Franz Kafkas Prosa gilt vielen als unverdaulich, da sie zu schwer zu verstehen ist. Manche halten Kafka für krank. Wer solchen Kram geschrieben hat, konnte nur krank sein. Letzteres musste ich mir von einer Deutsch-Lehrerin einer Realschule anhören. Unfassbar!
Sicherlich ist Kafka starker Tobak. „So schwer der Gehalt des Werkes auch zu erfassen ist, so einfach, klar und schlicht ist andererseits die Sprache, in der es geschrieben ist.“ (Martin Pfeiffer: Erläuterungen zu Franz Kafka: Amerika / Der Prozeß / Das Schloß – Königs Erläuterungen und Materialien Band 209 – C. Bange Verlag, Hollfeld/Obfr. – 1981 – S. 57). Bei Kafka werden Alpträume gewissermaßen wahr, er ‚spielt’ mit seinen/unseren Ängsten und auch mit seinen/unseren Wünschen – und beschreibt diese dabei so real, wie es kein anderer Schriftsteller je geschafft hat. Nein, da fließt kein Blut. Der ‚Horror’, um dieses Wort einmal (und dann nie wieder) zu benutzen, ist viel subtiler bei Kafka. Nehmen wir Kafkas Roman „Der Prozess“ (nachzulesen u.a. im Projekt Gutenberg Spiegel Online). Hier wird eines morgens Josef K., ein aufstrebender Bankangestellter, mir nichts, dir nichts an seinem 30. Geburtstag zu Hause ‚verhaftet’. Eine richtige Verhaftung ist es eigentlich nicht, denn er wird nicht davon abgehalten, zur Arbeit zu gehen. Warum er verhaftet wird, weiß weder der ‚Aufseher’, noch wissen es die zwei ‚Wächter’, die K. daheim aufsuchen. Schon allein die Umstände dieser Verhaftung sind wie in einem Alptraum. Und das Ganze geht dann immer weiter.
Das gesamte Werk von Franz Kafka
Quelle: franzkafka.de
Ich lese Kafkas „Der Prozess“ (Franz Kafka – Gesammelte Werke Band 2 – herausgegeben von Max Brot – Taschenbuchausgabe in sieben Bänden – Fischer Taschenbuch Verlag – April 1976) in diesen Tagen zum 3. Mal. Die letzten beide Male liegen schon lange zurück (1977 und 1987). Es wurde für mich als Kafka-Bewunderer also wieder ‚höchste Eisenbahn’. Hier in diesem Beitrag möchte ich mich lediglich mit dem ersten Kapital des leider unvollendeten Werkes beschäftigen und da auch nur mit den ersten 13 ¼ Seiten, der Verhaftung Josef K.s. Und das zudem aus einem ganz besonderem Blickwinkel.
Kafka interessierte sich sehr für ein neues Medium, den Cinémato- bzw. Kinematographen – also dem Kino (hierzu eine Seminararbeit zum Thema Franz Kafka und das Kino). Liest man die besagten gut 13 Seiten des Romananfangs, dann fällt einem sehr bald der „filmische Blick“ des Erzählers auf. Diese Seiten (und überhaupt das gesamte Werk) weisen einen hohen Grad an Visualität auf. Besonders die vielen Gesten der Handelnden werden – ähnlich wie in einem Drehbuch – sehr präzise beschrieben und erläutert, hier nur einige der vielen Textpassagen, die das belegen:
„.. machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei Männern los …“ (S. 8 ) – „… und klopfte ihm öfters auf die Schulter.“ (S. 8 ) – „… hob aber schon einen Rock vom Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter.“ (S. 13) – „Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles gelegt.“ (S 14) – „… schob seine Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, …“ (S.16) – „Die drei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und sahen ziellos herum.“ (S. 17) – „Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s ausgestreckte Hand; …“ (S. 17)
Den Aufseher hat es dabei besonders ein Nachttisch angetan:
„… und verschob dabei mit beiden Händen die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seinen es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige.“ (S. 14 f.) – „… fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte.“ (S. 15) – „… sagte der Aufseher und sah nach, wie viel Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren.“ (S. 15) – „Der Aufseher schlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder.“ (S. 15)
Das ließe sich fortsetzen und zeigt das Bildhafte, ja geradezu Filmhafte des Romans auf. Und noch etwas habe ich gefunden, das die Nähe zum Film verdeutlicht. Gerade in diesen wenigen ersten Seiten gibt es so etwas wie einen Running Gag. Franz Kafka mag mir diese Bezeichnung verzeihen, aber Kafka benutzte hier ein Stilmittel, das dem ‚Dauerwitz’ sehr nahe kommt. Die Verhaftung von Josef K. wird nämlich während der gesamten Dauer aus dem Nachbarhaus beobachtet. Und in insgesamt acht Textpassagen (oder sind es vielleicht noch mehr) flocht Kafka diese Beobachtung in das Verhaftungsszenario mit ein:
(1) „… sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, …“ (S. 7)
(2) „Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegendem Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehen.“ (S. 8 )
(3) „… drüben sah er die alte Frau, die einen noch viel älteren Greis zum Fenster gezerrt hatte, den sie umschlungen hielt.“ (S. 12)
(4) „… die beiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegendem Fenster waren.“ (S. 12 f.)
(5) „Im gegenüberliegendem Fenster lagen wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen, so weit überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte.“ (S. 14)
(6) „Drüben war noch die Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt dadurch, daß K. ans Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen beruhigte sie.“ (S. 16 f.)
(7) „‚Weg von dort’, rief er [K.] dann hinüber. Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten sogar noch hinter den Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und, nach seinen Mundbewegungen zu schließen, irgend etwas auf die Entfernung hin Unverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern schienen auf den Augenblick zu warten, in dem sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten.“ (S. 17)
Dann zuletzt als K. das Haus verlässt: (8) „…als plötzlich Kullich auf das gegenüberliegende Haustor zeigte, in dem eben der große Mann mit dem blonden Spitzbart erschien und im ersten Augenblick, ein wenig verlegen darüber, daß er sich jetzt in seiner ganzen Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte. Die Alten waren wohl noch auf der Treppe.“ (S. 19)
Max Brod, Freund und Herausgeber der Werke Kafkas schrieb in Franz Kafka. Eine Biographie (Neuausgabe 1974 mit dem Titel: Über Franz Kafka), dass Kafka beim Vorlesen aus diesem Werk vielfach laut lachen musste. Wenn man allein diese Passagen mit den Alten am Fenster liest, kann man das sehr gut nachvollziehen. So ernst und düster der Kern dieses Romans ist, so ist er doch nicht ohne Humor. Reiner Stach, Kafka-Biograf, bringt es in seinem Buch Kafka – Die Jahre der Entscheidungen auf den Punkt: „Denn furchtbar ist das Ganze, aber komisch sind die Details“. Und die Details sind wirklich aberwitzig. So studieren die Richter „Pornohefte statt Gesetzesbücher, sie lassen sich Frauen herbeitragen wie eine prächtige Speise auf einem Tablett. Die Henker sehen aus wie alternde Tenöre. Ein Gerichtsraum hat ein Loch im Boden, so dass ab und zu das Bein eines Verteidigers in den darunter liegenden Raum ragt.“ Besonders die sexuellen Aspekte weisen groteske Züge auf: „Die Frauen sind sirenenhaft, die Vertreter des Gerichts voller lüsterner Gier. Aber genauso ist auch K. voller unbeherrschter Gier Fräulein Bürstner gegenüber („… faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen.“ – S. 30 f.) und erliegt ohne Gegenwehr den angebotenen Verlockungen.“ (Quelle: de.wikipedia.org) – Wenn das nicht filmreif ist?!
Ich kann mir nicht helfen: Würde Kafka heute leben, so könnte ich ihn mir sehr gut als Drehbuch-Autor für einen Film der Coen-Brüder vorstellen. Besonders ein Film wie A Serious Man könnte das Resultat einer Zusammenarbeit der drei sein. Oder vielleicht so: Die Coen-Brüder verfilmen in naher Zukunft Kafkas „Der Prozess“. Denkbar wäre das, ja, geradezu wünschenswert. Warum gerade die Gebrüder Ethan und Joel Coen? Beide sind Juden wie Kafka einer war. Und wellenlängenmäßig, so glaube ich schon, würden sie gut zueinander passen!