mit denen des Wilden verwandt sind, bezeugen eine Nähe zum Tier, einen Mangel an Raffinement, eine Unkenntnis der guten Sitten – kurz, sie beweisen das Scheitern jener Lernerfahrungen, die den gesellschaftlichen Stand definieren. Der Geruchssinn steht – gleich neben dem Tastsinn – ganz unten in der Hierarchie der Sinne. (S. 16)

Je mehr der Gestank der sich schindenden Bevölkerung hervorgehoben wird, je stärker man den Akzent auf die durch ihre bloße Anwesenheit gegebene Ansteckungsgefahr legt, um so leichter ist jener Rechtfertigungsterror aufrechtzuerhalten, in dem die Bourgeoisie sich wiegt, in dem sie den Ausdruck ihres schlechten Gewissens erstickt. (S. 191)

Immerhin wissen wir von der „… Gleichheit der Menschen im Vorgang der Darmentleerung.“ (S. 44), nur das ‚Örtchen’ unterscheidet sich noch manchmal stark: ‚Wir leben mitten in der Verseuchung, da wir einen stets unerträglichen Gestank im eigenen Leib beherbergen’, entsetzt sich Caraccioli [Louis-Antoine de C., Lüttich, 1759]. Nach und nach wird der Ort der Darmentleerung spezifischer, individueller. Im Zuge der Privatisierung des Unrats entwickelt er sich mehr und mehr zu einem Ort des inneren Monologs. Die einzigen englischen water closets, über die Versailles verfügt, sind dem König und Marie-Antoinette vorbehalten. In Frankreich gehören diese beiden Personen zu den ersten Individuen, die Erfahrungen mit einer neuen Art von Intimität machen. Diese Anekdote ist Bestandteil eines allgemeinen Individuierungsprozesses sozialer Praktiken, der dem Narzißmus in die Hände spielt. (S. 116)

Die menschlichen Exkremente, so sehr sie stinken mögen und so oft Wissenschaftler der früheren Zeit vor der Gesundheitsgefährdung der ‚Miasmen’ warnen, Scheiße ist als Dünger auch Geld – und es dauert dann nicht mehr lange, bis „die Psychoanalytiker [den Zusammenhang] zwischen Geld und Fäces herstellen.“ (S. 155)

“Corbins Kulturgeschichte ist ein von A bis Z ernsthaftes Buch. Aber da sich der anekdotische Ernst mit dem Thema ‚Gestank’ verbindet, liest es sich wie eine Satire. Auf diese Weise haben wir es mit einer Lektüre zu tun, die auf beinahe jeder Seite eine Neuigkeit – und allgemeine Heiterkeit zugleich verbreitet.“ (Harald Wieser in ‚Der Spiegel’)

In diesem Sinne lasse ich zuletzt Gustave Flaubert zu Worte kommen, der etwas ungehörig gegen die guten Manieren seiner Zeit herausfordernd an seinem Freund Ernest Chevalier am 15. März 1842 schrieb :

„Kack in die Stiefel, piß aus dem Fenster, schrei Scheiße, laß den Dünnpfiff wässrig sein und die Fürze eisern, rauche wie ein Schlot […] rülps den Leuten ins Gesicht“.
(Gustave Flaubert – Correspondance, Bd. I, S. 97)

Heute Ruhetag (23): Goethe – Faust I + II

Heute Ruhetag = Lesetag!

Direktor zum Theatherdichter und der lustigen Person:

Ihr beiden, die ihr mir so oft,
In Not und Trübsal, beigestanden,
Sagt, was ihr wohl in deutschen Landen
Von unsrer Unternehmung hofft?
Ich wünschte sehr der Menge zu behagen,
Besonders weil sie lebt und leben läßt.
Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen,
Und jedermann erwartet sich ein Fest.
Sie sitzen schon mit hohen Augenbraunen
Gelassen da und möchten gern erstaunen.
Ich weiß, wie man den Geist des Volks versöhnt;
Doch so verlegen bin ich nie gewesen:
Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt,
Allein sie haben schrecklich viel gelesen.
Wie machen wir’s, daß alles frisch und neu
Und mit Bedeutung auch gefällig sei?

[…]

Aus dem Vorspiel auf dem Theater

Johann Wolfgang von Goethe: Faust – eine Tragödie und als der Tragödie zweiter Teil

    Signatur: Johann Wolfgang von Goethe

Gefällig mag vieles sein dem deutschen Volk, aber auch von Bedeutung? Faust und sein Pakt mit Mephistopheles, dem Teufel, ist ein Stoff der europäischen Literatur. Aber speziell wir Deutschen zeigen die Neigung, Fiktives schnell als bare Münze anzusehen und sind zu manchem Teufelspakt bereit. Was wären wir ohne Goethe, der uns den Fauststoff als eine Tragödie und als der Tragödie zweiter Teil besonders aufbereitet hat, aus dem sich unsere Zungen auch heute noch reichlich bedienen, nicht nur den als des Pudels Kern.

Auch ich habe mich vorzeiten (1992 und Anfang 1993) aus dem Fundus Goethe’scher Verse bedient und es gemäß dem Vorspiel zum Faust „Des Fadens ew’ge Länge – Aufzeichnungen“ genannt. Hier noch einmal:

    Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge,
    Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt,

    Wer sichert den Olymp? vereinet Götter?
    Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart.

So spricht der Dichter im Vorspiel auf dem Theater in Goethes „Faust – Der Tragödie erster Teil“. Ich mag gleichgültig sein; so drehe und fädle ich und zwinge ich das Garn, welch Hirngespinst, von der Rolle, wie auch ich so von der Rolle bin. Was ewig ist, das hat weder Anfang noch Ende. Also ist der von Goethe beschriebene Faden ohne Anfang und ohne Ende. Gewissermaßen bin ich ein Glied, ein Fädelchen, davon. Und dieses Stück Garn wehrt sich, von der Natur auf die Spindel gezwungen zu werden. Also: Ab von der Rolle mit dem Fädchen, mein Mädchen!

Wenn ’s nur die Natur allein wäre, ich würde mich gern zwingen lassen (Trieb und Leidenschaft); was wirklich zwingt, sind die Umstände, ist die Umwelt, alles was uns um Konventionen willen bedrängt und in die Schranken weist. Gegen den Faden der Gesetze heißt es zu kämpfen, den roten Faden, mit dem das Leben durchwebt ist. Und zum Kampfe reiche mir die Feder angefüllet mit tiefschwarzer Tinte. Götter zu einen, ist nicht mein Trachten, und der Olymp soll verfaulen – von mir aus. Die Gegner sind auf Erden zu finden; finden wir sie aus und besudeln sie mit der Tinte gemischt aus unserm Blut und der Natur Erde. Quarksieder, Schönredner, Ignorantenpack und Egoistengeschmeiß, Speichellecker, Ausbeuter, Dummgesocks und Schweinetreiber – alle an der Wand! Und bloßgestellt! Schreibtischtäter und ihre Handlanger, Tattergreise von Ministern, Saumägen und Rebsgeläuse, Mistkäfer und Verbrecher mit weißen Krägen und Bankkonten in der Schweiz – an den Strick! Zeigt her eure vollgefressenen Schmerbäuche und eure Finger, an denen das Blut klebt von unschuldigen, naiven Menschen, die auf eure Bauernfängereien hereingefallen sind!

Mit der Feder in der Hand nehme ich den Kampf nun auf, um gegen Paragraphen und ihre Schöpfer, diese unersättlichen Papiertiger, anzugehen. Aber auch Du, dummdreister Ochs, bekommst Dein Fett weg! Und selbst am eignen Kleide leugne ich den Schmutzen nicht.

Aber auch von manch andrem Zeug sei hier berichtet.

Kapitel 1 – Natürliches

1 Faustus Müllemann

Am Wegesrand ein Blümlein wächst, dessen Duft mir in die Nase steigt. Ein sanftes Kribbeln. Pass auf, dass Du das zarte Pflänzlein nicht unter Deinen tapsigen Stiefeln begräbst. Mir könnte etwas fehlen («Tritt nicht aufs Fettkraut!»). Befreie Dich von den klobigen Tretern und wage es wie ich, barfüßig durch das Gras zu gehn. Spürest auch Du einen Hauch vom Morgentau? Von Frische, die die Zehen benetzt? Mach Deinen Kopf frei! Und fühle! Atme ein und atme aus.

Besinne Dich, Du Ochs! Gedankenlos kippst Du allen Dreck in die Natur aus. Überall stolpere ich über Müll, den Du wie die Schleimspur einer Schnecke gleich hinter Dir herziehst, und falle mit der Nase in schimmligen Quark («In jeden Quark begräbt er seine Nase.»). Ich mag wohl gern meinen Riecher in andrer Leute Sachen stecken, aber nicht in solch fauligem Schlamm.

«Hopfen und Malz, Du stinkst aus dem Hals!» Fettbäuchig begräbst du das Blümlein unter deinem auseinanderquellenden Arsch. Um dich herum stapeln sich Bierdosen und Schnapsflaschen. Aus deinem Maul quillt nicht nur der abgestandenen Pesthauch und Sabber, sondern mit den aufgequollenen Lippen formst du unförmige Wörter, die wie Kotzbrocken aus der Fresse fallen.

Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ich kann mich hüten davor, es zu tun. Staub soll er fressen, und mit Lust, wohl bekomm ’s! Es würde dir besser bekommen als der Fraß aus Tüten, die entleert die Straßen säumen.

Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn! Also packt deinen Kram, und dann pack‘ dich! Aber bald, denn was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan, und es wird dann nimmer mehr gescheh’n. Halbseidener Schlaumeier, erhebe dich … Oder bleib‘ ganz einfach sitzen, denn dann wirst du samt deines Unrats als menschlicher Sperrmüll zusammengekehrt und abtransportiert. Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur! der Meister sprach ’s, aber ach, ein Müllwerker klaubt dich aus dem Dreck, hilft dir sogar auf die Beine und fegt überstehenden Abfall von deinen Kleidern. Oh, Gott, der Schrott steht auf beiden Füßen. Ja, kehre nur der holden Erdensonne entschlossen deinen Rücken zu! Schuld- und schuttbeladen wankt er davon. Die Träne quillt, die Erde hat ihn wieder! Aber irgendeiner Schuld ist er sich nicht bewusst. Vergeblich ist mein Reden. Da steht er nun, der arme Tor! Und ist so klug als wie zuvor; und wankt davon und wankt. Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang, des Toren taube Ohren zu predigen. Und er wankt. Das also war des Pudels Kern! Müllemanns fetter Hintern! Er wankt und wankt.

Auch für mich ist es Zeit, mich aus dem Staube zu machen, mich aus seinem Dunstkreis zu entfernen. Des Denkens Faden ist zerrissen, mir ekelt lange vor allem Wissen. Was Müllemann, der wankt, nicht weiß, wenn er auch denkt, zu wissen. Er nennt ’s Vernunft und braucht ’s allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein. Aber bekanntlich: Es irrt der Mensch, solang er strebt.

Aber ja, aus den Augen, aus dem Sinn! So hoff‘ ich, meinen Seelenfrieden wieder zu finden. Und suche nach Entschuldigung und find‘ sorgenvolle Kindheit. Und suche nach Erklärung und finde schädigendes Milieu. Schon der Großvater hat …, und der Vater war … Und Müllemann wankt. Mir reißt der Faden. Ach! unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, sie hemmen unsres Lebens Gang. Und Müllemann, ach Müllemann, du wankst.

Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen, zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. So suche ich das Weite in der Ferne. Und ich gehe dahin, ein letzter Blick über die linke Schulter erspäht Müllemann, wie er wankt. Und ich laufe. Und ich hoffe, dass ein Blümlein am Wegesrand sich erholt und aufersteht und blüht und zu meiner Freude duftet und …

Freud muß Leid, Leid muß Freude haben. Und ich laufe, um einem Platz zu finden, an dem ich sagen kann: Hier bin ich Mensch, hier darf ich ’s sein! Während Müllemann wankt, nach Hause wankt, wankt, wankt …

Goethe mag mir verzeih’n!

Romananfänge (6): Garp

Heute möchte ich noch einmal auf den Roman Garp und wie er die Welt sah von John Irving zurückkommen, den ich gestern hoffentlich nicht zu sehr verrissen habe. Vielen Irving-Liebhabern muss es seltsam anmuten, den ‚Garp’ einerseits in einer Liste meiner liebsten Bücher zu finden, andererseits solch kritische Worte über das Buch zu vernehmen. Vielleicht sollte der werte ‚Liebhaber’ dann vielleicht doch etwas genauer lesen …

In einer Vorbetrachtung zum Thema Romananfänge läutete ich gewissermaßen einen Wettbewerb für gekonnt formulierte erste Romansätze ein. Dazu bin ich, wie geschrieben, durch John Irving angeregt worden. Was liegt da näher, als hier auch einmal einen Anfang eines Romans von John Irving in den Wettbewerb zu schicken – eben aus seinem besagten Roman: Garp und wie er die Welt.

Garps Mutter, Jenny Fields, wurde 1942 in Boston festgenommen, weil sie einen Mann in einem Kino verletzt hatte. Es war kurz nachdem die Japaner Pearl Harbor bombardiert hatten, und die Leute waren tolerant gegen Soldaten, weil plötzlich jeder Soldat war, aber Jenny Fields blieb fest in ihrer Intoleranz gegen das Benehmen von Männern im allgemeinen und Soldaten im besonderen.
(1. Kapitel – Das Bostoner Mercy Hospital)

Nun, der Soldat wurde gegenüber Jenny Fields sexuell aufdringlich, was Garps Mutter, die Krankenschwester, die immer ein Skalpell bei sich trug, entsprechend beantwortete.

Willi und die Romananfänge

Das Witzige ist, dass Irving zunächst einen anderen Romananfang im Sinne hatte. In einem Nachwort: Vor zwanzig Jahren (1998) – der Roman war 1978 erschienen – schreibt John Irving:

„Damals fiel mir ein, daß ich neben meinen übrigen Versuchen, einen Romananfang zu finden, vor langer Zeit auch einmal mit dem jetzigen Schlußsatz begonnen hatte („… in der Welt, so wie Garp sie sah, sind wir alle unheilbare Fälle.“), und ich erinnerte mich daran, wie dieser Satz durch das Buch gewandert war, wie ich ihn dauernd vor mir herschob. Anfangs war es der erste Satz des zweiten Kapitels, später war er der letzte Satz des zehnten Kapitels und so weiter, bis er zum Ende des Romans wurde – dem einzig möglichen Ende.“

Manchmal liegt Anfang und Ende so nah beieinander. Ein guter Anfang soll den Leser zum Weiterlesen animieren, ein gutes Ende wie das Feuerwerk zu Silvester, dem Jahresende, dem Ganzen des Romans die Krone aufsetzen.