Der Witzableiter (10): Warum denn auf die Spitze gehen?

Fortsetzung von: (9): Paradox? Im Prinzip ja

Im 10. Teil der Kolumne „Der Witzableiter“ von Eike Christian Hirsch, die 1984 im ZEITmagazin erschien, behandelt dieser den Übertreibungswitz und zeigt auf, wie witzig Über-, natürlich auch Untertreibungen sein können. Hier wird einiges ‚auf die Spitze’ getrieben.

Der baumlange Milliardär aus Texas kommt während der Hauptsaison nach Saint Tropez. Er erscheint mit diamantglitzernden Manschettenknöpfen in der Halle des teuersten Hotels. Eine Karawane dienstbarer Geister folgt mit Koffern, Skier, Schlittschuhen, Pelzen und einer kompletten Winterausrüstung. Dem fassungslosen Empfangschef bleibt der Mund offen stehen. Dann wendet er sich an den Gast: „Verzeihen Sie bitte, aber es gibt hier keinen Schnee …“ „Keinen Schnee!?“ dröhnt der Texaner. „Der kommt mit dem Rest des Gepäcks.“

Übertreibungs-Witze sind eine Spezialität der Amerikaner, nicht erst seit Mark Twain diese Art von Humor unsterblich gemacht hat. Es soll auch heute noch jährlich Wettbewerbe in den Staaten für die beste lügenhafte Übertreibung geben. „Unser Badezimmer ist so klein – wenn die Sonne reinscheint, müssen wir rausgehen.“ „Das ist noch gar nichts. Unsere Küche ist so niedrig, daß wir darin nur Omelettes und Schollen backen können.“

Zugegeben, das Baumuster ist schlicht und läßt sich endlos variieren, aber wer wird denn gleich die Nase rümpfen? Das tut ein deutscher Professor, der jüngst schrieb: „Der Übertreibungswitz wendet sich vor allem an primitive Geister.“ Also denn – mehr davon. Hier sind sie. Ein Bauführer zu seinen Leuten: „Nehmt euch ein Beispiel an der Konkurrenz. Da wird nicht krankgefeiert. Wenn einer zum Beispiel Schüttelfrost hat, meldet er sich zum Sandsieben.“

Jede Übertreibung baut eine neue Wirklichkeit neben der alten auf. Sie muß irgendwie noch glaubhaft sein, wenigstens auf den ersten Blick. Die eigentliche Wirklichkeit muß man in ihr noch wiedererkennen – wie in der Karikatur das wiedergegebene Objekt. Der Referent für kirchliche Entwicklungshilfe eilt zu seinem Vorgesetzten und sagt: „ Bruder Nikodemus aus Niger klagt schon wieder über den dortigen Wassermangel.“ „Das tut er doch in jedem Brief“, sagt der Vorgesetzte. „Stimmt, aber diesmal ist die Briefmarke mit einer Reißzwecke befestigt.“

Daß es sich hier ebenfalls um eine Paradoxie handelt, muß ich kaum erwähnen. Das wissen Sie ja schon. Nur werden Sie mich vielleicht fragen, wo denn hier die zwei Positionen seien, die angeblich zu jeder Paradoxie gehören. Richtig, es ist nur eine zu sehen. Die zweite Position ist, so scheint es, die Wirklichkeit, wie wir sie kennen und vor der als Hintergrund die Übertreibung doch überhaupt erst als solche zu erkennen ist. Etwa so: Ein Tourist fragt den Bürgermeister des Kurorts: „Ist das Klima hier wirklich so gesund?“ „Und ob“, gibt der zurück, „um den Friedhof endlich einweihen zu können, waren wir gezwungen, unseren ältesten Einwohner zu vergiften.“

Wer hat schon etwas dagegen, wenn sich jemand so klar ausdrücken kann wie jener Zahnarzt, der zu seinem Patienten sagte: „Sie brauchen den Mund nicht so weit aufzureißen. Ich bleibe während der Behandlung draußen.“

Witzableiter (10)

Dagegen hätte auch Immanuel Kant nichts gehabt, der allerdings empfindlich war gegen Übertreibungen wie die, jemand habe „in einer Nacht graue Haare bekommen“. In seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) erzählt er hingegen gern als gelungene Übertreibung die Geschichte von einem Kaufmann, „der aus Indien mit all seinem Vermögen in Waren nach Europa zurückkehrend, in einem schweren Sturm alles über Bord zu werfen genötigt wurde und sich dermaßen grämte, daß ihm darüber in derselben Nacht die Perücke grau ward.“ (Das Wort Perücke ließ Kant vorsichtshalber gesperrt drucken).

Gleich im Anschluß daran teilt Kant eine treffende Beobachtung mit über die Art, wie man gewöhnlich einen Witz versteht. Er meinte, daß wir uns zwar plötzlich in unserem ersten Verständnis der Geschichte getäuscht sähen, aber „unsere verfolgte Idee wie einen Ball noch eine Zeitlang hin- und herschlagen, indem wir bloß meinen, ihn zu greifen und festzuhalten“.

Das finde ich deshalb so treffend beobachtet, weil wir wirklich zwischen Verblüffung und Erleuchtung noch eine Weile hin- und herschwingen, indem wir unsere alte Täuschung und unsere neue Einsicht miteinander vergleichen. Patient zum Arzt: „Herr Doktor, mein Schielen hat sich verschlimmert. Wenn ich weinen muß, laufen mit jetzt die Tränen schon den Rücken kreuzweise herunter.“

Das Hin und Her vergleicht Kant mit dem Schwingen einer Saite. Heute würde man wohl von einer Rückkopplung sprechen können. Mit diesem technischen Vergleich ließe sich auch der Streit schlichten, den wir das letzte Mal diskutiert haben, ob die Verblüffung zuerst kommt oder das Verständnis. Beide wechseln sich wohl noch eine Weile ab und beeinflussen sich dabei gegenseitig.

Ich glaube, wir haben einen entscheidenden Punkt erkannt, wenn wir diese Hin- und Herbewegung beim Witz beobachtet haben. So funktioniert er. Dieses Springen, Schwanken, Flimmern ist sehr typisch. Noch einmal eine Probe:

Der Chef zum Buchhalter: „Am besten, Sie tragen den Jahresgewinn in Schwarz ein.“ „Es ist aber nur rote Tinte da, Chef.“ „So kaufen sie eben schwarze!“ „Dann sind wir wieder in den roten Zahlen.“

Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 37/1984

[Fortsetzung folgt]

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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