Als Elias Canetti (* 25. Juli 1905 in Rustschuk, Bulgarien; † 14. August 1994 in Zürich) 1981 den Literatur-Nobelpreis erhielt, hatte ich von ihm nur wenig gehört und noch nichts gelesen. So kaufte ich mir das Buch „Die Provinz des Menschen – Aufzeichnungen 1942-1972“ von ihm. Immerhin war er ein Autor deutscher Sprache, wenn auch in Bulgarien als Sohn einer wohlhabenden sephardisch-jüdischen Kaufmannsfamilie (er selbst bezeichnet sich als Spaniole) geboren und lange Zeit in England ansässig. Ich habe zwar immer wieder einen Blick in dieses Buch geworfen. Vollständig gelesen habe ich es aber bis heute nicht. Canetti wurde durch ein vielseitiges Werk bekannt – besonders seine mehrbändige Autobiografie fand ein größeres Publikum.
Nun vor anderthalb Jahren gelangte ich in den Besitz zweier der drei Bände seiner Autobiografie (auf einem Weihnachtsbasar) und las nun in meinem Urlaub den 1. Band: Die gerettete Zunge, der die Jahre bis zum Aufenthalt in Zürich 1921 behandelt.
In den Jahren nach dem frühen Tod des geliebten Vaters entwickelte Canetti eine sehr enge, eifersüchtige Beziehung zur Mutter, einer sehr stolzen und selbständigen Frau mit leidenschaftlichem Interesse für Theater und Literatur. Mit den Leseabenden, bei denen Mutter und Sohn gemeinsam klassische Dramen lasen, gab sie dem Wunsch Canettis, später selbst Dichter zu werden, lange Zeit Nahrung. Später sah sie diese Entwicklung zunehmend mit Besorgnis und suchte den Sohn zu einem praktischen Beruf zu drängen.
Zunächst schreibt Canetti:
Ich bekam nie zu hören, daß man etwas aus praktischen Gründen tue. Es wurde nichts betrieben, was ‚nützlich’ für einen werden konnte. Alle Dinge, die ich auffassen mochte, waren gleichberechtigt. … Es kam auf die Dinge selber an und nicht auf ihren Nutzen.
(S. 194)
Elias Canetti erlebte nie materielle Not in seiner Kindheit und Jugendzeit. Die Mutter war durchdrungen von einem Standesdünkel, der sicherlich auch auf ihren Sohn abfärbte. Als es einmal in Zürich zu Beschimpfungen wegen seiner jüdischen Herkunft kam, so entpuppte sich dieser Antisemitismus lediglich als Vorwand gegen den sich in vielen Dingen hochmütig gebenden Canetti. Er lebte in einer anderen Welt, die mehr und mehr ihren Bezug zur Wirklichkeit verlor. So erkannte er dann doch:
Man meint sich für die Welt zu öffnen und zahlt dafür mit Blindheit in der Nähe. Unfaßbar ist der Hochmut, mit dem man darüber entscheidet, was einen angeht und was nicht. … der wölfische Appetit, der sich Wißbegier nennt, merkt nicht, was ihm entgeht.
(S. 291)
Diese andere Welt wurde von seiner Mutter gespeist. Es war eine fiktive Welt der Literatur, die selbst in Zeiten der Not (1. Weltkrieg) über jeden Realismus herrschte. Seltsamerweise war es dann die Mutter, die erkannte, dass ihrem Sohn jegliche Bodenhaftung zu verlieren drohte.
Canetti schreibt und zitiert die Mutter:
Du hast überhaupt kein Recht, etwas zu verachten oder zu bewundern. Du mußt erst wissen, wie es wirklich zugeht. Du mußt es am eigenen Leib erfahren. Du mußt herumgestoßen werden und beweisen, daß du dich zur Wehr setzen kannst.
(S. 312)
Du bist nur hochmütig …
aus: Elias Canetti: Die gerettete Zunge – Geschichte einer Jugend (Fischer Taschenbuch Verlag – 321. – 329. Tausend: April 1989, S. 313)
Hiermit endet der erste Band der Autobiografie. Canetti siedelt 1921 nach Deutschland über, dem Land, in dem nach dem verlorenen Weltkrieg Hunger und Elend regierten.
Ich muss gestehen, dass ich mich beim Lesen mit diesem Canetti nie so richtig anfreunden konnte. Die Hochnäsigkeit der gesamten Familie stieß mich immer wieder ab. Und es wundert mich kaum, wenn man Canetti heute oft als weisen, gastfreundlichen Literaturasketen zu sehen trachtet, der in einer Welt der Bücher und der jederzeit gespitzten Bleistifte lebte. Schon in seiner Kindheit ebnete sich der entsprechende Weg.
Sicherlich finde ich es in Ordnung, seine Kinder für Literatur zu begeistern. Aber Kinder müssen auch lernen, sich in praktischen Dingen auszukennen. Das rechte Maß ist bei Canetti nie gefunden worden – und so wundert es keinen, wenn er sich zu einem altklugen Jungen entwickelt. Ich mag solche Kinder einfach nicht.
Trotzdem finde ich das Buch sehr interessant, weil es einen Einblick in eine Welt ermöglicht, die mit den Umwälzungen im Europa des 20. Jahrhunderts schnell ihr Ende fand. Zwei Stationen auf dem Lebensweg Canettis sind sogar mir bekannt geworden – im Buch heißt es: Wir fuhren mit der Bahn, an Kronstadt vorbei und durch Rumänien. Und: … in Predeal, der Grenzstation zu Ungarn, …
Zum Jahreswechsel 1984/85 und im Frühjahr 1986 besuchte ich mit meiner heutigen Frau zweimal Rumänien und waren so in der Stadt Brasov, dem ehemaligen Kronstadt, als auch in Predeal, heute ein Wintersportort und mitten in Rumänien gelegen. Später etwas mehr zu den Rumänienreisen.
Ein Gedanke zu „Elias Canetti: Die gerettete Zunge“