Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Matt Ruff: Fool on the Hill

Jeder Urlaub geht einmal zu Ende, so auch der meinige. Morgen ruft die Arbeit wieder. Noch soll sie rufen … Nun dieses Jahr fand mein Urlaub überwiegend auf Terrassien statt. Und so widmete ich einige Zeit dem Lesen. Ich glaube mich zu wiederholen, aber Urlaubszeit ist für viele eben auch Lesezeit.

Als letztes habe ich mir ein Buch von knapp 600 Seiten vorgeknöpft, dass ich bereits vor einigen Jahren gelesen hatte – Matt Ruff: Fool on the Hill. Es gehört nicht unbedingt zu den Büchern, die ich ständig lese. Trotzdem hat es mir ganz gut gefallen (sonst würde ich es nicht wiederholt hervorholen). Es ist ein Werk, das zwischen einem herkömmlichen Roman und einer Parodie schwankend reichlich mit Elementen des Science Fiction und Fantasy versehen ist.

Matt Ruff

Der Umschlagtext hierzu verrät:

Stephen Titus George, ein junger amerikanischer Dichter, will sich verlieben. Nur in wen? Die schönste Frau der Welt wäre ihm recht: Aurora Borealis Smith. Nur die ist zu diesem Zeitpunkt noch über hundert Meilen entfernt. Ihr Vater kämpft gerade darum, sie aus ihrer Verlobung mit einem tödlichen Langweiler zu befreien. George macht sich auf seinen von reichlich Abenteuern gesäumten Weg, um seinen Plan in die (erotische)Tat umzusetzen. Er trifft u.a. auf einen atheistischen Kater (Blackjack) und seinen Kumpel Luther (eine fromme Promenadenmischung), auf Kalliope (mir ihr verbringt er eine rauschende Liebesnacht), auf eine trinkfeste Studentengruppe, eine furchterregende Rockerbande, auf Kobolde (handtellergroß), schurkische Drachen und böse Ratten, auf Glücksfeen, auf eine Gummipuppe (monströs), auf Umberto Eco, die Marx-Brothers und auf zwei Tanklastzüge, die mit „der Grundsubstanz zur Herstellung von Damen-Intimsprays beladen sind“. Und begegnet schließlich Rasferret, der darauf lauert, die Welt zu erobern …

Im Mittelpunkt steht der Campus der Cornell University in Ithaka im US-Staat New York. Matt Ruff ist Absolvent dieser Universität und hat seinen Roman in der Zeit von Mai 1985 – April 1987 geschrieben, also als er dort studierte. Dieser sein erster Roman war gleichzeitig seine Magisterarbeit.

Die Frankfurter Rundschau beschreibt das Buch als „märchenhaft“ und als eine Freibeuter-Erotik. „Ein Feuerwerk der ungezügelten Phantasie, eine Wundertüte voll Fröhlichkeit … Ein echter Hit! Witzig und frech!“ – so das Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt.

Nicht zu fassen, was an amerikanischen Universitäten alles passiert, wenn man diesem haarsträubenden Campus-Roman glauben darf, in dem der junge George sich in die schönste Frau der Welt verliebt, der Kobold Puck der Elfe Zephyr nachjagt und Blackjack und Luther in den Himmel für Katzen und Hunde aufbrechen. Ein Sommernachtstraum für Freunde der Hobbits? Eine Love-Story? All das und noch viel mehr ist der „Narr auf dem Hügel“.

Das Buch hätte auch „St. George und der Drachen“ heißen können. Denn Stephen Titus George (S.T. bzw. St. George) und der Kampf mit einem ‚beseelten’ Drachen bildet den Höhepunkt des Romans. Übrigens: den Drachentag (Dragon Day) gibt es tatsächlich und findet rund um den St. Patrickstag statt (hier Bilder vom Dragon Day 2008). In dem Buch sind es die Iden des Märzes.

weitere Infos zum Buch: Fool on the Hill
gleichnamiges Lied von den Beatles: Fool on the Hill

125 Jahre Joachim Ringelnatz: Morgenwonne

Heute vor 125 Jahren wurde Joachim Ringelnatz (eigentlich Hans Gustav Bötticher) geboren. Er war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler, der vor allem für humoristische Gedichte um die Kunstfigur Kuttel Daddeldu bekannt ist.

Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich „Euer Gnaden“.

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

Joachim Ringelnatz

Martin Walser: Seelenarbeit

Urlaubszeit ist Lesezeit! Und nach Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ (1978 erschienen) habe ich Walsers „Seelenarbeit“ aus dem Jahr darauf erneut gelesen.

Ein immer wiederkehrendes Motiv Walsers ist das Scheitern am Leben. Walsers Helden tragen meist einsilbige Nachnamen („Dorn”, „Halm”, „Zürn”, „Lach”, „Gern”), und sie sind den Anforderungen, die ihre Mitmenschen oder sie selbst an sich stellen, nicht gewachsen. Der innere Konflikt, den sie deswegen mit sich austragen, findet sich in allen großen Walser-Romanen wieder – so auch in „Seelenarbeit“.

„Seelenarbeit“ ist ein Heimatbuch, wobei Heimat nicht allein für das Land, die Gegend steht, in der man lebt. Heimat steht hier besonders auch für Familie. Xaver Zürn, Chauffeur eines Industriellen, sehnt sich nach dieser familiären Heimat, wenn er oft tagelang seinen Chef durch Deutschland kutschiert. Aber auch diese Heimat hat ihre Tücken – seine beiden halbwüchsigen Töchter bereiten ihm und seiner Frau Sorgen.

Mehr ist es aber die Arbeit, die er ausübt, die ihm Magen- und Darmprobleme im wahrsten Sinne verursachen. Xaver Zürn ist ein Sklave, dessen man tags wie nachts bedienen kann. Das Buch handelt von konkreten Machtverhältnissen der Gesellschaft, hier der mächtige Chef, dort der dienende Chauffeur. Und so hat Zürns Frust durchaus politische Ursachen. Wie viele Bücher so ist auch dieses eine unverhohlene Kritik Walsers an den Verhältnissen in unserer Gesellschaft.

Das Xaver Zürn am Ende dann doch nicht vollends am Leben scheitert, ist seiner Heimat, der Familie, insbesondere seiner Frau Agnes zu verdanken:

Martin Walser: Seelenarbeit (1979)

Jedesmal meint man, das Schlimmste sei vorbei. Das ist die Illusion, die das Leben verlängert! Das Schlimmste ist immer.

(Martin Walser: Seelenarbeit – Roman – erste Auflage 1979 – S. 265)

Es gab über der Kommode einen Spiegel, in dem sah sich Xaver, als er schon fast ausgezogen war. Er trat sofort zur Seite. Sobald er sich sah, kam es ihm unwahrscheinlich vor, daß Agnes ihn noch ertrug. Manchmal glaubte er zwar, es könne keine Frau geben, die ihn so gut ertrüge wie Agnes. Aber vielleicht erträgt sie ihn gar nicht so gut. Nein, alles falsch. Sie erträgt ihn sehr gut. Ausgezeichnet erträgt sie ihn. Aber sie mag ihn nicht. Das heißt, er wirkt nicht auf sie. Das erlebt er jedes Mal, wenn er spürt, wie sie auf ihn wirkt. Wie er sich sehnt nach ihr. Wie er herumzerren möchte an ihr. Sie zerreißen möchte vor lauter Nicht-von-ihr-genug-kriegen-Können. Wenn es ihr genau so ginge, dann müßten sie einander tatsächlich einmal zerreißen vor Nicht-von-einander-genug-kriegen-Können. Aber ihr geht es nicht so. Das weiß er. Sie erträgt ihn. Sie erträgt ihn sehr gern. Er ist ihr überhaupt nicht widerlich. Hofft er. Heute kommt er ihm besonders unwahrscheinlich vor, daß sie ihn gern erträgt. Er glaubt es einfach nicht. Er, ein zwischen Schultern und Schenkeln schwankende Faß. Im Gesicht das verlegene, ewig die Backen wölbendes Grinsen. Er wird sich immer widerlicher.

(S. 291 f.)

Woher aber diese Empfindung, daß er sich durch Agnes gerechtfertigter vorkommt als ohne sie? Durch Agnes war er möglicher als ohne sie.

(S. 294)

Er hörte ihrem Atem zu. Sie war noch einmal eingeschlafen. Damit war bewiesen, daß sie es gar nicht so dunkel brauchte. Da er auf nichts hören konnte als auf ihren leise anstoßenden Atem, schlief er auch wieder ein.

(S. 295)

Jean-Paul Sartre: Der Ekel

Jean-Paul Sartre, den Begründer des Existentialismus, habe ich bereits kurz vorgestellt. Seinen Roman „Der Ekel“ (französisch: La nausée), der 1938 erschienen war und als Hauptroman des Existentialismus gilt, hatte ich bereits 1979 zum ersten Mal gelesen. Da ich dieses Jahr meinen Urlaub hauptsächlich zu Hause verbringe, und die zz. herrschende Wärme nicht dazu angetan ist, größere Ausflüge zu machen, so habe ich mir einige Bücher herausgesucht, die ich einmal erneut lesen möchte. So auch Sartres „Der Ekel“.

Der Roman ist als Tagebuch verfasst, der Autor ein gewisser Antoine Roquentin, der sich nach längeren Reisen in einer Stadt am Meer namens Bouville niedergelassen hat, um an einem historischen Buch über den Diplomaten Rollebon zu schreiben.

Roquentin lebt allein und hat nur wenige Kontakte zu anderen Menschen in der Stadt. Ihn überkommt ein Ekel, den er eher in den Dingen selbst spürt, und dessen Ursache die Sinnlosigkeit und Zufälligkeit seiner Existenz ist:

Solange man lebt, passiert nichts. Die Szenerie wechselt, Leute kommen und gehen, das ist alles. Nie gibt es einen Beginn, Tag schließt sich an Tag, ohne Sinn und Verstand, eine unaufhörliche und langweilige Addition. Von Zeit zu Zeit zieht man Bilanz: man sagt sich, jetzt bin ich seit drei Jahren auf Reisen, jetzt lebe ich seit drei Jahren in Bouville. Aber ein Ende gibt es ebenso wenig: nie verläßt man endgültig eine Frau, einen Freund, eine Stadt. Und alles ist sich so ähnlich – Shanghai, Moskau, Algier. Nach zwei Wochen ist alles gleich. Bisweilen, aber selten, merkt man auf, wird man sich bewußt, daß man mit einer Frau geschlafen, sich in eine dunkle Sache eingelassen hat. Blitzartig. Und dann beginnt wieder das alte Lied, die Addition von Stunden und Tagen nimmt ihren Fortgang – …

Das heißt leben. Erzählt man aber das Leben, dann ist alles anders, nur bemerkt es keiner. Beweis: man erzählt wahre Geschichten. Als ob es wahre Geschichten geben könnte! Die Ereignisse geschehen in einer bestimmten Reihenfolge, und wir erzählen sie gerade erst. Wir geben uns den Anschein, mit dem Beginn anzufangen: „Es war ein schöner Abend im Herbst 1922. Ich war Bürovorsteher bei dem Notar in Marommes.“ In Wahrheit hat man beim Ende angefangen. Es ist das Ende, unsichtbar und doch gegenwärtig, das diesen wenigen Worten Auftrieb und Wert eines Anfangs beigibt.

(S. 46 f.)

Plötzlich erkennt Roquentin, dass das Schreiben an dem Buch über Rollebon die bisher einzige Rechtfertigung für seine Existenz darstellt:

Herr de Rollebon war mein Partner. Er brauchte mich, um zu sein, und ich brauchte ihn, um mein Sein nicht zu fühlen. Ich lieferte den Rohstoff, von dem ich übergenug hatte und mit dem ich nichts anfangen konnte: die Existenz, meine Existenz. Seine Aufgabe war es, zu repräsentieren. Er stellte sich vor mich hin, ergriff mein Leben, um mir dafür das seinige zu präsentieren. Ich fühlte meine eigene Existenz nicht mehr, in mir selbst existierte ich nicht mehr – nur noch in ihm; für ihn atmete, für ihn aß ich, jede meiner Bewegungen hatte nur noch einen nach außen gerichteten Sinn, war nur noch auf mein Gegenüber, auf ihn abgestimmt. Ich sah meine Hand nicht mehr, die Buchstaben aufs Papier schrieb, nicht einmal mehr den Satz, den ich geschrieben hatte – aber dahinter, hinter dem Stoß Papier, sah ich den Marquis, der diese Geste gefordert und dessen Geste die Existenz verlängert und gefestigt hatte. Ich war nur ein Mittel, ihn am Leben zu erhalten, er war meine Daseinsberechtigung, er hatte mich von mir selbst befreit: Was soll ich jetzt tun?

Vor allem: keine Bewegung, keine Bewegung … Ach! Dieses Zucken mit den Schultern, ich habe es nicht hindern können … Das wartende Ding ist munter geworden, ist auf mich zugekommen, dringt ein in mich, erfüllt mich. Es ist nichts: diese Ding bin ich. Die befreite, entfesselte Existenz fließt in mich zurück. Ich existiere.

(S. 106)

In Abwandlung von Descartes’ „Cogito ergo sum“ („Ich denke also bin ich“) heißt es bei Sartre:

Ich existiere, denn ich denke …

(S. 108)

Jan Palachs Prag

Und hier stampfen die Stiere Picassos.
Und hier marschieren die Elefanten Dalís auf Spinnenbeinen.

Und hier schlagen die Trommeln Schönbergs.

Und hier reitet der Herr de la Mancha.
Und hier trägt man den Hamlet zu Karamasow.
Und hier ist der Kern des Atoms.

Und hier sind die Kosmodrome der Luna.
Und hier steht die Statue ohne Fackel.
Und hier läuft die Fackel ohne Statue.

In memorial: Jan Palach & Jan Zajic

Und es ist einfach. Wo der Mensch
Endet, beginnt die Flamme.
Und dann ist in der Stille das Radebrechen
Des Aschenwurms zu hören. Denn
Die Milliarden Menschen
Halten im wesentlichen das Maul.

Jan Palachs Prag von Miroslav Holub

125 Jahre Franz Kafka

Fast hätte ich es vergessen, denn heute vor 125 Jahren, am 3. Juli 1883 wurde in Prag, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, Franz Kafka geboren. Es zählt zu den bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache.

    Franz Kafka

Also, Franzl, happy birthday!

Kafka ist schwere Kost. Zwar gilt sein Stil als klar und rein. Nach Ansicht des Kafka-Biografen Reiner Stach gibt es bei Kafka buchstäblich kein überflüssiges Wort. Im Grunde ist Kafka leicht zu lesen. Aber der Inhalt hat es in sich:

Da gibt es einen Gregor Samsa, der Held aus der „Verwandlung“, der morgens aufwacht und zum Käfer geworden ist. Oder da wird minutiös ein Foltergerät beschrieben, das dem Delinquenten mit spitzen Nadel in großen Buchstaben die Schuld in den Rücken ritzt. Oder eine Erzählung handelt von einem Hungerkünstler, der vor großem Publikum viele Tage und Wochen lang ‚hungert’. Und ein anderer Varietékünstler ist eigentlich ein von Hagenbeck eingefangener Affe, der fast zum Menschen wird, weil er den Menschen nachahmt. Im Urteil wird der Sohn vom Vater zum Tode des Ertrinkens verurteilt, weil dieser zu heiraten gedenkt und angeblich seinen Freund hintergangen hat. Und der Sohn stürzt die Treppen hinab und stürzt sich in den Fluss. „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Allein dieser letzte Satz hat es mir angetan. Hier wird das endlose Getöse des Straßenverkehrs auf einen Augenblick reduziert, in welchem der Sohn sich in den Fluss fallen lässt. Wie viele andere schicksalhafte Momente mag ein solcher Krach noch verschlucken.


125 Jahre Franz Kafka

Kafka zum Nachlesen online beim Projekt Gutenberg

siehe auch meine Beiträge: Mythos Kafka – Mythos CamusWie wäre es mit Kafka?

Nachtrag: Merkmail 319 von Zweitausendeins:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Traeumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

Bei Zweitausendeins: Franz Kafka, 1.232 Seiten. Nur 9,99 Euro.

Sofies Welt: Aristoteles

Nachdem wir in Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie Sokrates und Platon kennen gelernt haben, will ich heute auf den dritten der großen antiken griechischen Philosophen zu sprechen kommen, Aristoteles (griechisch ?????o?????, * 384 v. Chr. in Stageira (Stagira) auf der Halbinsel Chalkidike; † 322 v. Chr. in Chalkis auf der Insel Euboia), der unsere europäische Gedankenwelt bis heute wesentlich beeinflusst hat. Ohne Aristoteles gäbe es keine Wissenschaften, wie wir diese heute kennen.

Aristoteles

Hier aber wieder zunächst die wichtigsten Textpassagen aus dem Buch:

Philosoph und Wissenschaftler
Aristoteles … war zwanzig Jahre lang Schüler an Platons Akademie.

Aristoteles selber war kein Athener. Er stammte aus Makedonien, kam aber an die Akademie, als Platon 61 Jahre alt war. Sein Vater war ein anerkannter Arzt – also Naturwissenschaftler. Schon dieser Hintergrund sagt etwas über Aristoteles’ philosophisches Projekt aus. Die lebendige Natur interessierte ihn am allermeisten. Er war nicht nur der letzte große griechische Philosoph, er war auch Europas erster großer Biologe.

Wenn wir alles ein bißchen überspitzt formulieren wollen, dann können wir sagen, daß Platon so in die ewigen Formen oder „Ideen“ vertieft war, daß er die Veränderungen in der Natur kaum registrierte. Aristoteles dagegen interessierte sich gerade für die Veränderungen – oder das, was wir heute als Naturprozesse bezeichnen.

Wenn wir es noch überspitzter formulieren wollen, dann können wir sagen, daß Platon sich von der Sinnenwelt abwandte und das, was wir um uns herum sehen, nur flüchtig wahrnahm. (Er wollte doch aus der Höhle heraus. Er wollte in die ewige Ideenwelt schauen!) Aristoteles machte das genaue Gegenteil: Er ging in die freie Natur und studierte Fische und Frösche, Anemonen und Mohnblumen.

Aristoteles’ Bedeutung für Europas Kultur liegt nicht zuletzt darin, daß er die Fachsprache schuf, die die verschiedenen Wissenschaften noch heute verwenden. Er war der große Systematiker, der die verschiedenen Wissenschaften begründete und ordnete.

Keine angeborenen Ideen

Aristoteles glaubte, Platon habe alles auf den Kopf gestellt. Er stimmte seinem Lehrer darin zu, daß das einzelne Pferd „fließt“, und daß kein Pferd ewig lebt. Er stimmte auch darin zu, daß die Pferdeform an sich ewig und unveränderlich ist. Aber die „Idee“ Pferd ist für ihn nur ein Begriff, den wir Menschen uns gemacht haben, nachdem wir eine bestimmte Anzahl Pferde gesehen haben. Die „Idee“ oder die „Form“ Pferd existiert also nicht vor aller Erfahrung. Die „Form“ Pferd besteht für Aristoteles aus den Eigenschaften des Pferdes – wir würden von der Spezies Pferd sprechen.

Mit der „Form“ Pferd meint Aristoteles das, was allen Pferden gemeinsam ist. Und hier stimmt das Bild mit der Pfefferkuchenform nicht mehr, denn Pfefferkuchenformen existieren ja ganz unabhängig vom einzelnen Pfefferkuchen. Aristoteles glaubte nicht, daß solche Formen sozusagen in ihrem eigenen Regalfach in der Natur existieren.

Für Platon ist es der höchste Grad von Wirklichkeit, daß wir mit der Vernunft denken. Für Aristoteles ist es ebenso einleuchtend, daß der höchste Grad der Wirklichkeit darin liegt, daß wir mit den Sinnen wahrnehmen oder empfinden. Platon hält das, was wir um uns herum in der Natur sehen, lediglich für Reflexe von etwas, das in der Welt der Ideen existiert – und damit auch in der Seele des Menschen. Aristoteles meinte das genaue Gegenteil: Was in der Seele des Menschen liegt, sind nur Reflexe der Gegenstände der Natur.

Aristoteles leugnete nicht, daß der Mensch eine angeborene Vernunft hat. Ganz im Gegenteil: Aristoteles zufolge ist gerade die Vernunft das wichtigste Kennzeichen des Menschen. Aber unsere Vernunft ist ganz „leer“, solange wir nichts empfinden. Ein Mensch hat also keine angeborenen „Ideen“.

Die Formen sind die Eigenschaften der Dinge
Aristoteles .. stellt fest, daß die Wirklichkeit aus verschiedenen Einzeldingen besteht, die eine Einheit aus Form und Stoff darstellen. Der „Stoff“ ist das Material, aus dem das Ding besteht, während die „Form“ die besonderen Eigenschaften der Dinge bezeichnet.

Im Stoff liegt immer eine Möglichkeit, eine bestimmte Form zu erlangen. Wir können sagen, daß der Stoff danach strebt, eine ihm innewohnende Möglichkeit zu verwirklichen. Jede Veränderung in der Natur ist Aristoteles zufolge eine Umformung des Stoffes von der Möglichkeit zur Wirklichkeit.

Wenn Aristoteles von „Form“ und „Stoff“ spricht, dann denkt er nicht nur an lebendige Organismen. Wie es die „Form“ des Huhns ist, zu gackern, … ist es die „Form“ des Steins, zu Boden zu fallen.

Logik

Aristoteles war ein peinlich genauer Mann der Ordnung, der in den Begriffen der Menschen aufräumen wollte. Auf diese Weise hat er auch die Logik als Wissenschaft begründet. Er stellte mehrere strenge Regeln auf, welche Schlüsse oder Beweise logisch gültig sind. Ein Beispiel muß uns reichen: Wenn ich zuerst feststelle, daß „alle lebenden Wesen sterblich sind“ (1. Prämisse), und dann feststelle, daß „Hermes [Name eines Hundes] ein lebendes Wesen ist“ (2. Prämisse), dann kann ich die elegante Schlußfolgerung daraus ziehen, daß „Hermes sterblich ist“.

Die Trittleiter der Natur

Die Natur, so Aristoteles, schreitet von den unbeseelten Dingen zu den lebenden Wesen allmählich fort. Auf das Reich der unbeseelten Dinge folgt erst das Reich der Pflanzen, die „im Verhältnis zu den leblosen Dingen fast wie beseelt, im Verhältnis zu den Tieren aber fast wie unbeseelt“ erscheinen. Schließlich teilt Aristoteles auch die lebenden Wesen in zwei Untergruppen ein, nämlich in Tiere und Menschen.

Alles Lebendige (Pflanzen, Tiere und Menschen) hat die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen, zu wachsen und sich zu vermehren. Tiere und Menschen haben außerdem die Fähigkeit, ihre Umwelt zu fühlen und sich in der Natur zu bewegen. Alle Menschen haben dazu die Fähigkeit, zu denken – oder eben ihre Sinneseindrücke zu verschiedenen Gruppen und Klassen zu ordnen.

Und damit besitzt der Mensch einen Funken der göttlichen Vernunft. … Ja, ich habe „göttlich“ gesagt. An einigen Stellen erklärt Aristoteles, daß es einen Gott geben müsse, der alle Bewegungen in der Natur in Gang gesetzt hat. Und so wird Gott zum absoluten Gipfel auf der Trittleiter der Natur.

Aristoteles stellte sich vor, daß die Bewegungen der Sterne und Planeten die Bewegungen hier auf der Erde leiten. Aber irgend etwas muß auch die Himmelskörper bewegen. Dieses Etwas nannte Aristoteles den ersten Beweger oder Gott. Der erste Beweger bewegt sich selber nicht, ist aber die erste Ursache der Bewegungen der Himmelskörper und damit aller Bewegungen in der Natur.

Ethik

Der Mensch wird nur glücklich, wenn er alle seine Fähigkeiten und Möglichkeiten entfalten und benutzen kann.

Aristoteles glaubte an drei Formen des Glücks: Die erste Form des Glücks ist ein Leben der Lust und der Vergnügungen. Die zweite Form des Glücks ist ein Leben als freier, verantwortlicher Bürger. Die dritte Form des Glücks ist ein Leben als Forscher und Philosoph.

Aristoteles betont, daß alle drei Formen zusammengehören, damit der Mensch ein glückliches Leben führen kann. Er lehnte also jede Form der Einseitigkeit ab.

Auch was die Tugenden betrifft, verwies Aristoteles auf einen „goldenen Mittelweg“. Wir sollen weder feige noch tollkühn sein, sondern tapfer. … Auch sollen wir weder geizig noch verschwenderisch sein, sondern großzügig.

Die Ethik von Platon und Aristoteles erinnert an die griechische medizinische Wissenschaft: Nur durch Gleichgewicht und Mäßigung werde ich ein glücklicher oder „harmonischer“ Mensch.

aus: Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie – S. 128-140 – Carl Hanser Verlag 1995

Soweit einige Textpassagen aus „Sofies Welt“, die uns Aristoteles im Wesentlichen als Begründer der modernen Wissenschaften zeigen. Die Systematik des Denkens, wie es von Aristoteles ausgeht, beeinflusst auch noch oder gerade heute unser Denken. Aristoteles entwickelte das System der formalen Logik: er erarbeitete eine vollständige Theorie der Urteile und Schlussfolgerungen, der Definitionen und Beweise, der wissenschaftlichen Einteilungen und Methoden.

Bemerkenswert ist vor allem der weitreichenden Einfluss von Aristoteles auf das Vokabular (in griechischer Originalform oder in lateinischen Ableitungen), das er geprägt hat. Neben Wortpaaren wie Energie und Potential, Materie und ihre Form, Substanz und Wesen, Quantität und Qualität, Genus und Spezies, Subjekt und Prädikat u.s.w. stehen Prägungen wie Ursache (causa), Beziehung (relatio) oder Eigenschaft (Akzidenz).

Aristoteles hat gewissermaßen die Philosophie aus dem Himmel auf die Erde geholt. Aber obwohl seine philosophischen Betrachtungen als Ausgangspunkt die Wahrnehmung und die Empfindungen über die Sinne hatten und er als Begründer der Erfahrungswissenschaft (Empirie) zu gelten hat, fehlen mir bei ihm die platonischen Visionen. Es ist wie ein Blick auf den Teller, von dem wir essen, ohne den Blick über den Tellerrand zu wagen (wenn vielleicht auch nur als Fiktion bzw. Vision).

Lockwood fragte in einem seiner Kommentare: Wann konnte man jemals einen Philosophen lachen hören ? Zu dieser Frage und im Zusammenhang mit Aristoteles fällt mir der Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco ein. Darin spielt eine Klosterbibliothek eine zentrale Rolle und in der ein besonderer Schatz, nämlich das „Zweite Buch der Poetik“ von Aristoteles, welches die Komödie behandelt. Dieses zweite Buch ist zwar von Aristoteles ‚angekündigt’ (als Behandlung des Lächerlichen in der Poetik), aber nicht überliefert. Vielleicht hätten wir hier einen Philosophen lachen hören? Wer weiß …

Licht und Schatten

In meinem Beitrag Sofies Welt: Platon kam ich am Rande auf Platons Höhlengleichnis zu sprechen. In diesem Zusammenhang gab es einige Irritationen (wie die Begriffe Licht und Schatten aufzufassen sind). Daher hier einige Ergänzungen. Zunächst zum Inhalt des Gleichnisses von Platon (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/):

Platon beschreibt einige Menschen, die in einer unterirdischen Höhle von Kindheit an so festgebunden sind, dass sie weder ihre Köpfe noch ihre Körper bewegen und deshalb immer nur auf die ihnen gegenüber liegende Höhlenwand blicken können. Licht haben sie von einem Feuer, das hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und ihren Rücken werden Bilder und Gegenstände vorbeigetragen, die Schatten an die Wand werfen. Die „Gefangenen“ können nur diese Schatten der Gegenstände sowie ihre eigenen Schatten wahrnehmen. Wenn die Träger der Gegenstände sprechen, hallt es von der Wand so zurück, als ob die Schatten selber sprächen. Da sich die Welt der Gefangenen ausschließlich um diese Schatten dreht, deuten und benennen sie diese, als handelte es sich bei ihnen um die wahre Welt.

Platon (bzw. Sokrates) fragt nun, was passieren würde, wenn man einen Gefangenen befreien und ihn dann zwingen würde, sich umzudrehen. Zunächst würden seine Augen wohl schmerzlich vom Feuer geblendet werden, und die Figuren würden zunächst weniger real erscheinen als zuvor die Schatten an der Wand. Der Gefangene würde wieder zurück an seinen angestammten Platz wollen, an dem er deutlicher sehen kann.

Weiter fragt Platon, was geschehen würde, wenn man den Befreiten nun mit Gewalt, die man jetzt wohl anwenden müsste, an das Sonnenlicht brächte. Er würde auch hier zuerst von der Sonne geblendet werden und könnte im ersten Moment nichts erkennen. Während sich seine Augen aber langsam an das Sonnenlicht gewöhnten, würden zuerst dunkle Formen wie Schatten und nach und nach auch hellere Objekte bis hin zur Sonne selbst erkennbar werden. Der Mensch würde letztendlich auch erkennen, dass Schatten durch die Sonne geworfen werden.

Erleuchtet würde er zu den anderen zurückkehren wollen, um über seine Erkenntnisse zu berichten. Da sich seine Augen nun umgekehrt erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen müssten, könnte er (zumindest anfangs) die Schattenbilder nicht erkennen und gemeinsam mit den anderen deuten. Aber nachdem er die Wahrheit erkannt habe, würde er das auch nicht mehr wollen. […]

Platon

Zur Deutung:

Platon veranschaulicht demgemäß durch sein Gleichnis, dass der gewöhnliche Mensch im Alltag wie in einer Höhle lebt. Denn die Dinge, die er als real wahrnimmt, sind Platons Ideenlehre zufolge in Wahrheit nur Schatten und Abbildungen des wahren Seienden. Die Höhle im Gleichnis steht für unsere sinnlich wahrnehmbare Welt, der harte Aufstieg des Höhlenbewohners für den Weg der Seele hinauf bis zur Erkenntnis des tatsächlichen Zentrums des Seins: der Idee des Guten, die im Gleichnis durch die Sonne repräsentiert ist. Es geht im Höhlengleichnis also darum, die Denkkraft nicht auf das sinnlich Wahrnehmbare der uns unmittelbar umgebenden Welt zu lenken, sondern auf das, was hinter dieser Welt steht, beziehungsweise auf den ideellen Ursprung dieser Welt.

Platons Schatten haben nichts mit Finsternis oder Sonnenflucht zu tun. In seinem Höhlengleichnis vertritt er die Theorie, dass wir nicht die Realität wahrnehmen, sondern nur ein Abbild von ihr; Schatten eben.“ wie Lockwood schreibt, wobei das Wort „Realität“ sicherlich nicht ganz treffend ist. Unsere Schattenwelt ist schon die eigentliche Realität. Aber es gibt eine höhere ‚Wirklichkeit’, die Welt der Ideen (das wahre Seiende, wie es etwas sehr abstrakt auch genannt wird), dort, wo wir die ewigen und unveränderlichen „Musterbilder“, die Urbilder hinten den verschiedenen Phänomenen, finden.

Auch wenn Licht und Schatten im eigentlichen Sinne nicht gemeint sind, so spielen beide durchaus eine Rolle in den philosophischen Gedanken von Albert Camus, zu dem ich mich auch schon mehrmals an dieser Stelle geäußert habe. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist mein Beitrag Albert Camus: Der Fremde.

Von Albert Camus gibt es zwei Frühwerke, deren Titel bereits das Thema umreißen:

Licht und Schatten (L’envers et l’endroit, 1937)
Hochzeit des Lichts. Impressionen am Rande der Wüste (Noces, 1938)

Albert Camus

Camus ist in Algerien geboren worden und aufgewachsen, also in einem Land, in dem die Sonne vorherrscht. Es ist nicht verwunderlich, wenn Platon als Grieche zur Veranschaulichung seiner Gedanken ein Gleichnis mit Licht und Schatten gewählt hat. Und so greift auch Camus als Mittelmeermensch zu Licht und Schatten. Nachfolgend einige Auszüge aus einem Aufsatz von Andreas Woyke: Suche nach Einheit und Auflehnung gegen die Welt bei Albert Camus. Bern, 2007, der mir einige wesentliche Punkte der Gedanken Camus’ unter dem Gesichtspunkt von „Licht und Schatten“ wiedergibt:

Im Vorwort zur Neuauflage der frühen Textsammlung „Licht und Schatten“ von 1958 schreibt Albert Camus:

„Ich weiß, dass meine Quelle sich in ‚Licht und Schatten’ befindet, in jener Welt der Armut und des Lichtes, in der ich lange Jahre gelebt habe und die mich dank der Erinnerung heute noch vor zwei gegensätzlichen, jeden Künstler bedrohenden Gefahren bewahrt, nämlich dem Ressentiment und der Sattheit.“

Es liegt also durchaus nahe, die frühen literarischen Texte Camus’ als Hintergrund zu wählen, um das ambivalente Verhältnis zwischen Sinnsuche und Auflehnung gegen eine sinnlose Welt zu beleuchten, mit dem uns seine philosophischen Texte „Der Mythos von Sisyphos“ und „Der Mensch in der Revolte“ konfrontieren. Im Folgenden soll es darum gehen, diesen Zusammenhang im Blick auf die frühe Textsammlung „Die Hochzeit des Lichts“ auszuloten.

Im Vorwort zu „Licht und Schatten“ nennt Camus zwei Erfahrungsdimensionen der Welt, die seit seiner Kindheit und Jugend in Algerien sein Lebensgefühl prägen, nämlich die „Welt der Armut“ und die „Welt des Lichtes“. Die näheren Einflüsse dieser beiden Aspekte präzisiert er wie folgt:

„Das Elend hinderte mich, zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.“

Die Erfahrung von Leid und Armut sowie die schmerzliche Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit stoßen die Sinnsuche zurück und fordern zur Auflehnung gegen die Welt heraus, die eng mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber allen Erlösungshoffnungen verbunden ist:

„Denn hoffen heißt zuletzt entsagen, wenn man auch das Gegenteil zu glauben pflegt. Und leben heißt: nicht entsagen.“

Doch die Schönheiten der algerischen Natur, das Wechselspiel von Sonne und Meer, sowie Erfahrungen der Kunst und des „Zaubers von Orten“ machen auch episodisches Glück und unmittelbare Freude am Dasein möglich. Die Konfrontation mit diesen beiden grundlegenden Dimensionen menschlicher Existenz bildet für Camus den Ausgangspunkt seiner philosophischen Auseinandersetzung mit dem Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen. Die intuitive Erkenntnis der genuinen Aufeinander-Bezogenheit beider Aspekte führt ihn dazu, eine nostalgische Harmoniesehnsucht ebenso zurückzuweisen wie alle religiösen, politischen und sonstigen Entwürfe, die eine radikale Transzendierbarkeit der negativen Seiten der Existenz versprechen:

„Wenn ich mich jetzt gleich in die Wermutbüsche werfe und ihr Duft meinen Körper durchdringt, so werde ich bewusst und gegen alle Vorurteile eine Wahrheit bekennen: die Wahrheit der Sonne, die auch die Wahrheit meines Todes sein wird.“

Wer mag, kann gern den gesamten Aufsatz bei recenseo.de lesen.

Sofies Welt: Platon

Nachdem wir in Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie Sokrates kennen gelernt haben, kommen wir heute auf seinen Schüler Platon (* 427 v. Chr., † 347 v. Chr.) zu sprechen.

Hier zunächst die wichtigsten Textpassagen aus dem Buch:

Platons Akademie

Platon (427 – 347 v. Chr.) war 29 Jahre alt, als Sokrates den Schielingsbecher leeren mußte. Er war lange Schüler des Sokrates gewesen und verfolgte den Prozeß gegen ihn genau. Daß Athen den edelsten Menschen der Stadt zum Tode verurteilen konnte, macht nicht nur einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn; es sollte auch die Richtung seiner gesamten philosophischen Tätigkeit bestimmen.

Platon

Für Platon brachte der Tod des Sokrates glasklar zum Ausdruck, welcher Widerspruch zwischen den tatsächlichen Verhältnissen in einer Gesellschaft und dem Wahren oder Ideellen bestehen kann.

Platons erste Handlung als Philosoph war die Veröffentlichung von Sokrates’ Verteidigungsrede. Darin teilt Platon mit, was Sokrates dem großen Gerichtshof vortrug.

Was Platon betrifft, so glauben wir, daß all seine Hauptwerke erhalten sind (Außer Sokrates’ Verteidigungsrede schrieb er Briefe und nicht weniger als fünfunddreißig philosophische Dialoge.) Daß diese Schriften bewahrt sind, liegt nicht zuletzt daran, dass Platon bei Athen seine eigene philosophische Schule eröffnete. Und zwar in einem Hain, der den Namen des griechischen Sagenhelden Akademos trug. Platons Philosophieschule erhielt deshalb den Namen Akademie.

An Platons Akademie wurden Philosophie, Mathematik und Gymnastik unterrichtet.

Das ewig Wahre, ewig Schöne und ewig Gute
Platon interessierte sich für die Beziehung zwischen dem, was auf der einen Seite ewig und unveränderlich ist – und dem, was auf der anderen Seite „fließt“. (genau wie die Vorsokratiker also!)

Die Sophisten meinten, groß gesagt, die Frage, was recht ist und was Unrecht, verändere sich von Stadtstaat zu Stadtstaat und von Generation zu Generation. Die Frage von Recht und Unrecht sei also etwas „Fließendes“. Sokrates konnte das nicht akzeptieren. Er glaubte an ewige Regeln und Normen für das menschliche Handeln. Wenn wir nur unsere Vernunft anwenden, meinte er, können wir alle solche unveränderlichen Normen erkennen, denn die menschliche Vernunft ist ja gerade etwas Ewiges und Unveränderliches.

Und nun kommt also Platon. Er interessiert sich sowohl für das, was in der Natur ewig und unveränderlich ist – als auch für das, was in Moral und Gesellschaft ewig und unveränderlich ist. Ja, für Platon ist das ein und dasselbe. Er versucht, eine eigene „Wirklichkeit“ zu fassen zu bekommen, die ewig und unveränderlich ist.

Die Welt der Ideen
Empedokles und Demokrit hatten ja schon darauf hingewiesen, daß alle Phänomene in der Natur „fließen“, aber daß es trotzdem „etwas“ gibt, das sich niemals verändert (die „vier Wurzeln“ oder die „Atome“). Platon befaßt sich ebenfalls mit dieser Problematik – aber auf ganz andere Weise.

Platon meinte, daß alles, was wir in der Natur greifen und fühlen können, „fließt“. Es gibt also keine Grundstoffe, die nicht in Auflösung übergehen. Absolut alles, was der „Sinnenwelt“ angehört, besteht aus einem Material, an dem die Zeit zehrt. Aber gleichzeitig ist alles nach einer zeitlosen Form gebildet, die ewig und unveränderlich ist.

Warum sind alle Pferde gleich … Es gibt etwas, das allen Pferden gemeinsam ist, etwas, das dafür sorgt, daß wir niemals Probleme haben werden, ein Pferd zu erkennen. Das einzelne Pferd „fließt“ natürlich. … Aber die eigentliche „Pferdeform“ ist ewig und unveränderlich.

Für Platon ist dieses Ewige und Unveränderliche also kein physischer „Urstoff“. Das Ewige und Unveränderliche sind geistige oder abstrakte Musterbilder, nach denen alle Phänomene gebildet sind.

Er hat sich darüber gewundert, wieso alle Phänomene in der Natur sich so ähnlich sein können, und er ist zu dem Schluß gekommen, daß „über“ oder „hinter“ allem, was wir um uns herum sehen, eine begrenze Anzahl von Formen liegt. Diese Formen nannte Platon Ideen.

Platon glaubte an eine eigene Wirklichkeit hinter der „Sinnenwelt“. Diese Wirklichkeit nannte er die Welt der Ideen. Hier finden wir die ewigen und unveränderlichen „Musterbilder“, die Urbilder hinten den verschiedenen Phänomenen

Sicheres Wissen
Platon geht es darum, daß wir niemals sicheres Wissen über etwas gewinnen können, daß sich verändert. Von dem, was der Sinnenwelt angehört … haben wir nur unsichere Meinungen. Sicheres Wissen können wir nur von dem haben, was wir mit der Vernunft erkennen.
… über das, was wir mit der Vernunft erkennen, können wir sicheres Wissen erlangen. Die Winkelsumme in einem Dreieck beträgt in alle Ewigkeit 180 °. Und so wird auch die „Idee“, daß alle Pferde auf vier Beinen stehen, weiter gelten, selbst wenn alle Pferde in der Sinnenwelt einmal lahm werden sollten.

Eine unsterbliche Seele
Wir haben gesehen, daß Platon die Wirklichkeit für zweigeteilt hielt.

Der eine Teil ist die Sinnenwelt – über die wir nur ungefähre oder unvollkommene Kenntnis erlangen können

Der andere Teil ist die Ideenwelt – über die wir sicheres Wissen erlangen können, wenn wir unsere Vernunft gebrauchen.

Platon zufolge ist auch der Mensch ein zweigeteiltes Wesen. Wir haben einen Körper, der „fließt“. Er ist unlösbar mit der Sinnenwelt verbunden und erleidet dasselbe Schicksal … Aber wir haben auch eine unsterbliche Seele – und sie ist der Wohnsitz der Vernunft. Eben weil die Seele nicht materiell ist, kann sie einen Blick in die Ideenwelt werfen.

Platon meinte weiter, daß die Seele schon existiert hat, ehe sie sich in unserem Körper niederließ: Einst war die Seele in der Ideenwelt. … Aber sowie die Seele in einem Menschenkörper erwacht, hat sie die vollkommenen Ideen vergessen. Und dann passiert etwas, ja, jetzt setzt ein wunderbarer Prozeß ein: Wenn der Mensch die Formen in der Natur erlebt, taucht nach und nach in der Seele eine vage Erinnerung auf … Damit wird auch eine Sehnsucht nach der eigentlichen Wohnung der Seele erweckt. Die Seele verspürt also eine „Liebessehnsucht“ nach ihrem eigentlichen Ursprung. Von nun an erlebt sie den Körper und alles Sinnliche als unvollkommen und unwesentlich … Sie möchte aus dem Kerker der Körpers befreit werden.

(Aber) durchaus nicht alle Menschen lassen ihrer Seele freien Lauf … Die meisten Menschen klammern sich an die „Spiegelbilder“ der Ideen in der Sinnenwelt. Sie sehen ein Pferd … Aber sie sehen nicht das, wovon alle Pferde nur eine schlechte Nachahmung sind.

Wenn Du einen Schatten siehst …, dann denkst Du doch auch, daß etwas diesen Schatten werfen muß. Vielleicht ist das ein Pferd, denkst Du, aber Du kannst nicht ganz sicher sein. Also drehst Du Dich um und siehst das wirkliche Tier – das natürlich unendlich viel schöner und schärfer in den Konturen ist als der unstete Pferdeschatten. DESHALB HIELT PLATON ALLE PHÄNOMENE IN DER NATUR FÜR BLOSSE SCHATTENBILDER DER EWIGEN FORMEN ODER IDEEN. Aber die allermeisten sind mit ihrem Leben unter den Schattenbildern zufrieden. Sie denken nicht daran, daß etwas die Schatten werfen muß. Sie glauben, die Schatten seien alles, was es gibt – und deshalb erleben sie die Schatten nicht als Schatten. Deshalb vergessen sie die Unsterblichkeit ihrer Seelen.

aus: Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie – S. 100-110 – Carl Hanser Verlag 1995

Hier folgt das Höhlengleichnis.

Die Zweiteilung des Menschen in vergänglichem Körper und unsterblicher Seele ist heute nicht nur ein Thema der Religionen, sondern beschäftigt weiterhin viele Menschen. Wer hat sich nicht irgendwann einmal selbst gefragt, ob er so etwas wie eine Seele hat, die zudem unsterblich sein soll. Platons Gedanken sind uns also noch heute ‚vertraut’. Natürlich beinhaltet die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele auch Fragen nach einer Möglichkeit der Seelenwanderung bzw. Wiedergeburt. Hierzu führt Platon aus:

Platon schreibt [der Seele] drei Teile, das Begehrende (to epithymêtikon [Begierde]), das seinen Sitz im Unterleibe, das Mutartige (to thymoeides [Agressionstrieb]), das seinen Sitz in der Brust, und das Denkende (to logistikon [Vernunft]), das seinen Sitz in dem Kopfe hat, zu und vertritt die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, indem er für sie sowohl eine Präexistenz, aus der gefolgert wird, daß das Wissen Erinnerung (anamnêsis) ist, als auch eine Postexistenz mit Wanderung durch verschiedene Leiber und Versetzung in den Fixsternhimmel annimmt.

Neben der menschlichen Seele soll der Kosmos selbst über Vernunft in Form einer Weltseele verfügen. Ähnliche Annahmen finden wir in der indischen Philosophie in Begriffen wie Atman (Einzelseele) und Brahman (Weltseele).

aus Platons Schriften:
Platons Gastmahl
Sokrates bei Projekt Gutenberg (spiegel.de)
Platon bei Projekt Gutenberg (spiegel.de)

Sofies Welt: Sokrates

In einem früheren Betrag hatte ich schon einmal auf Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie hingewiesen. Es ist ein Buch – für Jugendliche ab 14 Jahre gedacht -, dass sich aber auch für Erwachsene eignet, die in aller Schnelle und leicht verständlich eine Übersicht über die Geschichte der Philosophie gewinnen wollen. Ich habe das Buch wieder zur Hand genommen und möchte in loser Folge auf den einen oder anderen Philosophen anhand von Zitaten aus dem Buch eingehen.

Interessant in Sofies Welt sind dabei zunächst die Abhandlungen über die antike griechische Philosophie, die in den Personen Sokrates, Platon und Aristoteles noch heute starken Einfluss auf unser abendländisches Denken (speziell in Europa) ausübt.

So möchte ich heute mit Sokrates (altgriechisch ???????? – * 469 v. Chr.; † 399 v. Chr.) beginnen, der in Athen lebte:

Wer war Sokrates?
Sokrates (470-399 v. Chr.) ist vielleicht die rätselhafteste Person in der gesamten Geschichte der Philosophie. Er hat keine einzige Zeile geschrieben. Trotzdem gehört er zu denen, die den allergrößten Einfluß auf das europäische Denken ausgeübt haben. Daß man ihn kennt, wenn man mit Philosophie wenig am Hut hat, hängt wahrscheinlich mit seinem dramatischen Tod zusammen.

Wir wissen, dass er in Athen geboren wurde, und dass er dort sein Leben vor allem auf Marktplätzen und in Straßen verbrachte, wo er mit allen möglichen Leuten redete. Die Felder und Bäume auf dem Land könnten ihn nichts lehren, meinte er. Er konnte auch viele Stunden lang in tiefes Nachdenken versunken dastehen.

Feststeht, dass er potthässlich war. Er war klein und dick und hatte Glubschaugen und eine Himmelfahrtsnase. Aber sein Inneres war „vollkommen herrlich“, wie es hieß.

Das Leben des Sokrates kennen wir vor allem durch Platon, der sein Schüler war und selber einer der größten Philosophen der Geschichte.

Platon verfasste viele Dialoge – oder philosophische Gespräche-, in denen er Sokrates auftreten läßt.

Gesprächskunst
Der eigentliche Kern in Sokrates’ Wirken war, daß er die Menschen nicht belehren wollte. Statt dessen vermittelte er den Eindruck, selbst von seinem Gesprächspartner lernen zu wollen. Er unterrichtete also nicht wie irgendein Schullehrer. Nein, er führte Gespräche.

vor allem zu Anfang stellte er nur Fragen. So gab er gern vor, nichts zu wissen. Im Laufe des Gesprächs brachte er dann oft den anderen dazu, die Schwächen seiner Überlegungen einzusehen.

Sokrates’ Mutter war angeblich Hebamme, und Sokrates verglich seine eigene Tätigkeit mit der Hebammenkunst. … Sokrates sah also seine Aufgabe an, den Menschen bei der „Geburt“ der richtigen Einsicht zu helfen. Denn wirkliche Erkenntnis muß von innen kommen.

Gerade dadurch, dass er den Unwissenden spielte, zwang Sokrates die Menschen dazu, ihre Vernunft anzuwenden. … Das nennen wir sokratische Ironie. … Athen sei wie eine Stute, sagte Sokrates, und er wie eine Bremse, die ihr in die Flanke steche, um ihr Bewusstsein wachzuhalten.

Richtige Erkenntnis führt zum richtigen Handeln
Sokrates glaubte, eine göttliche Stimme in sich zu hören, und daß dieses „Gewissen“ ihm sagte, was richtig war. Wer wisse, was gut ist, werde auch das Gute tun, meinte er. Er glaubte, die richtige Erkenntnis führe zum richtigen Handeln. … Wenn wir falsch handeln, dann, weil wir es nicht besser wissen. Deshalb ist es so wichtig, unser Wissen zu vermehren.

Sokrates hielt es für unmöglich, glücklich zu werden, wenn man gegen seine Überzeugung handelt. Und wer weiß, wie er zum glücklichen Menschen werden kann, wird auch versuchen, einer zu werden. Deshalb wird jemand, der weiß, was richtig ist, auch das Richtige tun. Denn keine Mensch möchte ja wohl unglücklich sein?

aus: Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie – S. 80-87 – Carl Hanser Verlag 1995

Sokrates

Es ging Sokrates also darum, die Vernunft auf menschliche Problemstellungen anzuwenden. Was vielen von uns heute wie selbstverständlich erscheint, war zu Zeiten der alten Griechen alles andere als alltäglich.

Auch die Geschichte seines Prozesses wegen angeblich verderblichen Einflusses auf die Jugend und wegen Missachtung der Griechischen Götter und seine gelassene Haltung während seines Todes durch den Schierlingsbecher trugen zu seinem Nachruhm bei. Sokrates hätte Athen verlassen können. Aber er war bereit, für seine Überzeugung zu sterben.

Lao-tse: Tao-Tê-King

Bei der Suche nach einem sinnvollen Spruch zur Konfirmation des Patenkindes meiner Frau, bin ich einmal wieder auf Lao-tse und dem „Heiligen Buch vom Weg und der Tugend“ (Tao-Tê-King) gestoßen. Von Lao-tse wissen wir nur sehr wenig. Er lebte voraussichtlich im 6. Jahrhundert v. Chr.; der Name bedeutet „greiser Meister“.

Von diesem alten Meister können wir noch heute vieles lernen. Hier einige Ausschnitte aus dem Leitfaden der Güte, Tugend und Menschlichkeit. Ich habe mich für die folgenden sechs Zeilen als Konfirmationsspruch entschieden:

Gut ist beim Wohnen: der Grund.
Gut ist beim Sinnen: die Tiefe.
Gut ist beim Geben: die Menschlichkeit.
Gut ist beim Reden: die Treulichkeit.
Gut ist beim Herrschen: die Ordnung.
Gut ist beim Schaffen: die Fähigkeit.
Gut ist beim Sich-Regen: die rechte Zeit.

aus Kap. 8

Wer auf Zehen steht, der hält sich nicht;
Wer die Beine spreizt, der wandelt nicht.
Wer sich selbst sieht, ist nicht erleuchtet;
Wer sich selber recht gibt, ist nicht anerkannt;
Wer sich selber aufspielt, hat kein Verdienst;
Wer sich selber rühmt, wird nicht erhöht.

aus Kap. 24

Des Himmels Weg, wie gleicht er dem Bogenspannen!
Was hoch ist, wird niedergedrückt;
Was tief ist, nach oben gezogen;
Was zu viel ist, wird vermindert;
Was unzureichend, wird aufgewogen.

aus Kap. 77