Jean-Paul Sartre, den Begründer des Existentialismus, habe ich bereits kurz vorgestellt. Seinen Roman „Der Ekel“ (französisch: La nausée), der 1938 erschienen war und als Hauptroman des Existentialismus gilt, hatte ich bereits 1979 zum ersten Mal gelesen. Da ich dieses Jahr meinen Urlaub hauptsächlich zu Hause verbringe, und die zz. herrschende Wärme nicht dazu angetan ist, größere Ausflüge zu machen, so habe ich mir einige Bücher herausgesucht, die ich einmal erneut lesen möchte. So auch Sartres „Der Ekel“.
Der Roman ist als Tagebuch verfasst, der Autor ein gewisser Antoine Roquentin, der sich nach längeren Reisen in einer Stadt am Meer namens Bouville niedergelassen hat, um an einem historischen Buch über den Diplomaten Rollebon zu schreiben.
Roquentin lebt allein und hat nur wenige Kontakte zu anderen Menschen in der Stadt. Ihn überkommt ein Ekel, den er eher in den Dingen selbst spürt, und dessen Ursache die Sinnlosigkeit und Zufälligkeit seiner Existenz ist:
Solange man lebt, passiert nichts. Die Szenerie wechselt, Leute kommen und gehen, das ist alles. Nie gibt es einen Beginn, Tag schließt sich an Tag, ohne Sinn und Verstand, eine unaufhörliche und langweilige Addition. Von Zeit zu Zeit zieht man Bilanz: man sagt sich, jetzt bin ich seit drei Jahren auf Reisen, jetzt lebe ich seit drei Jahren in Bouville. Aber ein Ende gibt es ebenso wenig: nie verläßt man endgültig eine Frau, einen Freund, eine Stadt. Und alles ist sich so ähnlich – Shanghai, Moskau, Algier. Nach zwei Wochen ist alles gleich. Bisweilen, aber selten, merkt man auf, wird man sich bewußt, daß man mit einer Frau geschlafen, sich in eine dunkle Sache eingelassen hat. Blitzartig. Und dann beginnt wieder das alte Lied, die Addition von Stunden und Tagen nimmt ihren Fortgang – …
Das heißt leben. Erzählt man aber das Leben, dann ist alles anders, nur bemerkt es keiner. Beweis: man erzählt wahre Geschichten. Als ob es wahre Geschichten geben könnte! Die Ereignisse geschehen in einer bestimmten Reihenfolge, und wir erzählen sie gerade erst. Wir geben uns den Anschein, mit dem Beginn anzufangen: „Es war ein schöner Abend im Herbst 1922. Ich war Bürovorsteher bei dem Notar in Marommes.“ In Wahrheit hat man beim Ende angefangen. Es ist das Ende, unsichtbar und doch gegenwärtig, das diesen wenigen Worten Auftrieb und Wert eines Anfangs beigibt.
(S. 46 f.)
Plötzlich erkennt Roquentin, dass das Schreiben an dem Buch über Rollebon die bisher einzige Rechtfertigung für seine Existenz darstellt:
Herr de Rollebon war mein Partner. Er brauchte mich, um zu sein, und ich brauchte ihn, um mein Sein nicht zu fühlen. Ich lieferte den Rohstoff, von dem ich übergenug hatte und mit dem ich nichts anfangen konnte: die Existenz, meine Existenz. Seine Aufgabe war es, zu repräsentieren. Er stellte sich vor mich hin, ergriff mein Leben, um mir dafür das seinige zu präsentieren. Ich fühlte meine eigene Existenz nicht mehr, in mir selbst existierte ich nicht mehr – nur noch in ihm; für ihn atmete, für ihn aß ich, jede meiner Bewegungen hatte nur noch einen nach außen gerichteten Sinn, war nur noch auf mein Gegenüber, auf ihn abgestimmt. Ich sah meine Hand nicht mehr, die Buchstaben aufs Papier schrieb, nicht einmal mehr den Satz, den ich geschrieben hatte – aber dahinter, hinter dem Stoß Papier, sah ich den Marquis, der diese Geste gefordert und dessen Geste die Existenz verlängert und gefestigt hatte. Ich war nur ein Mittel, ihn am Leben zu erhalten, er war meine Daseinsberechtigung, er hatte mich von mir selbst befreit: Was soll ich jetzt tun?
Vor allem: keine Bewegung, keine Bewegung … Ach! Dieses Zucken mit den Schultern, ich habe es nicht hindern können … Das wartende Ding ist munter geworden, ist auf mich zugekommen, dringt ein in mich, erfüllt mich. Es ist nichts: diese Ding bin ich. Die befreite, entfesselte Existenz fließt in mich zurück. Ich existiere.
(S. 106)
In Abwandlung von Descartes’ „Cogito ergo sum“ („Ich denke also bin ich“) heißt es bei Sartre:
Ich existiere, denn ich denke …
(S. 108)