Warum dieser Schmerz, mein Herz
warum dieses Weh, meine
Seele, warum diese Schwere
aller meiner Gedanken.
aus Martin Walser: Leben und Schreiben: Tagebücher 1963-1973
Tagebuch 1971, Seite 437 – Rowohlt Taschenbuch Verlag, Februar 2009
Tagebücher, selbst die von erlesenen Schriftstellern, sind nicht jedermanns Sache. Die sind manchmal Literatur pur (wie bei Max Frisch, dessen Tagebücher geradezu eine neue literarische Form begründeten) oder bei der Betrachtung und Beurteilung eines Schriftstellers unentbehrlich (wie bei Franz Kafka, dessen Tagebücher dazu beitragen, sein eigentlich literarische Werk zu verstehen).
In den letzten Jahren hat nun auch Martin Walser Tagebücher veröffentlicht:
Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962, Rowohlt, Reinbek 2005
Leben und Schreiben. Tagebücher 1963-1973, Rowohlt, Reinbek 2008
Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978, Rowohlt, Reinbek 2010
Lange habe ich mir überlegt, ob ich mir diese Tagebücher kaufen soll. Während meiner kleinen Rhein-Tour diesen Jahres, beim Aufenthalt in Düsseldorf, schaute ich mit meinen Söhnen auch in mehrere Buchläden hinein – und fand den 2. Band dieser Bücher (Tagebücher 1963-1973) als so genanntes Mängelexemplar für weniger als den halben Preis.
Tagebücher lassen sich nicht wie ein Roman in einem Rutsch lesen. Wenigstens ich kann das nicht. Mein Verdacht wurde in diesem Fall bestätigt: Martin Walsers Tagebücher können nicht mit seinen großen Romanen und Erzählungen ‚mithalten’. Das Urteil, sie wären langweilig, kann ich aber nicht bestätigen.
Erst einmal werden Tagebücher für den ‚privaten Gebrauch’ geschrieben. Das gilt in der Regel auch für Schriftsteller, es sei denn ihnen wird bewusst, dass die geschriebenen Tagebucheintragungen später einmal literarisch aufgearbeitet oder schon zu Lebzeiten veröffentlicht werden könnten. Die Tagebücher 1963-1973 von Martin Walser, so denke ich, waren sehr privater Natur. Er nutzte sie sicherlich für Skizzen zu späteren Werken; er entblätterte sich und sein Befinden in einer Weise, die selbst in späteren Werken so nicht vorkommt. „Was ich ins Tagebuch schreibe, ist prinzipiell unverbesserlich.“ Schreibt Walser in einem späteren Nachwort.
Im zweiten Band der Tagebücher hält Martin Walser seine Eindrücke während der Frankfurter Auschwitz-Prozesses fest, seine Reisen nach Moskau, Eriwan und Tbilissi, dann kreuz und quer durch Europa und Nordamerika.
Er kommentiert die Studentenproteste, spricht über durchzechte Nächte mit seinem Verleger und immer wieder über das Schreiben selbst: Erzählen ist ihm „der Versuch, mit geschlossenem Mund zu singen“. Seine Tagebücher gewähren überraschende Einblicke, sie zeigen „einen verletzlichen Martin Walser, den man bisher noch nicht kannte.“ (Die Zeit)
Martin Walser ist als politischer Schriftsteller bekannt. So mag es enttäuschen, dass er sich in diesen Tagebücher politisch kaum äußert. Wir wissen allerdings, das er sich noch 1961 im Wahlkampf für die SPD und Willy Brandt eingesetzt hat. Brandts ausweichende Haltung zum Vietnamkrieg war dann einer der Gründe für Walsers zunehmende Distanz zur SPD und seine Linksorientierung ab Mitte der 60er Jahre.
Wenn sich Walser politisch äußert, dann fast immer im Zusammenhang mit seinem seelischen Befinden, seiner Verletzlichkeit, seinem Unmut, unverstanden zu sein. Es gibt aber immer wieder eine Kritik an scheinbar demokratisch legitimierten Entscheidungen der Politik: „Über Erkenntnisse und Wahrheiten kann übrigens nicht mit Mehrheit beschlossen werden.“ (S: 563 der Taschenbuchausgabe 2009)
Eintragung Tagebuch: Orli Loks aus dem Roman „Das Einhorn“, Anselm Kristleins große Liebe
Zu anderen Schriftstellern äußert er sich kaum. Auf die Schnelle habe ich z.B. nur einen Verweis auf die“ … manieristische oder Verklausulierungsmethode des Thomas Mann …“ gefunden (S. 362). Martin Walser zeigt sich aber empfindlich in der Kritik anderer an seinen Werken, er fühlt sich verletzt bis ins Mark.
Ebenso am Boden zerstört ist Walser, als seine Mutter 1967 stirbt. Da ist er 40 Jahre alt. An literarische Arbeit ist nicht zu denken – außer in einer Aufarbeitung in seinem Tagebuch. Hier ist das Tagebuch wirklich ganz privat, ganz intim.
1973 reist Martin Walser für sechs Monate als Gastdozent in die USA (Middlebury College, Vermont und University of Texas, Austin). Zusammen mit den Ereignissen eines viermonatiger USA-Aufenthalt 1983 als Gastdozent an der University of California, Berkeley verarbeitet er diese später; es entsteht 1985 daraus der Roman „Die Brandung“ (siehe auch meinen Beitrag zum Roman Die Brandung). Wie im Roman (dort die als „schöne Dumme“ bezeichnete Fran, ein All-American-Girl) so verliebt sich Walser in eine junge Studentin, Biddie. Diese Liaison hat natürlich keine Zukunft.
Man mag den literarischen Wert solcher Tagebücher – vor allem für den normalen Leser – bestreiten. In diesem Fall sollte man schon ein eingefleischter Fan von Martin Walser sein, um die Lektüre ‚ungeschadet’ zu überstehen. Trotzdem stellt sich solch ein Band von Tagebüchern als Fundgrube brillanter Etüden, Miniaturen, Aphorismen und kryptischer Andeutungen dar. Hier zum Schluss eine kleine Zusammenstellung von Aphorismen, die mir besonders gefallen haben:
– Den Gegner zum Gott machen und dann Atheist werden. Das ist die Lösung.
– Sie ging in die Garderobe, schminkte sich ab und war fertig zum Auftritt.
– Was mich mit meinen Freunden oder Bekannten verbindet, ist eine Serie von Stillhalte-Konventionen.
– Was soll ich Ihnen noch küssen, Gnädigste?
– Ich huste Mückenschwärme ins Abendlicht und laß mir von Schwalben in die Zeitung scheißen.
– Jeder, dem die Gesellschaft gestattet, etwas anderes zu sein, als er ist, ist ein Funktionär.
– Wer Angst hat, will Schrecken verbreiten.
– Vor sich selber hat keiner Angst.
– Es wäre viel ehrlicher, wenn ich mich mal gehenließe und richtig lügen würde.
– Ich wünschte, ich wünsche, ich zähle die Wünsche, probiere sie an und lasse sie ändern …
– Leben ist mir zur Gewohnheit geworden.
– Ich tauge nur noch zum Feind …
aus Martin Walser: Leben und Schreiben: Tagebücher 1963-1973 – Rowohlt Taschenbuch Verlag, Februar 2009
siehe auch: Martin Walser: [Das Herz] — Daher der Name Bratkartoffel (3)