Vor geraumer Zeit las ich den folgenden Zeitungsartikel. Dieser konstatiert eine Krise des Konservatismus, die jedem Betrachter mit halbwegs gesundem Menschenverstand längst aufgefallen ist. Sogenannte Konservative übernehmen angesichts der Flüchtlingsdebatte rechte Positionen. Rechte geben sich als Konservative aus. Dabei, so der Tenor des Artikels, wollen Rechte nichts bewahren, nichts ‚konservieren‘, sie wollen die Abschaffung der Demokratie, die natürlich längst zur Debatte steht, sie wollen die Macht. Hier Auszüge aus dem Artikel der Berliner Zeitung von Dirk Pilz:
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Der „Vertrauensvorschuss“, den jede Debatte braucht, wird hintergangen, wenn man mit falschen Fakten hantiert. „Meinung muss auf Fakten gegründet sein“, hat Hannah Arendt einst angemerkt, andernfalls sei Meinung eine Farce. Das ist noch immer richtig, denn im Rahmen einer Farce kann es keinen sinnvollen Streit geben. Wenn mein Partner von mir Respekt einfordert, ich ihn aber anlüge, ist die Antwort „Ich respektiere, dass du mich anlügst“ ein sinnloser Satz, sinnlos, weil er keine zukunftsstiftende, vertrauensfördernde Perspektive eröffnet.
Deshalb wird in dieser Debatte so viel von Angst gesprochen. Die Angst davor, einer politischen Richtung zugeordnet zu werden, vor allem aber die Angst vor der Leere der eigenen Position. Sie scheint auf der konservativen Seite stärker ausgeprägt zu sein, vielleicht auch, weil man sich ihrer hier bewusster ist. Der Konservatismus hat immer von der Überzeugung gelebt, dass das Neue unter Begründungsdruck steht, nicht das Bewährte. Man kann es auf die Formel bringen, die Martin Mosebach mit Blick auf die Katholische Kirche geprägt hat: „Ihr schieres Alter spricht für sie.“
Was sich aber bewährt hat, lässt sich in unserer zersplitterten Gegenwart immer schwerer bestimmen. Die Geschichte hinterlässt ohnehin keine eindeutigen Botschaften. Je genauer man hinschaut, desto deutlicher treten die Ambivalenzen in Erscheinung. Man kann Goethe nicht loben, ohne auf sein merkwürdiges Frauenbild einzugehen. Man kann Luther nicht preisen, ohne an seine antisemitischen Schriften zu denken, Marx nicht, ohne an dessen Entehrung durch den Stalinismus.
Es gibt kein Christentum ohne die Kreuzzüge, es gibt auch keinen Islam ohne den Missbrauch durch Terroristen. Es gibt generell keine reine Vergangenheit, nichts, das sich ohne Abstriche feiern ließe. Das stete Anrufen der Vergangenheit wird damit zur Beschwörung einer Leerstelle. Die Krise des Konservatismus ist eine Sinnkrise, sie kreist um die Frage, was es zu bewahren gilt, was nicht. Jede formelhafte Antwort darauf weicht dieser Frage aus. Ein lebendiger Konservatismus prüft dagegen den Kanon des zu Bewahrenden, mit offenem Ausgang.
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Im Grunde müssten gerade die Konservativen entschiedene Gegner aller rechtsradikalen Tendenzen sein. Dass es so nicht ist, verdeutlicht das Elend des Konservatismus: Er begeistert sich nur für die Erhaltung des Bewahrungswürdigen und nicht für das Bewahrungswürdige selbst, er verteidigt das Verteidigen als solches.
Gefährlich ist diese Entwicklung vor allem deshalb, weil längst auch die Demokratie zur Debatte steht – die rechtsradikale Auslegung des Konservatismus stellt die Grundlage jeder Debatte und jeder Vergangenheitsverständigung in Frage. Rechtsradikale wollen nichts bewahren, kein Gespräch, kein Aushandeln, sie wollen die Macht. […]