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Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede

Für Martin Walser gibt es zwei Ebenen, um mit der Schuldfrage zu den Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen: „eine öffentlich-rechtliche des Meinens, zu der auch die juristische Aufarbeitung gehört, und eine innerlich-moralische, vor der die eigentliche Schuld verhandelt wird.“ (S. 372) – „Jeder Deutsche hat die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. […] ‚Ein Rechtsnachfolger, der zahlt, organisiert, feiert, gedenkt, so gut er kann: das heißt, der hat einen Terminkalender, der bewältigt. Und wir? Wir lassen bewältigen. Wir alle.’“ (S. 373) Ich habe hier zitiert aus Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008).

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Unter diesem Gesichtspunkt wird vielleicht Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte (Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede) begreifbar. Diese Rede wirbelte viel Staub auf. Walser wurde Antisemitismus vorgeworfen. Kurze Zeit später in seiner Rede zum Jahrestag des Novemberpogroms am 9. November 1998 nannte Ignatz Bubis, der (damalige) Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Walser sogar einen „geistigen Brandstifter“. Sicherlich war die Rede „literarisch kompliziert“ und die Auseinandersetzung Walsers mit dem Thema „rational kontrovers bewertbar“: „Die nationalsozialistischen Verbrechen würden von einigen Leuten dazu missbraucht werden, den Deutschen weh zu tun oder gar politische Forderungen zu stützen. Auch fühle derjenige, der ständig diese Verbrechen thematisiert, sich den Mitmenschen moralisch überlegen. Der Themenkomplex Auschwitz dürfe aber nicht zur ‚Moralkeule’ verkommen, gerade wegen seiner großen Bedeutung.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Ignatz Bubis erregte sich besonders an Walsers „Wegschauen“. Nur meinte Walser mit Sicherheit mit „Wegschauen“ nicht ignorieren und vergessen. Es ist ein schamhaftes „Wegschauen“ im Gegensatz zum „Gaffen“, was in unserer heutigen Gesellschaft so gängig geworden ist. Walser in seiner Rede: „Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […] Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets […].“

Martin Walser betonte, hier seine subjektiv eigene, wenn man so will: private Denkweise wiedergegeben zu haben und plädierte allgemein für eine ‚subjektive’ Geschichtsauffassung. Wie können wir für uns allein „innerlich-moralisch“ Geschichte aufarbeiten, wenn nicht subjektiv geprägt. – Die nachstehende Kontroverse wurde zu einer Diskussion um politische Korrektheit. Ich denke, dass political correctness zu einem Mäntelchen werden kann, unter das manches versteckt wird. Eine offene Debatte ist sinnvoller. Im gewissen Sinne hat Walser diese mit seiner Rede angeregt, wenn auch mit für ihn nicht vorhersehbaren Folgen.

Ich möchte hier nicht weiter auf diese „Sonntagsrede“ eingehen. Die Rede selbst (Martin Walser – Dank: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede) zusammen mit der Laudatio von Frank Schirrmacher – Laudatio: Sein Anteil findet sich im Internet als PDF-Datei bzw. als Text mit einigen Vorbemerkungen.

Wer nach „Martin Walser Sonntagsrede“ googlet wird erstaunt sein, wer sich da alles (ich ja auch) zu Wort gemeldet hat. Die Auseinandersetzung zwischen Walser und Bubis wurde zudem ausführlich von Frank Schirrmacher als Herausgeber in dem Buch Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999 (Inhaltsverzeichnis als PDF) dokumentiert.

Hier nur einige Links im Netz, die sich mit der Rede Walsers bzw. mit der anschließenden Debatte befassen:

Der Streitverlauf in Stimmen und Zitaten
Kritik an Martin Walser
Martin Walsers (Un-)Friedenspreisrede – von Stefan Kühnen

Beängstigend finde ich, wie manche emotional auf die Walser-Rede überreagiert haben. So sah Ignatz Bubis sein Lebenswerk – die Versöhnung mit den Deutschen auf der Basis gemeinsamen Erinnerns an den Holocaust – als gescheitert an. Selbst der blanke Hass tritt da Walser entgegen, als Beispiel der Blog walserbashing. Jahre später hat es Martin Walser bereut, ein ‚Friedensangebot‘ von Ignatz Bubis nicht angenommen zu haben.

siehe auch:
Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser
Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

Kabel Deutschland Kopfstation Rosengarten

Es hat ja etwas gedauert, bis Kabel Deutschland alle allgemein bekannten Free-TV-Sender in seiner Grundversorgung (‚Grundpaket’, also ohne zusätzlichen Vertrag) bei uns unverschlüsselt und digital in die Haushalte einspeist. ‚Bei uns’ heißt im Netz Rosengarten mit dem Versorgungsgebiet: Apensen, Beckdorf, Bendestorf, Bliedersdorf, Buchholz in der Nordheide, Buxtehude, Dollern, Handeloh, Hanstedt in der Nordheide (Weihe), Harmstorf, Horneburg, Jesteburg, Jork, Neu Wulmstorf, Neuenkirchen im Alten Land, Nottensdorf, Otter, Rosengarten, Seevetal, Tostedt, Wistedt. Seit Anfang Mai sind dann auch die Privatsender dabei (von den mir bekannten Free-TV-Sendern fehlt jetzt eigentlich nur noch „Das Vierte“): Endlich unverschlüsselt: Privatsender bei Kabel Deutschland

    Kabel Deutschland

Da Kabel Deutschland es bisher nicht geschafft hat, diese Information auch ihren Kunden mitzuteilen (dafür deckt man uns ansonsten mit Werbung im großen Stil ein), kann ich jedem Kunden nur den KDG Helpdesk empfehlen (das gilt für ALLE Kunden, also nicht nur für die im Landkreis Harburg). Hier findet man alles Wichtige zur Senderbelegung, zum Netzausbau, zu den Preisen usw. – und kann sich über ein Forum auch individuelle Hilfe holen.

    Digitale unverschlüsselte Sender im Netz Rosengarten/Kabel Deutschland

Zurück zum Netz ‚bei uns’, zum Netz Rosengarten:

Über den KDG Helpdesk gibt es schöne Übersichten über die Senderbelegung: Netz Rosengarten, dazu Übersichten aller analogen und digitalen (auch der verschlüsselten) Sender als PDF-Dateien zum Ausdrucken. Als Ergänzung hierzu noch eine PDF-Datei von mir mit allen digitalen und unverschlüsselten Sender in alphabetischer Reihenfolge: DTV-Sender Rosengarten (die Programmbelegung müssen selbst eingetragen werden).

Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

In den 70er Jahren galt Martin Walser als Kommunist, zwanzig Jahre später dann fast schon als Nationalsozialist, zumindest als einer, der den Rechten zuspielt (so mit seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte). Wer viel schreibt und auch viel in der Öffentlichkeit sagt, bietet genügend Angriffsfläche.

Walser ist eloquent, in seinem Schreiben wortreich und ausdrucksvoll, geradezu wortgewaltig. Er lädt dazu ein, missverstanden zu werden. In seiner Beharrlichkeit, auf Begriffe zu bestehen, gelingt es ihm dann nicht immer, diese Missverständnisse auszuräumen.

Was mich lange stutzig gemacht hat, ist die nachgesagte Nähe Walsers zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Es galt als deren Sympathisant. Er war nach Moskau gereist, engagierte sich gegen den Vietnamkrieg und hatte keine ‚Skrupel’ – die ‚Krönung’ aus der Sicht konservativer Kreise -, auch in der UZ, der Zeitung der DKP zu publizieren.

War nun Walser ein Kommunist? Antwort erhoffte ich mir aus Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008).

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Es ist nicht ganz leicht, ein halbwegs genaues Bild vom politischen Weg Walsers zu bekommen. 1969, als sich linke Intellektuelle (Günter Grass u. a.) für die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler einsetzten, empfahl Walser die ADF – Aktion Demokratischer Fortschritt, ein linkes Bündnis. Das sollte dann aber auch seine letzte Wahlempfehlung für eine linksgerichtete Partei sein. Die DKP lehnte er deshalb ab, weil sie von Ost-Berlin gesteuert und moskautreu war. Ihm fehlte (schon damals) das nationale Element. Walser schwebte dagegen ein demokratischer Sozialismus vor, wie er vor allem von den kommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und Frankreichs vertreten wurde, dem so genannten Eurokommunismus; auf Walser bezogen könnte man seine Vorstellung auch einen ‚demokratischen Nationalkommunismus’ nennen.

„Neue Freunde bringen Rettung und Heilung. Mit ihnen erlernt er soziale Verhaltensweisen. Das kranke bürgerliche Individuum gesundet im kraftvollen Kollektiv der Genossen. Walser demonstriert an Gallistl [Die Gallistl’sche Krankheit, Roman 1972] die Einübung in den Sozialismus und tastet sich voran zu ‚Tonarten der Hoffnung’“, heißt auf Seite 301 der Biographie und weiter: „Die Erlösungshoffnung ist brüchig, aber sie besteht.“

Zum angesprochenen Roman schrieb Paul Konrad Kurz im Spiegel: Gesundung in der Partei?:

„Der Ich-Erzähler Josef Georg Gallistl beschreibt sein Krankheitsbild. Da die zu beschreibende Krankheit noch keinen Namen hat, leiht er ihr den eigenen. Gallistls Fall ist in Kürze dieser: Es ist ihm völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, Lust zu empfinden, Sinn zu erfahren, Zukunft vor sich zu sehen, menschliche Kontakte nicht der Lüge, die Gesellschaft nicht der Unmoralität zeihen zu müssen. Es ist die Krankheit des Intellektuellen, vorab des Schriftstellers in dieser Zeit und Gesellschaft. […]

Gallistls ‚Vorstellung von einer besseren Welt’ und dem ‚Leben einen Sinn geben’ mündet in die ‚Partei’. Die im Roman anvisierte sozialistische Idee meint nicht einen bereits vorhandenen Staatsmarxismus oder eine einfach übernehmbare Parteivorstellung. In der neuen Hier-und-Jetzt-Partei darf und muß man selber denken.“

Die Betonung liegt auf ‚selber denken’.

Um diese Art von Utopie zu verstehen, muss man den gesellschaftlich-politischen Hintergrund eingeziehen. 1968 wurden von der großen Koalition von CDU/CSU und SPD die Notstandsgesetze verabschiedet. 1972 erfolgte ein Beschluss der Regierungschefs der Bundesländer und Bundeskanzler Willy Brandts, der so genannte Radikalenerlass, der insbesondere auf die Deutsche Kommunistische Partei zielte.

Ähnlich wie es viele heute sehen, so sah Walser keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten, zwischen CDU/CSU und SPD. Was damals die DKP war, findet sich heute vielleicht in der Linken wieder – eine Position links der verbürgerlichten SPD. Wählbar aber waren bzw. sind beide kaum. So muss eine eigene Alternative her, wenn auch nur eine vorstellbare.

Ich kann Martin Walser sehr gut verstehen. Seine so genannte Nähe zur DKP war eine Ausschau nach dieser Alternativen – spätestens mit dem Besuch eines internationalen Schriftstellerkongress 1971 in Moskau, war ihm bewusst, dass es diese Partei wohl nicht sein kann: „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Als die Grünen gegründet wurden, sah Walser in ihnen eine mögliche Alternative. Heute hat sich seine Ansicht da sicherlich relativiert, auch wenn sein Lebensgefühl eigentlich grün ist, wie er sagt. Immerhin ist er von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident Baden-Württembergs, ganz angetan.

In der Biographie auf S. 369 steht geschrieben: „Er bekennt, daß seine Meinungen von früher ihm fremd geworden sind. Oder genauer: Nicht die Meinungen sind ihm fremd, sondern das Meinen. Er ist immer weniger dazu in der Lage, die dafür erforderliche Eindeutigkeit und Entschiedenheit herzustellen. Er sieht, was er dafür alles weglassen muß, und entwickelt das Bedürfnis, nur noch das zu sagen, was ihn ganz enthält. Das ist seine neue Utopie: eine so umfassende Ausdrucksfähigkeit, daß kein ungesagter Rest zurückbleibt. Meinungen dagegen hinterlassen immer das Gefühl, etwas Wesentliches zu verschweigen: sich selbst.“

Wer das als mögliche politische ‚Trendwende’ versteht, liegt falsch. Walser ging es nie um Allgemeingültiges, um Öffentlichkeit, „deren Sprechen Gefahr läuft, zum Ritual zu verkommen“ (so heißt es nämlich weiter). Es geht ihm um sich selbst, Integrität oder wie immer man es nennen will. Sein Problem: Was er einmal gesagt (oder geschrieben) hat, bleibt beharrlich missverstanden, wenn es erst einmal missverstanden wurde. Die Worte lassen sich nicht mehr löschen (und das Ungesagte bleibt ungesagt), wohl auch nicht das Missverständnis ….

siehe auch: Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Kafkas Unterschrift

Alfred Dorn kennen wir aus Martin Walsers Roman Die Verteidigung der Kindheit. In diesem finden wir einen Samstag im Leben des Roman(un)helden beschrieben, der zunächst wie folgt abläuft:

Am Samstagvormittag holte er bei seinem Buchhändler die bestellte Kaspar-Hauser-Biographie ab, ging ins ESWE-Bad, aß Italienisch, fuhr heim.

Bei dem Bad handelt es sich übrigens um das heutige Freizeitbad Mainzer Straße in Wiesbaden (früher: ESWE-Bad). – In seiner Schulzeit zeigte Alfred Dorn ein besonderes Talent im Fälschen von Unterschriften. So verhalf er seinen Mitschülern zu manch gefälschter Elternunterschrift. Im Roman geht es wie folgt weiter:

… In der Buchhandlung hatte er einen Verlagsprospekt mitgenommen, in dem Kafkas Werke angeboten wurden. Ihn hatte die auf dem Prospekt faksimilierte Unterschrift Fran Kafkas angezogen. Zu Hause fing er an, diese Unterschrift zu üben. Wie das K unten ausschwingt, um die restlichen Buchstaben des Namens wie eine Schale aufzunehmen, dann aber vom f geschnitten wird und gleich aufhört! Er füllte viele Seiten mit diesen Unterschriftsübungen. Morgen würde er sehen, ob seine Hand ein einziges Mal in die Bewegung des Originals hineingefunden habe. Er fand die Unterschriften anderer interessanter, schreibenswerter als seine eigene. Er würde sich einmal dokumentieren als jemand, der nicht auf sich bestehen konnte.

    Kafkas Unterschrift – aus dem Verlagsprospekt

Und …

Dann Telephonate wie immer am Samstag.

aus: Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit
(Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993 – S. 516)

Vor einem Jahr unternahm meine Frau mit ihrer Mutter einen Tagesausflug nach Graal-Müritz an der Ostsee. Kafka weilte vom Juni bis September 1923 (ein Jahr vor seinem Tod) mit seiner Schwester Elli in Müritz und lernte dort seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant kennen (siehe meinen Beitrag: Kafka lächelt mir traurig zu – aber er lächelt). Die kleine Kafka-Vitrine im Heimatmuseum von Graal-Müritz konnte sie zwar nicht besichtigen, aber immerhin brachte sie mir ein gezeichnetes Bildnis Kafkas – eben mit der erwähnten Unterschrift versehen – von der Tagestour mit. Das Bild hängt jetzt in meinem Zimmer.

    Kafka – Zeichnung aus Graal-Müritz/Ostsee

Martin Walser promovierte 1951 in Tübingen mit einer Dissertation zu Franz Kafka:
Beschreibung einer Form: Versuch über Kafka. Dabei mühte sich Walser erst gar nicht über eine Interpretation, Kafka näher zu kommen, sondern tastete sich (wie der Titel schon sagt) an Kafka über die Form heran, über die Untersuchung des Wortes „Schreiben“, wie Kafka seine Ausdrucksmöglichkeit nannte. Walser führt hin zu dem Bild, dass Kafka seine bürgerliche Person reduziert zu Gunsten der stetig wachsenden poetischen Person, Kafka sich selbst an den Schreiber Kafka abgibt und sich dort verwirklicht. Auch Walsers Leben ist geprägt vom ‚Schreiben’. Die (klein-)bürgerliche Person Martin Walser ist auch hier zur poetischen Person angewachsen. Beide, Kafka wie Walser, bevorzugen dabei das handschriftliche Schreiben (Walser: Ein handgeschriebener Brief ist noch in der sachlichsten Form eine Intimität.). Beide führten oder führen Notizbücher mit sich. So ist die Schrift für sich zum markanten Merkmal geworden (siehe auch: So schreiben wie Kafka), ein Fingerabdruck – im Gegensatz zu maschinell verfassten Texten. Schreiben als Schrift.

30. Mai

Den letzten Weltuntergang haben wir ja gerade überlebt, da wartet auf uns schon der nächste. Heute ist nämlich Weltweltuntergangstag (so wie Weltspartag), denn in einem uns bekannten Lied heißt es doch: „Am 30. Mai ist der Weltuntergang, wir leben nicht mehr lang …“

    Am 30. Mai ist der Weltuntergang

Also für alle Fälle das Köfferchen mit den Überlebensrationen (Emergency Ration nennt es der Angelsachse), der Eisernen Ration, gepackt und die ABC-Schutzplane über den Kopf gestülpt. Dann kann er ruhig kommen, der Weltuntergang. Wir werden ihm einen husten.


Die toten Hosen – Am 30. Mai ist der Weltuntergang

Am Ende des Weltuntergangsliedes heißt es übrigens:

Doch keiner weiß in welchem Jahr
und das ist wunderbar.
Wir sind vielleicht noch lange hier
und darauf trinken wir.

Also im nächsten Jahr dann vielleicht wieder auf ein Neues … ?! Prost, meine Damen und Herren!

Willst Lakritz? Otto Kopka ist tot

Es gibt nicht viele Menschen, vor denen ich wirklich Hochachtung habe. Jetzt ist so ein Mensch, Otto Kopka, letzte Woche, am 23. Mai, im 82. Lebensjahr verstorben. Bevor Otto Kopka mit seiner Frau Christa 1995 wie ich mit meiner Familie nach Tostedt zog, war er 30 Jahre als Pastor in Marschacht an der Elbe tätig. In Tostedt verbrachte er seinen Lebensabend.

Otto Kopka (1931-2013)

Als gute Nachbarn hatten wir oft genug Kontakt miteinander und wurden auch öfter von Otto und seiner Frau, nach deren Tod von ihm und seiner Lebensgefährtin, zum Kaffee eingeladen. Bei den anregenden Gesprächen über „Gott und die Welt“ verging die Zeit wie im Fluge. Da sowohl mein Vater wie auch der Vater meiner Frau aus Ostpreußen stammten und Otto Kopka ebenfalls in Masuren 1931 geboren wurde, so haben wir auch über Flucht und Vertreibung während des 2. Weltkrieges und danach gesprochen (siehe auch: Wie konnte es geschehen?).

Wir sprachen auch über die zwischen Ende 1989 und Mai 1991 verstärkt aufgetretenen Leukämie-Erkrankungen in der Samtgemeinde Elbmarsch (8.000 Einwohner), zu der die Gemeinde Marschacht gehört. Fünf Kinder zwischen einem und neun Jahren sowie ein junger Erwachsener waren erkrankt. Die Samtgemeinde Elbmarsch liegt im Urstromtal der Elbe. Das gegenüberliegende Elbufer, an dem das AKW Krümmel liegt, steigt bis zu 70 Metern steil an. Die Krankheitsfälle traten alle entlang der Elbe auf niedersächsischer Seite auf, fünf direkt gegenüber dem Atomkraftwerk Krümmel, in dessen Nachbarschaft sich einer der ältesten deutschen Kernforschungsreaktoren befindet (siehe hierzu: Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch – Buchbeitrag: Die Leukämie in der Elbmarsch). Otto Kopka, damals noch Pastor im Amt, traute den hoffnungslos an Blutkrebs erkrankten Sönke und seine Verlobte Anke: „Anfang Oktober tritt er mit seiner Verlobten vor den Traualtar. Trauer und Glück in einem, Pastor Kopka spricht die Dinge so an, wie sie sind. Daß auch ihm die Stimme zeitweise versagt, ist nur zu verständlich. Auch wenn Sönke im Rollstuhl fährt – die Hochzeit wird im ‚Marschachter Hof’ gefeiert.“

Otto Kopka sang lange Jahre mit kraftvollem Bariton in der Johanneskantorei Tostedt und auch im Heidenauer Kirchenchor. Im Februar 2010 durfte ich mit meiner Frau ihn mit dem Chor und weiteren Mitwirkenden beim Oratorium Der Messias von Georg Friedrich Händel sehen und hören. Die Karten hatten wir von ihm.

    Pastorin Ruth Stalmann-Wendt mit Otto Kopka (Pastor i.R.)

Adventskonzert in der ev.-luth. Maria-Magdalena-Kirche Heidenau am 13.12.2010
Pastorin Ruth Stalmann-Wendt mit Otto Kopka (Pastor i.R.) – Quelle: Gemeindebrief der Kirchengemeinde Heidenau

Otto Kopka, der uns später das Du anbot, war ein aufrechter Christ, der sich vor keinen Karren spannen ließ, vor allem keinen kommunalpolitischen. Er war engagiert in Dingen, die ihn interessierten. So lernte er ausdauernd Polnisch, um mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Tostedts polnische Partnerstadt Lubasczów zu besuchen.

Zum Ende einer Begegnung mit ihm las Otto Kopka uns immer gern etwas vor. Was war da Näherliegendes als eine Erzählung aus Siegfried Lenz’ „So zärtlich wie Suleyken“:

… oder kratzten sich am Fuss oder am Bein.
Dann, nach angemessener Weile, erfolgte wieder etwas Ungewöhnliches. Joseph Gritzan langte in die Tasche, zog etwas Eingewickeltes heraus und sprach zu dem Mädchen Katharina Knack: «Willst», sprach er, «Lakritz?»

Cloud Atlas

Cloud Atlas ist eine Literaturverfilmung aus dem Jahr 2012 nach David Mitchells Roman Der Wolkenatlas. Die US-Amerikaner Lana und Andy Wachowski und der Deutsche Tom Tykwer schrieben gemeinsam das Drehbuch und führten Regie. ‚Cloud Atlas’ gilt zum Zeitpunkt seines Entstehens als einer der teuersten bis dahin produzierten Independentfilme und als der bei weitem teuerste deutsche Film. Als Darsteller sehen wir in jeweils mehreren Rollen Tom Hanks, Halle Berry, Jim Broadbent, Doona Bae, Susan Sarandon, Hugh Grant u.v.a. (Grafik: Übersicht der handelnden Personen zwischen gut und böse).

    Cloud Atlas – Film von Tom Tykwer & den Wachowski-Geschwistern

Der Film Cloud Atlas behandelt sechs verschiedene Schicksale, die einen Zeitraum von 500 Jahren umfassen. Die einzelnen Geschichten sind miteinander verbunden. Die einzelnen Erzählstränge und Zeitebenen wechseln sich im Film ständig ab:

Südpazifik, 1849
Cambridge und Edinburgh, Großbritannien, 1936
San Francisco, 1973
Großbritannien, 2012
Neo-Seoul, Korea, 2144
106. Winter nach der Apokalypse

Ein alter Mann, genannt Zachry (Tom Hanks), erzählt einer Gruppe, die um ein Lagerfeuer herumsitzt, eine lange Geschichte. Diese beschäftigt sich mit den Figuren aus ganz unterschiedlichen Zeitepochen und dennoch sind deren Schicksale allesamt miteinander verknüpft: Ein gebrechlicher Doktor (Hanks) trifft im Jahre 1849 auf einen Anwalt (Jim Sturgess) und einen ausgebrochenen Sklaven (David Gyasi); zwei Komponisten (Jim Broadbent, Ben Wishaw) konkurrieren 1936 miteinander in Cambridge; um 1970 nimmt es eine Journalistin (Halle Barry) mit dem Chef eines Kernkraftwerks (Hugh Grant) auf; 2012 muss ein vom Glück verlassener Buchverleger mit seinem Leben zurechtkommen (Broadbent); 2144 kommt es in „Neo Seoul“ zu einer Affäre zwischen einer Sklavenarbeiterin (DoonaBae) und einem Rebell (Sturgess), der ihr das Leben gerettet hat, und im 24. Jahrhundert verbündet sich schließlich Zachry mit einer reisenden Forscherin (Berry) auf der Suche nach einer bahnbrechenden, alles verändernden Entdeckung…

aus: filmstarts.de


Cloud Atlas – Trailer HD

Mit meinem jüngsten Sohn habe ich den Film am letzten Wochenende gesehen. Wer die Romanvorlage nicht kennt wie ich, wird sich zunächst in dem Film ziemlich verirren. Ein Grund ist wohl der, dass man als Zuschauer versucht, die bestehenden Zusammenhänge ausfindig zu machen. Daher gleich der Tipp: Vernachlässigt das und konzentriert euch auf den Film als solches. Es sind dann eben sechs voneinander (mehr oder weniger) unabhängige Episoden, die nur ständig wechseln. Gegen Ende wird man dann auch von allein den einen oder anderen Zusammenhang ausmachen. Und dann vielleicht den Film bald noch einmal sehen.

Der Deutsche Tom Tykwer (bekannt durch Filme wie Lola rennt und Das Parfüm) führte zusammen mit den Wachowski-Geschwistern (Macher der Matrix-Filme) Regie bei dem Film. Das versprach einiges. Am Ende ist es dann ein Blockbuster in Hollywood-Manier geworden, dabei durchaus einer der besseren Art. Und trotzdem bin ich eher enttäuscht. Mit dem Film wird man gewissermaßen erschlagen durch zu viele Handlungsstränge, durch zu viele Bilder und letztendlich auch durch zu viele handelnde Personen. Auf den anderen Seite wären die einzelnen Episoden für sich allein ziemlich mager und reichten höchstens für mehrere Kurzfilme, die Personen ‚schwimmen’ an der Oberfläche. Was als Buch vielleicht ‚geht’, muss als Film noch lange nicht ‚gehen’.

Was wäre, wenn …

Es ist nicht so, dass ich dem FC Bayern München den Sieg in der Champions League nicht gönne. Aber was wäre, wenn … wenn der Schiedsrichter aus Italien Franck Ribéry (FC Bayern) nach seinem Foul, dem Schlag ins Gesicht von Robert Lewandowski (Borussia Dortmund), in der 26. Minute vom Platz gestellt hätte? Seltsamerweise kippte das Spiel nach diesem Foul zugunsten der Bayern. Zuvor hatten die Dortmunder den Ton angegeben und einige Torchancen herausgespielt, aber nicht verwertet. Ribéry war dann nicht unerheblich an den beiden Toren für die Münchener beteiligt, die sicherlich am Ende verdient mit 2:1 gegen Borussia Dortmund im ersten deutsch-deutschen Champions League-Finale siegten. Aber was wäre, wenn

    Ribéry (FC Bayern) foult Lewandowski (Dortmund) in der 26. Minute

Nachdem bei den Frauen der VfL Wolfsburg nach Meisterschaft und Pokal auch die Champions League im Frauenfußball gewonnen hat, macht sich jetzt der FC Bayern München daran, das so genannte Triple aus Meisterschaft, Sieg in der Champions League und eben den DFB-Pokal (am Samstag, den 1. Juni im Berliner Olympiastadion gegen den VfB Stuttgart) zu holen. Die Stuttgarter haben sich durch das Erreichen des Endspiels für die Europa League in der nächsten Saison qualifiziert.

Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Die Eins hinter dem „Zu Martin Walser“ deutet es bereits an: Es kommt noch mehr … Martin Walser ist einer ‚meiner’ Autoren. Er ist der Schriftsteller, ich bin der Leser. Wer schreibt, verarbeitet seine Erfahrungen, wer liest wie ich, liest, um Erfahrungen zu machen. Und so stolpert man hin und wieder über einen Autoren, der einen auf besondere Weise anspricht. Das ist in vielerlei Weise Martin Walser für mich.

Warum jetzt und insbesondere Martin Walser? Ich lese zz. von Jörg Magenau Martin Walser: Eine Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008). „Eine Biographie ist eine Anmaßung.“ (S. 15) schreibt Jörg Magenau, besonders wenn es um einen noch lebenden Schriftsteller geht. Zum Biographiebegehren sagte Walser: „Was Sie da vorhaben, habe ich auch schon dreimal gemacht. Nur habe ich es immer ‚Roman’ genannt.“ Eine Biographie ist ein Puzzle aus vielen unzähligen Einzelteilen, die nicht immer zusammenzupassen scheinen. Und immer fehlen Teile. Trotzdem ist es kein Roman. „Nichts lässt sich erfinden, alles muß gefunden werden.“ (S. 15). Natürlich kann eine Biographie immer nur ein ‚Bild’ vieler möglicher Bilder sein.

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Nach fast zwei Drittel des Buchs bin ich dankbar, dass es diese Biographie gibt. Sie gibt Aufschluss über einen Mann, der bereits 86 Jahre zählt und immer noch nicht am Ende ist – zu erzählen. Denn „Walser ist unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln. Was ihm zustößt, beantwortet er mit Literatur.“ (S. 15). „Sein Schreiben ist ein ‚Entblößungs-Verbergungs-Spiel.’ […] ‚Es muß raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen.’“ (S. 16).

Walser der ‚dröhnende Meinungsmacher’ und ‚Politprovokateur’„Ob ‚Gesellschaftskritiker’, ‚Kommunist’ oder ‚Nationalist’ – in jeder Phase der Bundesrepublik klebte ihm das jeweils schädlichste Etikett an.“ – „Diese wuchernden Augenbrauen! Diese alemannische Starrköpfigkeit! Dieser Schmerzensreiche, Wehleidige, Dauerbeleidigte! Dieser Geschichtsempfinder und Deutschlanderleider.“ (S. 18) – Und dann ist da noch der Bodensee, von dem sich Martin Walser nie hat lösen können. Ohne das „Schwäbisches Meer“ wären all die Romanfiguren von Anselm Kristlein bis hin zu Gottlieb Zürn nicht möglich.

Ich bin nicht Walser, betitele ich diesen Beitrag. Aber auch wenn ich viele Jahre jünger bin (wenn auch nicht mehr der Jüngste), so gibt es doch Anknüpfungspunkte, die mich mit Walser näher bringen. Die Adenauer-Jahre habe ich noch nicht bewusst erlebt. Dafür bin ich aber schon als Jugendlicher mit einem repressiven Staat in Berührung gekommen, als ich mich 1968 an den Straßenbahnunruhen in Bremen beteiligte. Die 68er-Bewegung der Studenten hatte auch meine Schule erreicht. Durch den Vietnam-Krieg und hier durch die deutsche Politik als Unterstützer der USA wandte sich Martin Walser politisch immer mehr nach links. So reiste Walser nach Moskau und galt in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. Ein Punkt, auf den man näher eingehen sollte. Ich selbst hatte damals Kontakt zu linksgerichteten, so genannten Basisgruppen, wurde aber durch die Dogmatik, dem Glaubenseifer sehr schnell abgeschreckt. Ähnlich muss es Walser 1971 ergangen sein, als er in Moskau zu einem internationalen Schriftstellerkongress eingeladen war. „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Walser gilt heute als Nationalist. Man sollte das nicht mit Chauvinismus und Ähnlichem verwechseln. In dem Buch heißt es zum Begriff der Nation: „Nichts Staatliches ist damit gemeint, kein Machtapparat, keine aufputschende Ideologie. Die Nation ist ein geschichtliches, sprachliches und kulturelles Zusammengehörigkeitsgebilde, dem man nicht entrinnen kann. Eine Schicksalsgemeinschaft, in die man durch Geburt gerät.“ (S. 287) – Hier finde ich mich ohne weiteres wieder. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Sprache, die nun einmal meine Muttersprache ist. Ich habe keine Probleme damit, mich zu ihr zu bekennen und habe mich in diesem Blog mit ihr und ihren Ausformungen immer wieder auseinandergesetzt (siehe u.a. Wortschatz).

Als in Deutschland Geborener habe ich wie „jeder Deutsche … die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. Seine vehemente Ablehnung von Gedenkritualen […] wird von hier aus begreiflich.“ (S. 373) – Dem brauche ich von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Die Nazi-Vergangenheit nach dem Terminkalender zu bewältigen ist nicht genug. Wie lasch heute gegen Neonazis vorgegangen wird, verdeutlicht das.

Erwähnungswert ist ohne Zweifel Walsers Verbundenheit mit seiner Heimat. Es ist der Bodensee und es ist die Sprache, der Dialekt. „Gegen die Konjunktivkultur und die Konditionalfiligrane des Alemannischen, sagt Walser, ist das Hochdeutsche doch bloß eine Straßenwalze. Im Dialekt stimmten die Wörter. Sein Verlust – unausweichlich in einer kapitalistischen Ökonomie der Innovation – war eine ‚Vertreibung aus dem Paradies’ … Nicht nur Tierarten sterben aus, sondern auch Worte und mit ihnen Denkmöglichkeiten.“ (S. 359). In meiner Kindheit lebte ich rund drei Jahre in Pforzheim und lernte noch vor dem Hochdeutschen Schwäbisch, einen westoberdeutschen Dialekt bzw. einen Unterdialekt des Alemannischen. Leider ist davon, da ich mit knapp fünf Jahren nach Norddeutschland kam, nichts mehr geblieben.

So fehlt mir schon so etwas wie eine immerwährende Heimat und ich musste mich hier im Norden Deutschlands einrichten. Statt einer alemannischen Starrköpfigkeit ist es eben norddeutsche Sturheit, die mich geprägt hat.

Aber das sind nur einige Berührungs- bzw. Anknüpfungspunkte, die mich Walser so nahe halten. Es sind seine kleinbürgerlichen Helden, für die es nach Walsers Erkenntnis „kein Scheitern gibt, sondern immer nur eine Gesellschaft, die einzelne für gescheitert erklärt.“ (S. 130). Es sind seine Romane, „die sich von der Wirklichkeit nichts vormachen [lassen], sie mach[en] vielmehr der Wirklichkeit vor, wie die Wirklichkeit ist. Sie spiel[en] mit der Wirklichkeit …“ Und „es ist die Hoffnung des Verfassers, er sei Zeitgenosse genug, daß seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten.“ (S. 135). – Mich muten Walsers literarische Erfindungen wirklich oft genug wie eigene Erfahrungen an.

Neuanfang wagen

Vielleicht geht es doch schneller, als gedacht: Sportdirektor Thomas Eichin vom Fußballbundesligisten SV Werder Bremen will nach dem Abgang von Thomas Schaaf den Neuanfang wagen und macht bereits Nägel mit Köpfen. Als Schaafs Nachfolger wünscht er sich Robin Dutt als Cheftrainer, seit dem 1. August 2012 Sportdirektor beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und damit Nachfolger von Matthias Sammer. Der SV Werder und Dutt haben sich bereits an den DFB gewandt und um die Aufhebung des bis Ende 2016 laufenden Vertrages von Dutt gebeten.

Ich denke, Robin Dutt wäre eine gute Wahl, denn: „Er erfüllt alle Kriterien, die wir für einen Neuanfang aufgestellt haben. Er kennt sich bestens im Nachwuchsbereich aus, kann auf gute Talentförderung verweisen und hat in der Bundesliga bereits nachgewiesen, dass er eine solche Aufgabe erfolgreich meistern kann,“ wie Eichin gestern sagte. Dutt war u.a. von 2007 bis 2011 für den SC Freiburg tätig, wo er erfolgreich die Nachfolge des langjährigen Trainers Volker Finke übernahm und den Klub wieder zurück in die Bundesliga führte. Allerdings wurde er als Nachfolger von Jupp Heynckes bei Bayer 04 Leverkusen in der Saison 2011/2012 nicht ganz so glücklich.

    Neuanfang beim SV Werder Bremen

Und es geht weiter: Felix Kroos und Özkan Yildirim bekamen schon vor Tagen eine Vertragsverlängerung, beides durchaus hoffnungsvolle Nachwuchsspieler, die auch schon in der ersten Mannschaft gute Leistungen zeigten. Und jetzt dann auch die Vertragsunterzeichnung mit Nils Petersen, der bisher von Bayern München ausgeliehen war und für angeblich 3 Millionen € an die Weser wechselt. So ganz mein Wunschkandidat ist er zwar nicht, aber angesichts des deutlich geschrumpften Etats bei Werder die dann doch beste Lösung.

Dafür wird wohl Sokratis Werder in Richtung Dortmund verlassen. Bei einem Marktwert von zz. 10 Millionen € und einem Vertrag bei Werder bis 2016 dürfte eine stattliche Ablösesumme fällig werden (angeblich will Dortmund 9 Millionen € zahlen). Die plant man, in einen Nachfolger des Abwehrchefs zu reinvestieren.

Leider wird auch Kevin de Bruyne die Bremer wieder verlassen. Der junge Belgier war für eine Saison vom FC Chelsea (dort bis 2017 unter Vertrag) ausgeliehen. Die Interessenten für ihn rennen bereits in London die Türen ein. So möchten u.a. gern die Borussen aus Dortmund und Bayer Leverkusen den offensiven Mittelfeldspieler an ihre Vereine binden. Nach jetzigen Stand will der FC Chelsea de Bruyne aber behalten und ihn höchstens noch eine weitere Spielzeit ausleihen. So gesehen hätte Werder Bremen sogar noch eine minimale Chance, ihn für dieses eine Jahr an der Weser zu halten. Werder muss auf jeden Fall Kevin de Bruyne dankbar sein. Ohne seine gute Leistung wären die Bremer mit Sicherheit abgestiegen.

Der Trend ist auf jeden Fall eindeutig und würde durch die Verpflichtung von Robin Dutt nur bestätigt werden: Werder Bremen verzichtet zukünftig auf Stars und setzt (fast) voll auf den Nachwuchs. Lediglich Werders Eigengewächs Aaron Hunt, dem man zur Nominierung in die Nationalmannschaft gratulieren darf, wäre der letzte Spieler von internationaler Klasse.

Und was ist mit Elia und Arnautovic? Wenn z.B. Mannschaften der russischen Liga Interesse zeigen, dann sollte man das nutzen. Beide waren und sind unberechenbare Unruheherde in der Mannschaft, die man nach meiner Meinung möglichst für Werder vorteilhaft los werden sollte. Wenn man der Gerüchteküche um Spielertransfers glauben darf, dann zeigt Werder einiges Interesse an neuen, jungen Spielern für die linke und rechte Außenbahn.

Nach der Saison ist bekanntlich vor der Saison. Es tut sich einiges rund ums Weserstadion. Und das tut auch Not. Warten wir ab, was da noch für Überraschungen auf uns Werder-Fans zukommen. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich bin guter Dinge …

Thomas Mann & Zauberberg’sche Redensarten

Komme ich heute noch einmal auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu sprechen. Ich bin in diesem Roman über viele so genannte Redensarten gestolpert, die, obwohl der Roman inzwischen 89 Jahre auf dem Buckel hat, überraschend aktuell sind, d.h. wir verstehen auch heute noch (meist) die eigentliche Bedeutung, die sich hinter einem saloppen Spruch verbirgt. Ich deutet es als ein positives Zeichen, das belegt, dass unser Wortschatz sich eher vermehrt als abnimmt.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Ich habe mir die Mühe gemacht, viele dieser Redenarten zu sammeln und hier aufzuführen. Wer vielleicht den einen oder anderen Sinn dann doch nicht verstehen sollte, dem sei die Website redensarten-index.de anempfohlen, die vielleicht das ‚Rätsel’ löst. Hier nach einem Stichwort sortiert die gefundenen Redensarten (die Seitenzahl bezieht sich auf die Taschenbuchausgabe Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, hier – 193. – 212. Tausend: Februar 1980):

Stichwort – Redensart
Affe – mich laust der Affe (S. 269)
ahnen – Du ahnst es nicht! (S. 315)
alles – Sein ein und alles gewesen sei (S. 686)
Angst – Kann einem angst und bange werden (S. 392)
aufgebrummt – Aufgebrummt (S. 62)
Augen – Dem gehen die Augen über (S. 652)
ausgespien – Er-ledigt …. und ausgespien (S. 597)
Biegen – denn nun geht es auf Biegen und Brechen (S. 640)
Biegen – auf Biegen und Brechen gehe[n] (S. 737)
Binsen – Geht in die Binsen (S. 372)
Binsen – zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde (S. 442)
Blatt – Das unbeschriebene Blatt (S. 40)
Blaue – ins Blaue hinein (S. 628)
Bock – Einen Bock geschossen (S. 662)
Buch – Wie es im Buche stand (S. 512/ S. 524)
dick – Es so dicke hat (S. 432)
dick – Trage dick … auf (S. 664)
Dinge – Den Dingen ihren Lauf lassen (S. 731)
Ehre – Ehre und Misere (S. 729)
ewig – Ewig und drei Tage (S. 18)
Federlesen – Kein Federlesen machen (S. 681)
Fersengeld – Fersengeld geben (S. 463)
Finger – Nicht den kleinen Finger reichen (S. 64)
Finger – Da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu … (S. 105)
Flinte – Flinte ins Korn werfen (S. 262)
Fuß – auf guten Fuß mit ihm stellen [S. 632)
Fuß – auf Kriegsfuß gestellt (S. 264)
Gedanken – Einen Gedanken nachgehangen (S. 202)
gehen – Wie geht’s, wie steht’s? (S. 387)
Glocke – An die große Glocke gehängt (S. 439)
Gnade – Gnade vor Recht ergehen [lassen] (S. 704)
Gras – Ins Gras beißen (S. 235)
Grund – Er redet … in Grund und Boden (S. 312)
Gurken – Sauregurkenzeit (S. 671)
Haare – Die Haare zu Berge steigen (S. 466)
haben – Hast du was kannst du [was] (S. 262)
Hafer – Stach ihn der Haber [Hafer] (S. 599)
Haufen – Über den Haufen werfen (S. 731)
Hehl – Sich Zwang antun … ein Hehl [daraus] machen (S. 252)
Herzen – Aus seinem Herzen eine Mördergrube machen (S. 251)
Herzen – ist mir ein Stein vom Herzen gefallen (S. 643)
Höhe – Das ist die Höhe! (S. 315)
holterdiepolter – holterdiepolter, über Stock und Stein (S. 269)
holterdiepolter – es geht nachgerade holterdiepolter! (S. 606)
Hund – Kein Hund … vom Ofen locken (S. 731)
Hundert – Vom Hundertsten ins Tausendste kommen (S. 551)
Hut – Auf Ihrer Hut sein (S. 541)
Kauf – In Kauf genommen (S. 285)
Kauf – nahm das in Kauf (S. 290)
Kauf – [etwas] in den Kauf nehmen (S. 615)
Kauf – in den Kauf nehmen (S. 632)
Klipp – Klipp und klar gesagt (S. 262)
Kohlen – Saß wie auf Kohlen (S. 680)
Kopf – Gleich mit dem Kopf durch die Wand (S. 453)
Kopf – Hals über Kopf! (S. 463)
Leber – Was ist dir über die Leber gelaufen? (S. 250)
leibt – Wie sie leibt und lebt (S. 272)
Licht – In einem völlig neuen Lichte erscheinen lassen (S. 251)
Löffeln – Mit Löffeln gegessen (S. 200)
Löwe – Gut gebrüllt, Löwe (S. 236)
lumpen – Sich denn lumpen lassen (S. 214)
Mann – Selbst ist der Mann (S. 441)
Mann – Manns genug (S. 553)
Mark – daß es einem durch Mark und Pfennig geht (S. 617)
Mund – Redete nach dem Munde (S. 377)
Münze – Für bare Münze nehmen (S. 731)
Nase – Drehen [einem] eine Nase (S. 499)
nichts – Mir nichts, dir nichts (S. 60)
nichts – Nichts für ungut! (S. 445)
Ohr – Floh ins Ohr gesetzt (S. 555)
Ohr – Sich die Nacht um die Ohren schlagen (S. 603)
Ohr – Über beide Ohren verliebt sein (S. 613)
Palme – Die Palme glauben reichen zu sollen (S. 165)
Panier – Haben das Panier ergriffen (S. 159)
Pasche – Aus der Pasche ziehen (S. 600)
peinlich – Berührte ihn peinlich (S. 167)
Posten – Auf dem Posten sein (S. 696)
Pudel – wie ein begossener Pudel! (S. 641)
Qual – Tantalusqualen (S. 159)
Rechnung – darin Rechnung tragen (S. 615)
Rockschoß – Hängt sich den Leuten nicht an die Rockschöße (S. 558)
Roß – Vom hohen Roß herunter ( S. 561)
Rücken – [etwas] den Rücken kehren (S. 263)
Schicksal – Dem Schicksal in die Speichen fallen (S. 86)
Schmiede – Vor die rechte Schmiede kommen (S. 159)
Schrot – Von anderem Schrot und Korn (S. 558)
Schürchen – Hatte … am Schnürchen (S.110)
Schweiß – Im Schweiße seines Angesichts (S. 321)
Schwulität – In großen Schwulitäten (S. 653)
Spatzen – Daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sein (S. 168)
Spatzen – Pfiffen die Spatzen es von den Dächern (S. 549)
Spitz – Sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken (S. 610)
Spott – Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen (S. 651)
Stange – Bleibe gleich bei der Stange (S. 529)
Tag – Frisch mit dem jungen Tage (S. 42)
Tasche – daß er uns in die Tasche steckt? (S. 626)
Taubenfüße – Nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen (S. 167)
Tee – Abwarten und Tee trinken (S. 233)
Teufel – In’s Teufels Namen (S. 488)
Wahrheit – Der Wahrheit ins Auge sehen (S. 316)
Wasser – Mit allen Wassern … gewaschen (S. 683)
Weg – Ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen (S. 68)
Weg – ging seines Weges wie ein Mann (S. 617)
Wein – Ihnen reinen Wein einschenken (S. 643)
Wort – Das Wort vom Munde genommen (S. 323)
Würfel – Die Würfel fielen (S. 438)
X – Ein X für ein U [vor-]machen (S. 564)
Zahn – Fühle … ein bisschen auf den Zahn (S. 541)
Zügel – Die Zügel schießen lassen (S. 341)