1988 klopften zwei Damen an Martin Walsers Tür. Sie waren mit dem Zug angereist und hatten vier Kartons mit Schriftstücken bei sich. Es handelt sich um den Nachlass einer unlängst verstorbenen Person. Wohin damit? Eine der Damen war übrigens von der Telefonseelsorge. Lauter Briefe und Karten und Fotos und Aufzeichnungen. Vielleicht interessiert sich der Schriftsteller Herr Walser dafür?
Ein Jahr lang wühlte sich Walser in die Zeugnisse dieses vergangenen, fremden Lebens hinein. „Ein Jahr nur rezeptiv, das ist schlimmer als Militär!“ so Martin Walser später. Mit der Zeit eignete sich Walser restlos seine Figur an und verfasste dann ein starkes und gewitztes, heiteres und weises Buch gegen das Vergessen: Die Verteidigung der Kindheit. Das Buch habe ich als Taschenbuch (Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993) vorliegen und in diesen Tagen erneut gelesen.
„Die Verteidigung der Kindheit – ‚ein fesselndes Deutschlandbuch’, ‚ein Meisterwerk’, ‚ein Epochenroman’, wie die Kritik feststellte – ist zugleich der Roman einer großen Liebe. Da die Welt auf große Liebe nicht gefasst ist, nicht eingerichtet ist, bringt eine solche Liebe den Liebenden nicht das, was man Glück nennt. Weltgerechtes Verhalten und große Liebe – das geht nicht zusammen. Schon gar nicht, wenn diese Liebe die eines Sohnes zu seiner Mutter ist. Und diese Liebes-Geschichte hört auch nach dem Tod der Mutter nicht auf. Denn jetzt muß Alfred Dorn dafür sorgen, daß die Vergangenheit nicht vergeht. Er muß nun die Kindheit verteidigen gegen Gegenwart und Zukunft. Die Verteidigung der Kindheit ist in diesem Sinne als Geschichtsschreibung des Alltags zu verstehen. Das, was nachher Epoche heißt, ist ja zuerst Alltag. Und weil dieser Roman einer großen Liebe von 1929 bis 1987 in Deutschland spielt und von Dresden über Leipzig nach Berlin und Wiesbaden führt, ist er ein deutsches Epos dieser Zeit.“
(aus dem Klappentext)
Nun, Martin Walser zeigte damals Interesse an dem Nachlass und strickte daraus diesen Roman – so wie er Jahre später die ihm angebotenen Akten eines hessischen Landesbeamten, der jahrelang mit seiner vorgesetzten Behörde, der hessischen Staatskanzlei zu Wiesbaden, stritt, zu dem Roman Finks Krieg verarbeitete. Wie hier so sehen wir uns im letzten Drittel des Romans ‚Verteidigung der Kindheit’ in Wiesbaden wieder, wo Alfred Dorn, der Held des Romans, ebenfalls als Beamter arbeitet.
Wie der Roman ‚Finks Krieg’ so verlangt auch die ‚Verteidigung der Kindheit’ viel Geduld vom Leser, denn mit Alfred Dorn haben wir es wieder mit einer der vielen überempfindlichen Walser-Gestalten zu tun, „denen das Leben ganz und gar nicht leichtfällt, denen so vieles mißlingt und die deswegen komisch sind.“ „Sein Held Alfred Dorn ist eine armselige, rührende Erscheinung, eine unausstehliche Mimose, ein Muttersöhnchen, ein Hysteriker. Und doch nimmt man an seinem Schicksal fast ohne Unterlaß mitleidend teil. So fremd einem dieser Neurotiker sein mag, seine überempfindlichen Beobachtungen bieten doch immer wieder Züge an, in denen sich viele wiedererkennen können.“ (Quelle: Ein deutsches Muttersöhnchen – Joseph von Westphalen über Martin Walsers neuen Roman „Die Verteidigung der Kindheit“)
Das vorrangige Interesse Walsers an dem Nachlass dürfte aber auch durch das besondere Verhältnis des Beamten Dorn zu seiner Mutter ausgelöst worden sein. Martin Walser selbst hatte, wie wir in seinem Tagebuch aus dem Jahre 1967 erfahren, ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter und war am Boden zerstört, als diese verstarb. Da war Walser 40 Jahre alt. – Und viele Jahre später beschäftigte sich Walser noch einmal mit einem außergewöhnlichen Sohn-Mutter-Verhältnis in Muttersohn.
Für mich ist es eines der schönsten Romane Martin Walsers, dermaßen detailliert, wie aus dem wahren Leben gegriffen, der uns in eine Zeit führt, die die Älteren unter uns längst vergessen und die die Jungen nicht kennen gelernt haben. So ist es ein Roman gegen das Vergessen, auch wenn es hier ganz speziell auf den Romanhelden gemünzt ist, der in seiner ungewöhnlichen Liebe zu seiner Mutter beginnt, alles zu sammeln, was in seinem Leben von Belang zu sein scheint: „… jetzt kommt es auf jedes Foto an, auf jedes Backrezept, jeden Bettvorleger.“ (S. 263)
Und natürlich sind es Sprüche, Worte, die die Eltern sprachen und die nicht dem Vergessen anheimfallen dürfen: „Laßt den Jungen erst mal groß werden. Vaters Satz. Alfred spürte geradezu, wie Vaters Hand bei diesem Satz auf seinem Kopf hin und her rieb. Da kannste warten, biste schwarz bist. Hatte die Mutter gesagt. Der Vater: Dich laß ich an der ausgestreckten Hand verhungern. Die Mutter: Halt die Luft an. Der Vater: Du kriegst gleich eine gewienert. Die Mutter? Der Vater: Wenn Dummheit weh täte, müsstest du ununterbrochen schreien. Die Mutter? Der Vater: Dumm geboren und nichts dazugelernt. Die Mutter: Halt doch mal deine blöde Pappe. Der Vater: Und wenn ich dir eine vor den Latz knalle. Die Mutter: Das ist gehuppt wie gesprungen. [usw.]“ (S. 437)
Alfred Dorn wünscht sich „soviel Menschen, so viele Museen. Das fände er angemessen. Milliarden Museen. Das wäre seine Welt. Die Frage, wer diese Museen besuche, ist nicht angebracht. Das Bewahren ist ein Bedürfnis. Jeder Mensch will bewahrt werden. Er sagte es ja auch keinem, daß er sich bewahren will. Wahrscheinlich sagt das keiner, deshalb sieht es so aus, als sei jeder mit seiner Vernichtung einverstanden. Jeder Mensch verdient ein Museum.“ (S. 320)
„Gegenwart -, das war für ihn der Zwang, die Vergangenheit zurückzulassen, sich dem Leben zuzuwenden. Leben -, das war eine Zusammenstellung von Aufgaben, die ihm nicht lagen. Zukunft war für ihn nur eine ins Unerträgliche gesteigerte Fortsetzung der Gegenwart: fortgeschrittener Zerfall, den er an Haaren und Zähnen, Haut und Knochen immer schon erlebte und mit immer größerer Aufmerksamkeit und Angst beobachtete. In jedem Augenblick konnte diese Angst vor dem Verfall ausbrechen, der Schrecken, den das Vergehen weckt.“ (S. 198) Nein, Alfred Dorn will und kann nicht erwachsen werden. Die Welt der Erwachsenen bleibt ihm immer fremd. „Besessen trägt Alfred alle Spuren seiner Kindheit, deren er habhaft werden kann, zusammen. Berge von Fotos, Briefe, bis hin zu Kämmen der Mutter“ und eine Fischsturzform. „Auch dies ein rührendes und noch in seinem Wahn ehrenwertes Bemühen in einer Zeit, in der längst die Wegwerfgesellschaft triumphiert.“
Dorns Problem ist die Zeit, in der er lebt. Da gab es noch zwei Deutschland. Und weil er aus dem östlichen ins westliche geflüchtet war, ist es nicht leicht, die Objekte seiner Sammelleidenschaft, die sich noch im Dresden befinden, in den Westen zu bekommen. Und es ist die Zeit selbst, die vergeht und die ihn in Anspruch nimmt für Dinge und „Aufgaben, die ihm nicht lagen.“
„… vor der Pensionierung konnte er nicht beginnen. Aber vorbereitet wollte er sein, wie noch nie jemand vorbereitet gewesen war. Vielleicht war es ein Zeichen der Erschöpfung, daß er jetzt öfter die Hoffnung mobilisierte, die soviel Kraft beanspruchende Vorbereitung sei schon das, was sie vorbereiten sollte: die Verteidigung der Kindheit gegen das Leben.“ (S. 511)
Ja, diesen Walser mag ich, der das Alltägliche unseres Lebens auf eine Weise festzuhalten versteht wie kein anderer und daraus meisterliche Literatur zu gießen versteht. Seine Helden sind meist eigentümliche Versager, die sich kaum gegen die Großsprecher zu wehren verstehen. Aber in aller Tragik besticht Walser durch trockenen Witz, der die dargestellte Pein erträglich macht.
„Es hat lange keinen Roman in deutscher Sprache gegeben, der in diesem Ausmaß Durchblicke auf die historischen und politischen Ereignisse gestattet hat und von Realität durchdrungen ist.“ (Die Zeit)
„Martin Walsers 500seitiges Meisterwerk, das an einem individuellen Lebensschicksal nicht nur Erinnerungsarbeit an das deutsch-deutsche Verhängnis in seinen ‚Kleinkatastrophen’ leistet, sondern sich zu einer ergreifenden Klage über die Unmöglichkeit der Liebe und die Schrecken der Vergänglichkeit überhaupt steigert.“ (Neue Zürcher Zeitung)