Die Zeit seiner großen Romane ist längst vergangen. Aber trotz seiner mehr als 90 Jahre schreibt er immer noch: Martin Walser, einer der bekanntesten Nachkriegsliteraten (bezogen auf den 2. Weltkrieg und die Zeit nach 1945), wenn dieser Begriff auch lange schon nicht mehr verwendet wird. Heinrich Böll, Günter Grass, Max Frisch oder Uwe Johnson, um nur einige zu nennen, haben längst das Zeitliche gesegnet. Martin Walser ist der letzte noch lebende Autor, der sich als Berichterstatter der sich entwickelnden Bundesrepublik Deutschland hervorgetan hat. Mehrere seiner jüngsten Werke habe ich während meiner eher unfreiwillig freien Zeit in der 2. Jahreshälfte des letzten Jahres gelesen, so zunächst Statt etwas oder Der letzte Rank – 1. Auflage Januar 2017 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Nach wie vor ist Walser ein Meister der deutschen Sprache, aber für Neueinsteiger in das Walser‘sche Werk sind diese letzten Bücher wenig geeignet. Da verweise ich auf die eingangs erwähnten großen Romane. Leser, die sich aber bereits ausführlich mit Martin Walser beschäftigt haben, kommen kaum um einen Roman wie diesen herum.
Die Gattung Roman trifft wenig auf dieses Buch zu. „Gedankenlyrik in Prosa“ wurde es genannt und es sind 52 Abschnitte voller Welt- und Selbstergründung, die nicht frei sind von einer ziemlich typisch Walser’schen Egozentrik. Das Werk handelt so von persönlichen Verletzungen und sexuellen Andeutungen und abstrahiert Biografisches in knappen pointierten Epigrammen. Und wenn diese oftmals ‚formlos, pathetisch, egozentrisch, sprachlich banal und dem intellektuellen Gehalt nach absolut uninteressant‘ erscheinen, ‚so faszinieren‘ sie ‚auf anderer Ebene. Mit „Statt etwas“ entsagt Walser allen Konventionen und wendet sich der Innerlichkeit zu, entblößt sich und seine Gedankenwelt und das in einer Konsequenz, die an Erbarmungslosigkeit grenzt‘. (Quelle: Roman Bucheli – Neue Züricher Zeitung vom 04.01.2017)
Zur Erklärung des Begriffs Rank – aus: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm
rank, m. wendung, drehung
1. schweiz. rank, wendung, krümmung des weges
2. rank, namentlich auch im wettlaufe und bei der jagd, die wendung, die der verfolgte nimmt, um dem verfolger zu entgehen
„Mit der Unwahrheit ein Glückskunstwerk zu schaffen, das ist die menschliche Fähigkeit überhaupt.“ Wer sagt das? Seine Frau nennt ihn mal Memle; mal Otto, mal Bert, er versucht zu erkennen, wie aus Erfahrungen Gedanken werden. Den Widerstreit von Interessen hat er hinter sich gelassen, Gegner und Feinde auch, sein Wesenswunsch ist, sich herauszuhalten, zu schweigen, zu verstummen. Am liebsten starrt er auf eine leere, musterlose Wand, sie bringt die Unruhe in seinem Kopf zur Ruhe. „Mir geht es ein bisschen zu gut“, sagt er sich dann, „zu träumen genügt.“
„Statt etwas oder der letzte Rank“ ist ein Roman, in dem er in jedem Satz ums Ganze geht – von größter Intensität und Kraft der Empfindung, unvorhersehbar und schön. Ein verwobenes Gebilde, auch wenn es seine Verwobenheit nicht zeigen will oder sogar versteckt. Ein Musikstück aus Worten, das dem Leser größtmögliche Freiheit bietet, weil es von Freiheit getragen ist: der Freiheit des Denkens, des Schreibens, des Lebens. So nah am Rand der Formlosigkeit, ja so entfesselt hat Martin Walser noch nie geschrieben. Ein Höhepunkt in Martin Walsers Alterswerk, ein Roman als Summe und Bilanz. (aus dem Klappentext)
Das Buch beginnt wie folgt:
Mir geht es ein bisschen zu gut. Seit dieser Satz mich heimsuchte, interessierte ich mich nicht mehr für Theorien. Alles Besitzergreifende mied ich mühelos. Das war mein Zustand: ich merkte, dass mich auch das Umständliche nicht mehr interessierte. Dazu war ich von selbst gekommen. Glaube ich. Genau weiß ich nichts. Zum Glück war das Bedürfnis, etwas genau wissen zu wollen, erloschen.
[…]
Mir geht es ein bisschen zu gut.
Dass ich noch Sätze brauchte, war kein gutes Zeichen. Erstrebenswert wäre gewesen: Satzlosigkeit. Ein Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste. Und ich hörte mich sagen: Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt.
Das war einer der Sätze, die mir den Wesenswunsch zu verstummen aufschiebbar machten.
Gewissensbisse? Dann ist dein Charakter deinen Taten nicht gewachsen!
Gewissen, das sei die innerste Einsamkeit des Menschen.
Und hier noch einige andere interessante ‚Buchstücke‘ aus dem Roman:
…, ich habe den wirklich elenden Zustand unserer Sprache, wenn es um Liebe geht, durch Sprachgirlanden ersetzt, die dem, der sie genießen kann, das Kompliment höherer Zurechnungsfähigkeit macht.
Wie lernt man vergessen, was man nicht erträgt?
Ich konnte nicht denken, was ich wollte.
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Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank
Hier erzählt einer, der auf sein Leben zurückblickt und begreift. Das fulminante Porträt eines Menschen, ein Roman, wie es noch keinen gab.
„In der schönsten und klarsten Sprache, die in Deutschland zurzeit geschrieben wird, verdichtet Martin Walser Erfahrung und Empfindung.“ Denis Scheck
„Es gibt keine Sätze außerhalb der Zeit. Und doch versucht Martin Walser, sich einem idealen Schreiben anzunähern, das so unmittelbar sein müsste wie Musik.“ Jörg Magenau, Die Tageszeitung