„Wir machen keine Musiktherapie, sondern eine akustische Reizstimulation“
In meinem Beitrag Meditationen über Mozart erwähnte ich den Besuch bei einem Arzt, bei dem mein jüngerer Sohn an einer Hörtherapie nach der Methode von Dr. Alfred Tomatis, auch Mozart-Therapie genannt, teilnahm. Grund hierfür war eine Krankheit meines Sohnes im Kleinkindalter, die bis heute ihre Nachwirkung in Form von Auffälligkeiten in der auditiven Wahrnehmung zeitigt.
Der französische HNO-Arzt Alfred Tomatis entdeckte in den 1950er Jahren, dass vor allem Mozarts frühe Werke das menschliche Gehirn auf besondere Weise anregen und dadurch eine therapeutische Wirkung hervorgerufen wird. Er entwickelte ein Hörtraining, bei dem mit Hilfe eines computergesteuerten „elektronischen Ohrs“ gefilterte Frequenzbereiche durch spezielle Kopfhörer wiedergegeben werden. Dabei werden die Vibrationen der Musik zusätzlich über die sogenannte Knochenleitung vom Körper aufgenommen.
Diese Form der Mozart-Therapie erwies sich als großer Erfolg bei Menschen mit Konzentrationsschwächen, Angstzuständen oder Sprachproblemen, sowie bei Schwangeren zur Vorbeugung von Frühgeburten und bei Wachkomapatienten.
Sogar der Schauspieler Gerard Depardieu machte dieses Hörtraining, um seine Texte besser lernen zu können. Er nannte Tomatis „Dr. Mozart“.
Mit Schreiben vom 9. November 2008 bat ich meine Krankenkasse um Übernahme der Kosten. Mit Schreiben vom 27.11.2008 kam (nicht gerade postwendend) die Antwort mit einer Absage. Lakonisch wurde mitgeteilt:
Die HEK kann die Kosten nur für anerkannte Therapien übernehmen. Die Tomatis-Hörtherapie ist nicht anerkannt. Insofern ist eine Kostenübernahme ausgeschlossen.
Mit Schreiben vom 3. Dezember 2008 legte ich gegen diesen Bescheid Widerspruch ein; u.a. schrieb ich:
Mir ist klar, dass Sie in Ihren Entscheidungen an vertragliche Absprachen und Richtlinien gebunden sind. So übernehmen Sie lediglich die Kosten für Therapien, die entsprechend diesen Richtlinien anerkannt sind. […]
Mir sind die Vorbehalte der Schulmedizin, insbesondere die gemeinsame Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie, der ADANO (Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen), der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, bekannt. Im Wesentlichen beschränken sich diese Vorbehalte auf fehlende Beweise für den Erfolg der Therapie und berufen sich auf Aussagen anderer Ärzte. Eigene Belege und Untersuchungsergebnisse werden nicht vorgebracht. U.a. heißt es dort: „Es kann auch nicht nachvollzogen werden, daß stark gefilterte und damit verfremdete Klangqualitäten einen spezifischen Effekt in dem geschilderten Sinne erzielen können, selbst wenn man davon ausgeht, daß der offensichtlich noch erhaltene Rhythmus der klassischen Musik nicht ohne Wirkung auf den Probanden bleibt.“ Immerhin heißt es dort auch: „Rosenkötter (1995/96) nimmt an, daß die Therapie auf die Regelkreise des Hirnstamms und der Innenohrperzeption Einfluß nehme.“ Und „Damit wird nicht unterstellt, daß bei Kindern und Jugendlichen, die nach der Tomatis-Methode behandelt wurden, keinerlei (unspezifische) Effekte auftreten können.“.
Alternativ wäre sicherlich eine Behandlungsmaßnahme durch einen Logopäden möglich. Ob aber eine adäquate Behandlung erfolgreich wäre, hielten meine Frau und ich für fraglich, […]. So sehe ich eine Behandlung innerhalb der analytischen Hörtherapie für die erfolgversprechendere.
[…]
Die Empfehlung für die Hörtherapie nach Dr. Tomatis kam von einer Lerntherapeutin, bei der unser Sohn Nachhilfe bekommt. Sie verwies dabei auf die nachhaltigen Erfolge dieser Therapie bei anderen Schülern, die sie bisher betreute.
In der analytischen Hörtherapie werden ähnlich einem Muskel die für das Hören vorgesehenen Nerven des Gehirns gewissermaßen trainiert, indem diese in einer bestimmten Abfolge unterschiedlichen akustischen Reizen ausgesetzt werden (Töne hoher Frequenzen dienen als Stimulans, Töne tiefer Frequenzen zur Entspannung). Das ist eine für mich als Musikverständigen auch logisch durchaus nachvollziehbare Behandlungsmethode. Die Behandlung erfolgt bei einem promovierten, approbierten Mediziner.
Kontrolluntersuchungen zur Mitte und am Ende des ersten Behandlungsabschnitts von 15 Tage zeigen deutliche Verbesserungen sowohl beim Test der Luft- als auch der Knochenleitung. Das Unterscheidungsvermögen unterschiedlich hoher Frequenzen ist ebenfalls klar verbessert.
[usw.]
Wir mussten bis zum 12.02.2009 warten, bis ein Schreiben, verfasst vom Widerspruchsausschuss der Krankenkasse, eintraf, also über zwei Monate nach Eingabe des Widerspruchs, mit dem Ergebnis:
„Dem Widerspruch wird nicht stattgegeben.“
Verwiesen wird dabei (jetzt etwas ausführlicher) auf den Leistungsrahmen, der (u.a.] in dem zwischen dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geschlossenen Arzt-/Ersatzkassenvertrag geregelt ist. „Sie regelt das Spektrum der ärztlichen Leistungen abschließend.“
In den Entscheidungsgründen wird u.a. folgendes ausgeführt:
Bei der Tomatis Hörkur handelt es sich um eine Methode, die der Gemeinsame Bundesausschuss bisher noch nicht bewertet hat. […] Eine Behandlungsmethode gehört deshalb erst dann zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Erprobung abgeschlossen ist und über die Qualität und Wirksamkeit der neuen Methode nachprüfbare Aussagen gemacht werden können.
Soweit hierzu (Langes Geschreibsel, kurzer Sinn): Gegen die Tomatis-Hörtherapie gibt es eine Anzahl von Einwänden. Ob diese nun begründet sind oder nicht, wurde im Widerspruchsentscheid wohlweißlich nicht erörtert (das wäre ein Thema für sich). Okay. Was mich aber wirklich wundert ist, dass die Tomatis-Hörtherapie bisher durch den „Gemeinsamen Bundesausschuss“ noch nicht bewertet wurde, so als wäre sie etwas völlig Neues und nicht schon seit Jahrzehnten bekannt (allein der Arzt, bei dem wir für unseren Sohn die Therapie durchführen ließen, behandelt seine Patienten hiernach seit über 15 Jahren). Wie mir scheint, fehlt den Verfechtern dieser Therapie die gehörige Lobby im genannten Ausschuss. Ich denke allerdings auch, dass diese eine entsprechende Erprobung nur zögerlich betreiben.
Wie auch immer: Die Pharmaindustrie ließe sich kaum auf diese Art abspeisen. Jede Verzögerung in der Erprobung führte zu Millionenverlusten. Dann betreibt man die Erprobung schon lieber selbst.
Manche Krankenkasse (wohl auch die HEK) rühmt sich, auch unkonventionelle Behandlungsmethoden zu fördern. Wenn ’s aber ans Bezahlen geht, kneifen sie und ziehen schnell den Schwanz ein, wie Ihr Beispiel zeigt. Auch sonst kommen Krankenkassen auf Einfälle, bei denen man aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommt:
Einer krebskranken Frau wurde z.B. Krankengymnastik verweigert, weil sie als unheilbar gilt und nicht mehr lange zu leben hat. Dann hätte man auch auf das Verschreiben kostspieliger Medikamente verziechten können.
Nach wie vor ist man dem Gutdünken der Halbgötter in Weiß und der Macht der Pharmaindustrie ausgeliefert. Wenigstens erspart sich so jeder das Brechmittel.