Jethro Tull’s Ian Anderson samt Band macht erst einmal einige Tage Pause und weilt dann für zwei Konzerte in Islands Hauptstadt Reykjavik. Die Zeitungskritiken der letzten Konzerte in Deutschland waren durchgehend positiv. Ich will es dem ‚Flötenmann’ gönnen (falls im Netz noch verfügbar):
Konzertbericht: Ian Anderson von Jethro Tull in Mannheim
Gerald Bostock, einst und heute
Frisches vom Flötenmann
Ein Schuljunge im Rentenalter
Querkopf mit Pfiff
Ian Anderson plays Thick As A Brick – live Alfred Fischer Halle, Hamm 23.05.2012
Bevor ich die Akte Ian Anderson und Jethro Tull für einige Zeit schließen möchte (die Akte Jethro Tull ist meines Erachtens trotz anderer Verlautbarung bereits vollständig geschlossen), hier noch einige Infos, Anmerkungen – wie immer man es nennen kann:
Immer wieder findet man die Frage, ob Ian Anderson überhaupt Noten lesen kann. Angeblich kann er keine Noten lesen; ich denke eher, dass er schon Noten lesen kann, aber ihm gelingt es nicht, nach Noten zu spielen. Da hat er etwas mit mir gemeinsam. Die Frage des Notenlesens war bei der Auswahl der jetzigen Begleitmusiker ein wichtiger Punkt. Martin Barre kann nämlich auch nicht nach Noten spielen – und so wäre es schwierig geworden, das 1972er Thick as a Brick, das in zwei Teilen jeweils über 20 Minuten lang ist, ohne Probleme einzuüben. Florian Opahle, der auf der TAAB-Tour Gitarre spielt, hat eine umfangreiche musikalische Ausbildung hinter sich, wird also mit Sicherheit Noten lesen können – so wie ohne Frage auch John O’Hara, der Musik studiert hat. Goodier kommt aus einer musikalischen Familie.
Selbst wer weniger komplexe Musik als z.B. Jethro Tull spielt, kommt irgendwann ohne Noten nicht mehr zurecht. Ich und meine Söhne, die ja auch in einer Band musizieren, benutzen das preiswerte und am Ende ausreichende Guitar Pro – inzwischen in Version 6. Ian Anderson benutzt zum Erstellen von Partituren (z.B. für den Auftritt mit Orchestern) die Software Sibelius.
Nach Noten spielen und Rockmusik, passt das überhaupt zusammen? Bei dem suite-ähnlichen TAAB (1972) ist Notenlesen als Orientierungshilfe sicherlich sinnvoll. Ansonsten aber dürfte es eher ein Hemmschuh sein. Genau das findet sich nach meiner Meinung bei TAAB 2 (2012). Anderson verpasste seinen Jungs recht restriktive Vorgaben, die diese auch ohne Murren einhalten. Aber dann verkommt z.B. das Schlagzeug schnell zur bloßen Begleitung und hat selten starke Stellen. So spielte Florian Opahle selbst in den wenigen Soli eher mit angezogener Handbremse („wie vom Blatt“). Und das Produkt klingt dann für mich eben sehr steril.
Nun nach den Auftritten in Deutschland und der Aufführung sowohl von TAAB 1 als auch TAAB 2 stellt sich die Frage, ob es das Ganze irgendwann einmal auch als Konzert-DVD geben wird.
Wir kennen Ian Anderson als schottischen Knauser. So wollte er partout kein neues Album auf den Markt bringen. Erst nach langem Hin und Her entschied er sich dann ja zu TAAB 2. Und auch da ist er sich nicht sicher …:
„Das war vor 20, 30 Jahren anders. Da konnte man noch erwarten, einige Platten zu verkaufen. Ich werde vermutlich sogar Geld verlieren mit dem Album [gemeint ist TAAB2], das wir gerade aufgenommen haben. Es aufzunehmen, zu mischen und zu mastern, das Cover zu gestalten und so weiter hat etwas mehr als 100.000 Euro gekostet. Ich denke, meine Chancen, mein investiertes Geld von EMI zurückzubekommen sind überhaupt nicht gut. […]“ (Quelle: Wolfgang und Kevin Thomas: Jethro Tull Over Germany: Fotos und Geschichten aus über vier Jahrzehnten, 2012, S. 251)
Ich vermute, dass er das Geld durchaus wieder eingespielt haben wird. Spätestens mit seinen Live-Auftritten fließt reichlich Kohle in die Taschen von Herrn Anderson. Es ist eben ein neues ‚Geschäftsmodell’, dem sich auch Ian Anderson ‚beugen’ muss. Die Konzertsäle waren voll (wenn ’s auch nicht mehr die ganz großen Hallen sind, die er füllt), meist ausverkauft sogar, was er mit der x-ten „Best of …“-Tour sicherlich nicht erreicht hätte. Ob das nun aber zu einer Konzert-DVD reicht, bleibt fraglich. Nochmals O-Ton Anderson:
„ … Youtube als Firma ist verantwortlich für so viele Urheberrechtsverletzungen, dass es sich nicht mehr lohnt, DVDs aufzunehmen und zu veröffentlichen. Das kostet schließlich eine Menge Geld. Man braucht mindestens acht bis zehn Kameras, die ganzen Mischpulte, dann muss das alles editiert und gemischt werden. Wir sprechen hier vermutlich von etwa 100.000 Euro, um eine solche Aufnahme in professioneller Weise machen zu lassen. […] Und wenn Sie am Ende versuchen wollen, ihre 100.000 Euro wieder einzuspielen – vergessen Sie’s. Von einer Musik-DVD verkaufen Sie heute im Schnitt zwischen drei und zehntausend Kopien, vielleicht auch weniger. […] Als das Medium der DVD herauskam, konnten Sie bis zu 50.000 oder sogar 100.000 Exemplare verkaufen. […], wir haben mit „Living with the Past“ 100.000 Kopien verkauft, das war für eine Konzert-DVD ein gutes Ergebnis. Heute würden es mit viel Glück 10.000. […] Wir werden also jetzt hauptsächlich noch Aufnahmen aus der Bandgeschichte veröffentlichen, um die Produktionsfirmen, wie Eagle Vision, am Leben zu erhalten und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Büroreinigungspersonal zu bezahlen.“ (Quelle: Wolfgang und Kevin Thomas: Jethro Tull Over Germany: Fotos und Geschichten aus über vier Jahrzehnten, 2012, S. 200)
Aber vielleicht hat es sich Herr Anderson inzwischen anders überlegt. Und dann gibt es da sicherlich auch einen Live-Mitschnitt beim Montreux Jazz Festival am 1. Juli. Interessant klingt immerhin der Hinweis auf die ‚Aufnahmen aus der Bandgeschichte’. Da soll es noch einiges geben, das für mich auf jeden Fall interessanter wäre als eine DVD von der jetzigen Tournee.
Trotz der negativen Aussagen von Ian Anderson plant er bereits weitere Albumprojekte. Beabsichtigt er, sein Geld aus dem Fenster zu werfen? Oder droht auch den Reinigungskräften bei EMI der Rausschmiss? Da ist zunächst das „string quartet album of mainstream Jethro Tull tracks which will be perfect for the weddings, christenings and funerals of Tull fans”, das ich bereits an anderer Stelle erwähnte und das angeblich sogar schon in Arbeit sein soll. Des Weiteren ist ein Hardrock-Album geplant – wohl wieder unter dem Namen von Jethro Tull, denn Ian Anderson sagt darüber mit Bezug auf den Metal-Grammy vor etlichen Jahren „Maybe the time has come to actually say, ‚You know? All right, maybe we are a hard rock/metal band‘.“ Außerdem denkt er an eine Scheibe im Singer-Songwriter-Stil mit (fast nur) eigener Gitarrenbegleitung (nachzulesen in einem Interview im The Morton Report).
Singer-Songwriter-Stil – wie soll das gehen bei seinem Gekrächze? Nein, ich weigere mich, das weiter zu kommentieren. Schön ist es sicherlich, wenn man im Alter noch so viele Ziele vor Augen hat.
Jethro Tull – This was … Für die nächste Zeit lege ich Herrn Anderson und seine ehemalige Gruppe erst einmal aus Eis. Es gibt noch andere Musik, die mich interessiert. Und außerdem möchte ich wieder mehr lesen. Meinen Ohren kann eine Ruhepause nicht schaden …