Die Eins hinter dem „Zu Martin Walser“ deutet es bereits an: Es kommt noch mehr … Martin Walser ist einer ‚meiner’ Autoren. Er ist der Schriftsteller, ich bin der Leser. Wer schreibt, verarbeitet seine Erfahrungen, wer liest wie ich, liest, um Erfahrungen zu machen. Und so stolpert man hin und wieder über einen Autoren, der einen auf besondere Weise anspricht. Das ist in vielerlei Weise Martin Walser für mich.
Warum jetzt und insbesondere Martin Walser? Ich lese zz. von Jörg Magenau Martin Walser: Eine Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008). „Eine Biographie ist eine Anmaßung.“ (S. 15) schreibt Jörg Magenau, besonders wenn es um einen noch lebenden Schriftsteller geht. Zum Biographiebegehren sagte Walser: „Was Sie da vorhaben, habe ich auch schon dreimal gemacht. Nur habe ich es immer ‚Roman’ genannt.“ Eine Biographie ist ein Puzzle aus vielen unzähligen Einzelteilen, die nicht immer zusammenzupassen scheinen. Und immer fehlen Teile. Trotzdem ist es kein Roman. „Nichts lässt sich erfinden, alles muß gefunden werden.“ (S. 15). Natürlich kann eine Biographie immer nur ein ‚Bild’ vieler möglicher Bilder sein.
Nach fast zwei Drittel des Buchs bin ich dankbar, dass es diese Biographie gibt. Sie gibt Aufschluss über einen Mann, der bereits 86 Jahre zählt und immer noch nicht am Ende ist – zu erzählen. Denn „Walser ist unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln. Was ihm zustößt, beantwortet er mit Literatur.“ (S. 15). „Sein Schreiben ist ein ‚Entblößungs-Verbergungs-Spiel.’ […] ‚Es muß raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen.’“ (S. 16).
Walser der ‚dröhnende Meinungsmacher’ und ‚Politprovokateur’ … „Ob ‚Gesellschaftskritiker’, ‚Kommunist’ oder ‚Nationalist’ – in jeder Phase der Bundesrepublik klebte ihm das jeweils schädlichste Etikett an.“ – „Diese wuchernden Augenbrauen! Diese alemannische Starrköpfigkeit! Dieser Schmerzensreiche, Wehleidige, Dauerbeleidigte! Dieser Geschichtsempfinder und Deutschlanderleider.“ (S. 18) – Und dann ist da noch der Bodensee, von dem sich Martin Walser nie hat lösen können. Ohne das „Schwäbisches Meer“ wären all die Romanfiguren von Anselm Kristlein bis hin zu Gottlieb Zürn nicht möglich.
Ich bin nicht Walser, betitele ich diesen Beitrag. Aber auch wenn ich viele Jahre jünger bin (wenn auch nicht mehr der Jüngste), so gibt es doch Anknüpfungspunkte, die mich mit Walser näher bringen. Die Adenauer-Jahre habe ich noch nicht bewusst erlebt. Dafür bin ich aber schon als Jugendlicher mit einem repressiven Staat in Berührung gekommen, als ich mich 1968 an den Straßenbahnunruhen in Bremen beteiligte. Die 68er-Bewegung der Studenten hatte auch meine Schule erreicht. Durch den Vietnam-Krieg und hier durch die deutsche Politik als Unterstützer der USA wandte sich Martin Walser politisch immer mehr nach links. So reiste Walser nach Moskau und galt in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. Ein Punkt, auf den man näher eingehen sollte. Ich selbst hatte damals Kontakt zu linksgerichteten, so genannten Basisgruppen, wurde aber durch die Dogmatik, dem Glaubenseifer sehr schnell abgeschreckt. Ähnlich muss es Walser 1971 ergangen sein, als er in Moskau zu einem internationalen Schriftstellerkongress eingeladen war. „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)
Walser gilt heute als Nationalist. Man sollte das nicht mit Chauvinismus und Ähnlichem verwechseln. In dem Buch heißt es zum Begriff der Nation: „Nichts Staatliches ist damit gemeint, kein Machtapparat, keine aufputschende Ideologie. Die Nation ist ein geschichtliches, sprachliches und kulturelles Zusammengehörigkeitsgebilde, dem man nicht entrinnen kann. Eine Schicksalsgemeinschaft, in die man durch Geburt gerät.“ (S. 287) – Hier finde ich mich ohne weiteres wieder. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Sprache, die nun einmal meine Muttersprache ist. Ich habe keine Probleme damit, mich zu ihr zu bekennen und habe mich in diesem Blog mit ihr und ihren Ausformungen immer wieder auseinandergesetzt (siehe u.a. Wortschatz).
Als in Deutschland Geborener habe ich wie „jeder Deutsche … die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. Seine vehemente Ablehnung von Gedenkritualen […] wird von hier aus begreiflich.“ (S. 373) – Dem brauche ich von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Die Nazi-Vergangenheit nach dem Terminkalender zu bewältigen ist nicht genug. Wie lasch heute gegen Neonazis vorgegangen wird, verdeutlicht das.
Erwähnungswert ist ohne Zweifel Walsers Verbundenheit mit seiner Heimat. Es ist der Bodensee und es ist die Sprache, der Dialekt. „Gegen die Konjunktivkultur und die Konditionalfiligrane des Alemannischen, sagt Walser, ist das Hochdeutsche doch bloß eine Straßenwalze. Im Dialekt stimmten die Wörter. Sein Verlust – unausweichlich in einer kapitalistischen Ökonomie der Innovation – war eine ‚Vertreibung aus dem Paradies’ … Nicht nur Tierarten sterben aus, sondern auch Worte und mit ihnen Denkmöglichkeiten.“ (S. 359). In meiner Kindheit lebte ich rund drei Jahre in Pforzheim und lernte noch vor dem Hochdeutschen Schwäbisch, einen westoberdeutschen Dialekt bzw. einen Unterdialekt des Alemannischen. Leider ist davon, da ich mit knapp fünf Jahren nach Norddeutschland kam, nichts mehr geblieben.
So fehlt mir schon so etwas wie eine immerwährende Heimat und ich musste mich hier im Norden Deutschlands einrichten. Statt einer alemannischen Starrköpfigkeit ist es eben norddeutsche Sturheit, die mich geprägt hat.
Aber das sind nur einige Berührungs- bzw. Anknüpfungspunkte, die mich Walser so nahe halten. Es sind seine kleinbürgerlichen Helden, für die es nach Walsers Erkenntnis „kein Scheitern gibt, sondern immer nur eine Gesellschaft, die einzelne für gescheitert erklärt.“ (S. 130). Es sind seine Romane, „die sich von der Wirklichkeit nichts vormachen [lassen], sie mach[en] vielmehr der Wirklichkeit vor, wie die Wirklichkeit ist. Sie spiel[en] mit der Wirklichkeit …“ Und „es ist die Hoffnung des Verfassers, er sei Zeitgenosse genug, daß seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten.“ (S. 135). – Mich muten Walsers literarische Erfindungen wirklich oft genug wie eigene Erfahrungen an.