Das 20. Jahrhundert war stolz auf seine „innovative“, „avancierte“, „experimentelle“ Moderne. Von Schwitters bis Burroughs und von Joyce bis Arno Schmidt galt die Parole: je extremer, rätselhafter, rücksichtsloser, desto besser. Aber das noch nie Dagewesene hat einen ehrwürdigen Stammbaum. Eigenbrötler, Selbstdenker, bizarre Neuerer hat es in der deutschen Literatur immer gegeben. Einer dieser Alten Wilden war Johann Fischart. Seine Geschichtklitterung ist keine Rabelais-Übersetzung, sondern ein entfesselter Karneval der Wörter. Der Text des Gargantua ertrinkt in einer chaotischen Flut von Sprachspielen und Assoziationen. Fischart selbst nannte sein Werk „ein Muster der heute verwirrten ungestalten Welt“, und Jean Paul sah darin einen „goldhaltigen Strom“. Wir Heutigen können mit glatter Stirn behaupten, daß wir hier ein Finnegans Wake aus dem 16. Jahrhundert vor uns haben. (Quelle: die-andere-bibliothek.de)
Johann Fischarts Geschichtsklitterung findet ihren Niederschlag besonders im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (online aufrufbar). Nirgends wird Fischart mit seinem ‚Karneval der Wörter’ so häufig zitiert wie hier. Man schaue z.B. bei den Stichworten Geschichtsklitterung bzw. Klitterung nach – Schlucker oder gar Kruckenstupfer („der an der krücke geht, eig. mit der krücke wiederholt aufstöszt (stupfen stoszen)“).
siehe auch : Phantasie ohne Grenzen
- [Parat siehe auch im Deutschen Wörterbuch]
Ihr meine Schlampampische gute Schlucker, kurtzweilige Stall und Tafelbrüder: ihr Schlaftrunckene wolbesoffene Kautzen und Schnautzhän, ihr Landkündige und Landschlindige Wein Verderber unnd Banckbuben: Ihr Schnargarkische Angsterträher, Kutterufstorcken, Birpausen, und meine Zeckvollzepfige Domini Winholdi von Holwin: Ertzvilfraß lappscheisige Scheißhaußfüller unnd Abteckerische Zäpfleinlüller: Freßschnaufige Maulprocker, Collatzbäuch, Gargurgulianer: Grosprockschlindige Zipfler und Schmärrotzer: O ihr Latzdeckige Bäuch, die mit eim Kind essen, das ein Rotzige Nasen hat: ja den Löffel wider holt, den man euch hinder die thür würfft: Ja auch ihr Fußgrammige Kruckenstupfer, Stäbelherrn, Pfatengramische Kapaunen, händgratler, Badenwalfarter: Huderer, Gutschirer, Jarmeßbesucher, ihr Gargantztunige Geiermundler und Gurgelmänner, Butterbrater, safransucher, Meß und Marcktbesucher, Hochzeitschiffer, Auffhaspler, Gutverlämmerer, Vaterverderber, Schleitzer, Schultrabeiser: Und du mein Gartengeselschafft vom Rollwagen, vom Marckschiff, von der Spigeleulen, mit eueren sauberen Erndfreien Herbstsprüchen. Ihr Sontagsjüngherlin mit dem feyertäglichen angesicht, ihr Bursch und Marckstanten, Pflastertretter, Neuzeytungspäher, Zeitungverwetter, Naupentückische Nasen und Affenträher, Rauchverkeuffer, Geuchstecher, Blindmeuß und Hütlinspiler, Lichtscheue Augennebeler: Und ihr feine Verzuckerte Gallen und Pillulen, unnd Honiggebeitzte Spinnen. Sihe da, ihr feine Schnudelbutzen. Ihr Lungkitzlige Backenhalter unnd Wackenader, ihr Entenschnaderige, Langzüngige Krummschnäbel, Schwappelschwäble, die eym eyn Nuß vom Baum schwetzen: ihr Zuckerpapagoi, Hetzenamseler, Hetzenschwetzer, Starnstörer, Scherenschleiffer, Rorfincken, Kunckelstubische Gänsprediger, Schärstubner, Judasjagige Retscher, Waffelarten, Babeler und Babelarten, Fabelarten und Fabeler, von der Babilonischen Bauleut eynigkeyt. Ihr Hildenbrandsstreichige wilde Hummeln, Bäumaußreisser, Trotzteuffelsluckstellige Stichdenteuffel unnd Poppenschiser, die dem Teuffel ein horn außrauffen, unnd pulferhörnlein drauß schrauffen. Unnd endlich du mein Gassentrettendes Bulerbürstlein, das hin und wider umbschilet, und nach dem Holtz stincket, auch sonst nichts bessers thut, dann rote Nasen trincket, und an der Geysen elenbogen hincket. Ja kurtzumb du Gäuchhornigs unnd weichzornigs Haußvergessen Mann unnd Weibsvolck, sampt allem anderen dürstigen Gesindlein, denen der roh gefressen Narr noch auffstoset.
Ihr all, sag ich noch einmal, verstaht mich wol, solt sampt und sonders hie sein meine liebe Schulerkindlein, euch wil ich zuschreiben diß mein fündlein, pfündlein und Pfründlein, euer sey diß Büchlin gar mit haut und haar, weil ich doch euer bin so par, Euch ist der Schilt außgehenckt, kehrt hie ein, hie würd gut Wein geschenckt: was lasset ihr lang den Hipenbuben vergebens schreien? Ich kan euch das Hirn erstäubern, Geraten ihr mir zu Zuhörern, so wird gewiß dort die Weißheit auff der Wegscheid umbsonst rufen.
[…]
Johann Fischart: Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung (Text der Ausgabe letzter Hand von 1590)
Hierzu Des Autors Prolog aus François Rabelais: Gargantua und Pantagruel (1532) in einer Übersetzung von Gottlob Regis (1832), der dem obigen Fischart-Text „Ein und VorRitt …“ ‚sehr entfernt’ entspricht.
Sehr treffliche Zecher und ihr, meine kostbaren Venusbrüder (denn euch und sonst niemandem sind meine Bücher zugeschrieben): Alcibiades, in dem Gespräch des Platon, Gastmahl betitelt, sagt unter anderen Reden zum Lob seines Meisters Sokrates, welcher unstreitig der Weltweisen Kaiser und König war, daß er sei gleich den Silenen gewesen. Silenen waren einstens kleine Büchslein, wie wir sie heut in den Läden der Apotheker sehen, von außen bemalt mit allerlei lustigen, schnakischen Bildern, als sind Harpyien, Satyrn, gezäumte Gänslein, gehörnte Hasen, gesattelte Enten, fliegende Böcke, Hirsche, die an der Deichsel ziehen, und andre vergnügliche Bilder mehr, zur Kurzweil konterfeiet, um einen Menschen lachen zu machen: wie denn des guten Bacchus Lehrmeister Silenus auch beschaffen war. Hingegen im Innersten derselben verwahrte man die feinen Spezereien, als Balsam, Bisam, grauen Ambra, Zibeth, Amomum, Edelstein und andre auserlesene Dinge. So, sagt er, war auch Sokrates; weil ihr denselben von außen betrachtend und äußerm Ansehn nach schätzend nicht einen Zwiebelschnitz für ihn gegeben hättet: so häßlich war er von Leibesgestalt, so linkisch in seinem Betragen, mit einer Spitznas, mit Augen wie eines Stieres Augen, mit einem Narrenantlitz, einfältigen Sitten, bäurisch in Kleidung, arm an Vermögen, bei Weibern übel angesehen, untauglich zu allen Ämtern im Staat, immer lachend, immer jedem zutrinkend, immer Leute foppend, immer und immer Verstecken spielend mit seiner göttlichen Wissenschaft. Aber, so ihr die Büchse nun eröffnet, würdet ihr inwendig gefunden haben himmlisch unschätzbare Spezereien: einen mehr denn menschlichen Verstand, wunderwürdige Tugend, unüberwindlichen Starkmut, Nüchternheit sondergleichen, feste Genügung, vollkommenen Trost, unglaubliche Verachtung alles dessen, darum die sterblichen Menschen so viel rennen, wachen, schnaufen, schiffen und raufen.