Im Juni 1996 schrieb ich in mein analoges Homelog (Tagebuch nannte man das damals) den folgende Eintrag zu Kafka und Camus. Anlass war die Veröffentlichung von Albert Camus’ ‚Der erste Mensch’, einem Roman aus seinem Nachlass:
Franz Kafka | Albert Camus |
In diesem Jahr habe ich ja einiges von und über Franz Kafka und Albert Camus gelesen. Camus’ (fast) biographischer Roman „Der erste Mensch“ (als Fragment) ist sicherlich höchst interessant, aber das Bild vom „armen Kind“, das in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen ist, kann ich nicht teilen. Sicherlich waren die Camus’ arme Leute, seine Mutter war fast taub und konnte nicht lesen – aber man hatte doch ein Dach über dem Kopf und ein halbwegs ausreichendes Einkommen, wenn auch mühsam erwirtschaftet, um damit die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Da Sonne und Meer nichts kosten, konnte Albert Camus davon reichlich viel „in sich“ aufnehmen, wie es seine Bücher ja beweisen. Und gerade weil er aus diesen bescheidenen Verhältnissen stammte, hat er sich immer dieses Maß an Bescheidenheit bewahrt – und den Dank für jene, die ihm geholfen haben, seinen Weg zu finden und zu gehen.
Ähnliches empfinde ich auch bei Franz Kafka. Immer wird Kafka als der arme Mann aus Prag dargestellt, der gewissermaßen von der weiteren Welt abgeschnitten sein Dasein fristete. Zunächst waren seine Verhältnisse (sowohl familiär und damit dann auch finanziell) alles andere als bescheiden. Zum anderen hatte er viel Kontakt mit anderen literarischen Zeitgenossen (u.a. auch mit Rilke usw.). Seine Bücher wurden veröffentlicht. Wenn es nicht mehr war, so lag es an Kafka selbst, der eben nicht mehr zu bieten hatte (zu Lebzeiten verkaufen sich Romanfragmente schlecht). Daß seine Romane Fragmente geblieben sind (und gewissermaßen bleiben mußten), ist ein Punkt, der hier nicht zu diskutieren ist. Daß Kafka aber zu Lebzeiten unbeachtet blieb, kann man nicht behaupten. Viele haben sich um sein Werk bemüht. Es war Kafka selbst, der nicht mehr „hergab“.
Den ganzen Mythenkram um diese beiden (von mir gern gelesenen, ja geliebten) Autoren halte ich für völlig verfehlt. Camus hat sich hinaufgearbeitet, weil er das Zeug dazu hatte. Aber seine Herkunft ist kein von Mythen umrankter Hain, auch wenn uns Algier als Deutsche wie eine exotische Landschaft erscheint. Ebenso Kafka – er war kein verkanntes Genie. Im Gegenteil: Schon zu Lebzeiten wußte man sein hellseherisches, in klarer Prosa geschriebenes Werk zu würdigen (und eben nicht allein Max Brod gebührt die Anerkennung, Kafka „ans Licht“ gehoben zu haben, wenn er sich bestimmt immer wieder so gesehen hat). Sicherlich läßt sich das Werk eines Autors nicht von seinem Leben trennen (gerade bei diesen beiden nicht). Aber viel Aufsehens um die Personen Camus und Kafka hat am Ende die Sicht auf das Werk dieser beiden eingeschränkt, so finde ich; z.B. wenn ich Kafka las, so schwebte über mir und dem Buch in der Hand das Bild Kafkas als den armen Versicherungsangestellten, der im Hinterstübchen bei bescheidenem Kerzenlicht seine Romane schreibt. Und Camus sieht man so in der noch kärglicher beleuchteten Küche, von einer verständnislos starräugig glotzenden Mutter und Großmutter umgeben, auf dem Tisch neben dem Heftchen, in das er gerade Notizen zu einem seiner Werke schreibt, die Teller mit angetrockneten Speisereste. Mythos!