Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Heute Ruhetag (40): Umberto Eco – Der Name der Rose

    Rosa que al prado, encarnada,
    te ostentas presuntüosa
    De grana y carmín bañada:
    campa lozana y gustosa;
    pero no, que siendo hermosa
    también serás desdichada.
    Sor Juana inés de la Cruz
    Rose, die rot auf dem Anger
    Stolz du dich spreizest
    Gebadet in Purpur und Karmesin:
    Prunke üppig und duftend.
    Doch nein, denn schön seiend
    Wirst du bald unglücklich sein.

Umberto Eco ist gewissermaßen der Steven Spielberg der Literatur. Spielberg verwirklicht seine Kindheitsträume, in dem er Filme dreht, in denen er Abenteuer (z.B. mit Indiana Jones) darstellt, wie sie Kinder gern erleben würden. Eco hegt Interesse für die Mediävistik, der Wissenschaft von europäischen Mittelalter. Und so schreibt er als Kenner Romane, die das Mittelalter wachrufen.

In der Nachschrift zum >Namen der Rose< (dtv 10552 - Deutscher Taschenbuch Verlag, April 1986) schreibt er ganz unverblümt: „… die Gegenwart kenne ich nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe ich Kenntnis aus erster Hand.“ (S. 22)

Mit seinem Roman Der Name der Rose wurde Umberto auch bei uns bekannt, ein Roman, der das Mittelalter mit seinen Kämpfen zwischen Kaiser und Papst zum Leben erweckt, der gleichzeitig ein Kriminalroman ist – und uns an den geistigen und geistlichen Auseinandersetzungen einer Zeit vor annähernd 700 Jahren teilhaben lässt.

„Begonnen habe ich im März 1978, getrieben von einer vagen Idee: Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften. Ich glaube Romane entstehen aus solchen Ideenkeimen, der Rest ist Fruchtfleisch, das man nach und nach ansetzt.“ (S. 21 der Nachschrift)

Gestern (Die Bibliothek als Labyrinth) bin ich schon einmal ziemlich tief in diesen Roman eingetaucht. Heute nun (bevor ich etwas näher auf den Roman insgesamt eingehen werde) möchte ich erst einmal zum Lesen dieses ungewöhnlichen Romans einladen, der vor rund 20 Jahren die Bestseller-Listen stürmte, ich fürchte, aber nur von den Wenigsten wirklich zu Ende gelesen wurde.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbe Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en frangais d’après l’édition de Dom J. Mabillon (Aux Presses de l’Abbaye de la Source, Paris 1842). Das Buch, versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit recht dürftig waren, präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der große Gelehrte des 17. Jahrhunderts, dem wir so vieles für die Geschichte des Benediktinerordens verdanken, angeblich seinerseits im Kloster Melk gefunden hatte.

Der kostbare Fund – meiner, also der dritte in zeitlicher Folge – heiterte meine Stimmung auf, während ich in Prag die Ankunft einer mir teuren Person erwartete. Sechs Tage später besetzten sowjetische Truppen die gebeutelte Stadt. Ich konnte glücklich die österreichische Grenze bei Linz erreichen, begab mich von dort aus weiter nach Wien, wo ich mit der langersehnten Person zusammentraf, und gemeinsam machten wir uns, aufwärts dem Lauf der Donau folgend, auf die Rückreise.

[…]

    Umberto Eco als William von Baskerville

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Das selbige war im Anfang bei Gott, und so wäre es Aufgabe eines jeden gläubigen Mönches, täglich das einzige eherne Faktum zu wiederholen, dessen unumstößliche Wahrheit feststeht. Doch videmus nunc per speculum in aenigmate [Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem Rätsel; Paulus: 1. Kor. 13,12], die Wahrheit verbirgt sich im Rätsel, bevor sie sich uns von Angesicht zu Angesicht offenbart, und nur für kurze Augenblicke (oh, wie so schwer zu fassende!) tritt sie hervor im Irrtum der Welt, weshalb wir ihre getreulichen Zeichen entziffern müssen, auch wo sie uns dunkel erscheinen und gleichsam durchwoben von einem gänzlich aufs Böse gerichteten Willen.

Dem Ende meines sündigen Lebens nahe, ergraut wie die Welt und in der Erwartung, mich bald zu verlieren im endlosen formlosen Abgrund der stillen wüsten Gottheit, teilhabend schon am immerwährenden Licht der himmlischen Klarheit, zurückgehalten nur noch von meinem schweren und siechen Körper in dieser Zelle meines geliebten Klosters zu Melk, hebe ich nunmehr an, diesem Pergament die denkwürdigen und entsetzlichen Ereignisse anzuvertrauen, deren Zeuge zu werden mir in meiner Jugend einst widerfuhr. Verbatim [wörtlich] will ich berichten, was ich damals sah und vernahm, ohne mich zu erkühnen, daraus einen höheren Plan abzuleiten, vielmehr gleichsam nur Zeichen von Zeichen weitergebend an jene, die nach mir kommen werden (so ihnen der Antichrist nicht zuvorkommt), auf daß es ihnen gelingen möge, sie zu entziffern.

Der Herr gewähre es mir in seiner Gnade, ein klares Bild der Ereignisse zu entwerfen, die sich zugetragen in jener Abtei, deren Lage, ja selbst deren Namen ich lieber verschweigen möchte aus Gründen der Pietät. Es geschah, als das Jahr des Herrn 1327 sich neigte – dasselbe, in welchem der Kaiser Ludwig gen Italien zog, um die Würde des Heiligen Römischen Reiches wiederherzustellen gemäß den Plänen des Allerhöchsten und zur Verwirrung des ruchlosen, ketzerischen und simonistischen [nach dem Zauberer Simon, Apostelgeschichte 8,9 ff. – Kauf, Verkauf von geistlichen Ämtern] Usurpators, der damals in Avignon Schande über den heiligen Namen des Apostolischen Stuhles brachte (ich spreche von der sündhaften Seele jenes Jakob von Cahors, den die Gottlosen als Papst Johannes XXII. verehrten).

[…]

Umberto Eco: Der Name der Rose (als PDF)

Die Bibliothek als Labyrinth

Man stelle sich eine digitale Bibliothek vor. Genau, da gibt es nicht viel für die Fantasie. Alles kleine Schalterchen, Bits die zu Bytes mutieren und am Ende Festplatten, DVDs oder andere Speichermedien belegen.

Anders ist es, wenn man z.B. an die Bibliothek von Alexandria denkt. Hier befanden sich neben unzähligen anderen Büchern z.B. die „Bücher des Aristoteles und des Theophrast, die Ptolemaios II. vom Erben des letzteren erwerben konnte; allerdings scheint die angekaufte Bibliothek des Aristoteles nicht komplett gewesen zu sein, da ein Teil noch 86 v. Chr. in Athen dem römischen Feldherrn Sulla in die Hände fiel.“

Und da fällt uns sicherlich die unendliche Bibliothek von Babel aus den Phantastische Erzählungen des im Alter erblindeten Jorge Luis Borges ein.

Und schon wird der geneigte Bibliotheksbenutzer, der bekanntlich ein Leser ist, eins und eins zusammengezählt haben, denn wohin sollte das führen, wenn nicht zu Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Denn darinnen geht es u.a. um eine Bibliothek, um einen blinden Hüter einer Klosterbibliothek namens Jorge von Burgos (oh, dies Namensähnlichkeit, die offensichtlich gewollte) und um ein Buch … von Aristoteles: nämlich um das offenbar einzige erhaltene Exemplar des „Zweiten Buches der Poetik“.

Und es geht um mysteriöse Todesfälle in Der Name der Rose. Aber ich will nicht zuviel verraten. Ich verbleibe bei der Bibliothek, die in dem Roman eine Hauptrolle spielt (neben dem besagten Buch) und die ein Labyrinth zu sein scheint, ein Rätsel. Aber Rätsel sind dazu da, sie zu lösen. Und so machen sich die beiden Hauptfiguren William von Baskerville und sein junger Gehilfe („Adlatus“), Adson von Melk, der zugleich Ich-Erzählers des Romans ist, auf, das Rätsel zu lösen (neben dem Rätsel der vielen Todesfälle).

»Versuch doch einmal, den Grundriß der Bibliothek zu zeichnen. Du wirst sehen, daß es bei jedem Turm zwei Räume geben muß, die einerseits an den siebeneckigen Innenraum angrenzen und andererseits an zwei Räume mit Fenstern zum Achteck…« [I-VIII, dunkelgrün]
Ich versuchte es, entwarf den Grundriß nach den Angaben meines Meisters und stieß einen Freudenschrei aus. »Jetzt wissen wir alles! Laßt mich einmal zählen . . . Ja, die Bibliothek hat sechsundfünfzig Räume, vier siebeneckige [a-d, dunkelblau] und zweiundfünfzig mehr oder minder quadratische, von denen acht fensterlos sind [I-VIII, dunkelgrün], während achtundzwanzig nach außen [4x 1-5, gelb / A-H, braunrot] gehen und sechzehn nach innen [1-16, weinrot]
»Und die vier Ecktürme haben jeder fünf Räume mit vier Wänden und einen mit sieben . . . Die ganze Anlage folgt einer himmlischen Harmonie, der sich vielerlei tiefe und wundersame Bedeutungen zuordnen lassen…«

Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1982, S.277

    Die Bibliothek als Labyrinth: 56 Räume

4x 7-eckige Räume (a-d) dunkelblau
16x quadratische Räume innen (1-16) weinrot
8x quadratische Räume außen (mit Fenster) (A-H) braunrot
20x 4 Türme a 5 Räume außen (1-5) gelb
8x Räume ohne Fenster (I – VIII) dunkelgrün

56 Räume hat die Bibliothek also. Und diese sind nach einem bestimmten Muster angelegt:

… daß die Bibliothek tatsächlich nach dem Muster des Weltkreises angelegt war. Im Norden lagen die Zonen ANGLIA und GERMANIA, die sich längs der westlichen Außenwand mit der Zone GALLIA verbanden, um dann am äußersten Westrand in die Zone HIBERNIA zu münden und gen Süden überzugehen in die Zonen ROMA (Paradies lateinischer Klassiker!) und YSPANIA. Tief im Süden (das heißt im Südturm) schloß sich die Zone LEONES an, gefolgt von AEGYPTUS und weiter östlich fortgesetzt von IUDAEA und schließlich FÖNS ADAE. Zwischen Osten und Norden erstreckte sich längs der Außenwand die Zone ACAIA – eine treffliche Synekdoche, wie mein Meister sich ausdrückte, um das alte Griechenland zu bezeichnen, und tatsächlich fanden wir in jenen Räumen eine Fülle von Werken heidnisch-antiker Dichter und Philosophen.

Die Disposition der Buchstaben innerhalb einer Zone war, gelinde gesagt, recht eigenwillig. Manchmal mußte man geradeaus gehen, manchmal rückwärts, manchmal im Kreise, oft diente ein Buchstabe in zwei Wörtern zugleich (und in solchen Fällen hatte dann der betreffende Raum mindestens einen Schrank mit vermischten Werken). Nirgends gab es so etwas wie eine goldene Regel, es handelte sich offenkundig um reine Eselsbrücken, die dem Bibliothekar das Auffinden eines bestimmten Buches erleichtern sollten. Trug ein Buch zum Beispiel die Signatur Quarta Acaiae, so stand es im vierten Raum der Zone ACAIA, wenn man beim ersten mit dem roten A zu zählen begann, und zweifellos wußte der Bibliothekar längst auswendig, wie er dorthin gelangte, sei’s auf geraden oder verschlungenen Wegen. ACAIA zum Beispiel verteilte sich auf vier Räume, die zusammen ein ungefähres Quadrat bildeten, in welchem das erste A zugleich das letzte war — eine im Grunde recht einfache Sache, die auch wir bald begriffen hatten. Wie uns auch bald das Spiel der Vermauerungen klar wurde. Kam man zum Beispiel von Osten in die Zone ACAIA, so führte keiner der Räume weiter nach Norden: Das Labyrinth war an dieser Stelle verschlossen, und um in den Nordturm zu gelangen, mußte man erst die drei anderen Türme passieren. Aber natürlich wußten die Bibliothekare genau, wenn sie die Bibliothek im FÖNS ADAE betraten, daß sie, um beispielsweise nach ANGLIA zu gelangen, zuerst durch AEGYPTUS, YSPANIA, GALLIA und GERMANIA gehen mußten.

Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1982, S.410 f.

    Die Bibliothek als Labyrinth: die Büchersammlung gemäß der mittelalterlichen Geografie geordnet
    Die Bibliothek als Labyrinth: Zone Leones (Löwen) = Afrika

Alles wäre natürlich so einfach, wäre da nicht doch noch ein Raum, der siebeneckige in der Mitte des Südturms. Um ihn herum erstreckt sich ‚Leones’ (‚Löwen’), also die Zone mit den Autoren Afrikas. Aber es gibt keinen Eingang zu ihm. Hier befindet sich „Finis Africae’, das ‚Ende von Afrika’. Und hier wird das besagte Buch des Aristoteles vermutet. Eines der sieben Räume, die sich Wand an Wand um diesem Raum schlängeln, ist der Spiegelraum, der durch seine konvexen und konkaven Spiegel ungebetene Besucher der Bibliothek erschrecken und damit verjagen soll.

Aber es muss dann doch einen (sogar zwei) Zugänge zu diesen Raum geben.

Venantius von Salvemec, der früh ermordete Übersetzer aus dem Griechischen und Arabischen und Aristoteles-Experte, der sich ebenfalls auf die Suche nach dem Buch des Aristoteles gemacht hatte und daher sterben musste, hatte sich eine Notiz gemacht, die in Geheimschrift verfasst und die den beiden, William und Adson, schon früh in die Hände gefallen war:

»Zweifellos eine Geheimschrift, die wir entziffern müssen«, sagte er. »Die Zeichen sind schlecht gemalt, und vielleicht hast du sie in deiner Kopie noch mehr verzerrt, aber es handelt sich fraglos um ein Alphabet aus Tierkreiszeichen. Sieh hier, in der ersten Zeile haben wir« – er hielt die Tafel mit gestreckten Armen weit von sich und kniff die Augen zusammen – »Schütze, Sonne, Merkur, Skorpion . . . «

Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1982, S.210

Das Rätsel des Venantius: SECRETUM FINIS AFRICAE ...

»Ja, und der Schlüssel war ziemlich leicht zu finden. Venantius hatte die zwölf Tierkreiszeichen genommen, dazu die acht Zeichen der fünf Planeten, der beiden Himmelsleuchten und der Erde. Insgesamt also zwanzig Zeichen – genug, um ihnen die Buchstaben des lateinischen Alphabets zuzuordnen, wenn man davon ausgeht, daß ein und derselbe Buchstabe für die Anfangslaute der Wörter unum und velut stehen kann.
Die Reihenfolge der Buchstaben ist bekannt. In welcher Reihenfolge konnten die Zeichen geordnet sein? Ich versuchte es mit der Ordnung der Himmelsgewölbe, indem ich den Zodiakus an die äußere Peripherie setzte. Also Erde, Mond, Merkur, Venus, Sonne und so weiter, danach die Tierkreiszeichen in ihrer traditionellen Abfolge, wie sie auch Isidor von Sevilla klassifiziert hat, vom Widder und der Frühlingssonnwende bis zu den Fischen. Und nun schau mal, wenn man diesen Schlüssel anwendet, ergibt Venantius‘ Geheimbotschaft tatsächlich einen Sinn.«

Er zeigte mir das Pergament, auf dem er die rätselhafte Botschaft in große lateinische Lettern transkribiert hatte, und ich las:

SECRETUM FINIS AFRICAE MANUS SUPRA IDOLUM AGE PRIMUM ET SEPTIMUM DE QUATUOR.

»Klar?« fragte William.
»Die Hand über dem Idol wirke ein auf den Ersten und Siebenten der Vier…«, wiederholte ich kopfschüttelnd. »Nein, das ist überhaupt nicht klar!«

Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1982, S.265/266

Aber, dem Leser ist es klar, das die beiden durch gegenseitige Hilfe (und durch den unumgänglichen Zufall) herausbekommen werden, was das zu bedeuten hat, der Schlüssel zum Geheimnis um das Ende Afrikas: SECRETUM FINIS AFRICAE!

Wie gesagt: Bei dem gesuchten Buch handelt es sich offenbar um das einzige erhaltene Exemplar des „Zweiten Buches der Poetik“ des Aristoteles, in dem die Komödie behandelt wird (nach der Tragödie im ersten). Zu einer Bibliothek gehört natürlich auch ein Katalog, in dem möglichst systematisch alle vorhandene Bücher vermerkt sind:

William eilte sofort ins Skriptorium zurück, ließ sich von Benno die Erlaubnis zur Benutzung des Kataloges geben und blätterte ihn rasch durch. »Es muß hier irgendwo sein«, sagte er, »ich hab’s noch vor einer Stunde gesehen… Ah, hier ist es ja! Lies diese Eintragung!«
Unter einer gemeinsamen Signatur
(»finis Africae«) standen vier Titel, es handelte sich ganz offensichtlich um einen Band mit verschiedenen Texten. Ich las:

I. ar. de dictis cujusdam stulti
II. syr. libellus alchemicus aegypt.
III. Expositio Magistri Alcofribae de coena beati Cypriani Cartagi-nensis Episcopi
IV. Liber acephalus de stupris virginum et meretricum amoribus

»Was ist das?« fragte ich.
»Unser Buch«, flüsterte William.

Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1982,S. 559

Ich hoffe, die Übersetzung der Titel halbwegs richtig ‚getroffen’ zu haben: Bei dem Meister Alcofribas (Alcofribas Rasier) handelt es sich übrigens um ein Anagramm des Namens von François Rabelais, dem Autoren von Gargantua und Pantagruel.

I. Arabisch – Über die Worte gewisser Narren
II .Syrisch – ägyptisches Büchlein der Alchemie
III. (in Lateinisch) Darlegung des Meisters Alcofribas über das prächtige ‚Gastmahl’ des Cyprian, Bischof von Karthago
IV. (in Griechisch) Buch ohne Kopf von der Schändung der Jungfrauen und der Liebe zur Dirne

„Unser Buch“ – es ist dabei sogar nur der 4. Teil, der in Griechisch verfasste …

Soviel für heute. Zum Roman selbst komme ich in den nächsten Tagen (ich muss ihn noch zu Ende lesen). Ich weiß, dass das Buch beim ersten Erscheinen ein absoluter Renner war (Bestseller nennt man das wohl), sowohl in Italien als auch in Deutschland und anderswo. Wie viele es aber tatsächlich gelesen haben, darüber gibt es natürlich keine Informationen. Dafür gab es dann 1986 die Verfilmung, die aber kaum den Zugang zu den tieferen Schichten dieses Buches gerecht wurde.

Javier Marías: Morgen in der Schlacht denk an mich

    Meine jetzt so unübersehbare Präsenz wird schon morgen durch eine Kopfbewegung und einen aufgedrehten Wasserhahn geleugnet werden, und für sie wird es sein, als wäre ich nicht gekommen, und ich werde nicht gekommen sein, denn sogar die Zeit, die sich zu verrinnen sträubt, verrinnt schließlich und entschwindet durch den Abfluß, und ich brauche mir nur den Tagesanbruch auszumalen, um mich bereits außerhalb dieses Hauses zu sehen, vielleicht werde ich schon sehr bald draußen sein, noch in dieser Nacht … (S. 29)

Von Javier Marías habe ich vor über zwei Jahren an dieser Stelle den Roman Mein Herz so weiß (dazu auch noch den Beitrag I have done the deed) vorgestellt. Jetzt habe ich den darauf folgenden Roman Morgen in der Schlacht denk an mich (Klett-Cotta – Deutscher Taschenbuch Verlag, München – dtv 12637 – Juni 1999) erneut gelesen – Original: “Mañana en la batalla piensa en mi”, Editorial Anagrama S. A., Barcelona, 1994 – Deutsch von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn.

    Javier Marías: Morgen in der Schlacht denk an mich

Wie schon vom Roman ‚Mein Herz so weiß’ so geht auch von diesem Roman eine ungewöhnliche Suggestion aus. Dabei ist der Anfang lapidar und trocken:

„Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und daß er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert. Niemand denkt je daran, daß jemand im unpassendsten Augenblick sterben könnte, obwohl dies die ganze Zeit passiert, und wir glauben, dass niemand, dem dies nicht bestimmt ist, in unserem Beisein wird sterben müssen.“

Aber bekanntlich kommt der Schrecken oft auf leisen Füßen.

„In ‚Mein Herz so weiß’ brauchte Javier Marías noch eine Seite, bis er uns hatte. Dieses Mal reicht ihm ein Satz, der rätselhafte erste seines neuen Romans: ‚Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte …’“ (Andreas Isenschmid im ‚Tages-Anzeiger’, Zürich)

„Sie ist noch nicht dreiunddreißig, hat sowohl Mann als auch zweijährigen Sohn sowie ein außereheliches Verhältnis. Als Marta Téllez’ Mann Eduardo Deán für ein paar Tage in London ist, lädt Marta Víctor Francés, unseren Ich-Erzähler, in ihre Wohnung ein. Noch bevor sie beide vollständig entkleidet sind, stirbt Marta unvermittelt in Víctors Armen. Das Zögern, den Ehemann zu benachrichtigen, die Furcht, die Tote und den kleinen Jungen einfach so in der Wohnung zu lassen, die Scham, Martas Ruf durch seine Existenz zu beschädigen – Víctor ist überfordert und flüchtet. Bewußt kann er sich der Sache nicht stellen, unbewußt aber schafft er Verhältnisse, die ihn letztlich zwingen, alles aufzuklären …“
(aus dem Klappentext)

Zurück zur angesprochenen Suggestion. Es ist so, dass man sich als Leser vom Geschriebenen beeinflusst fühlt, als wolle es einem etwas einflüstern. Es ist ein diffuses Gefühl, ein seelisches Unwohlsein. Marías spielt förmlich mit Wörtern wie Angst, Verdacht und Erwartung – und schmiedet Sätze, die sich wie Nebel auf die Seele legen:

„Das Zutagetreten von Angst bringt den, der angst macht oder dazu imstande ist, auf bestimmte Gedanken, Vorbeugung gegen das, was noch nicht geschehen ist, ruft das Ereignis auf den Plan, Verdacht entscheidet über das, was noch nicht feststand, und setzt es in Gang, bange Vorahnung und Erwartung zwingen dazu, die Hohlräume auszufüllen, die sie entstehen lassen und vertiefen, etwas muß geschehen, wenn wir wollen, daß sich die Angst verflüchtigt, und das beste ist es, dafür zu sorgen, daß sie sich erfüllt.“ (S. 19 f.)

Zum Inhaltlichen verweise ich auf eine Rezension von dieterwunderlich.de. Es ist ein merkwürdiger Stoff, und der Roman endet anders als man es je erwarten konnte (auch hier spielt Marías, diesmal mit der Erhaltungswartung des Lesers), als Víctor, der Erzähler, sich mit Eduardo, dem Mann der verstorbenen Frau, zu einem Gespräch trifft.

„Morgen in der Schlacht denk an mich, und es falle dein Schwert ohne Schneide. Morgen in der Schlacht denk an mich, als ich sterblich war, und es falle rostig deine Lanze. Möge ich morgen auf deiner Seele lasten, möge ich Blei sein in deiner Brust, und mögen deine Tage enden in blutiger Schlacht. Morgen in der Schlacht denk an mich, verzag und stirb.“ (S. 210)

Es sind die Geister, die König Richard III. in Shakespeares Drama heimsuchen. Genauso wird Víctor vom ‚Geist’ der toten Marta heimgesucht. Die Erinnerung nistet sich bei ihm ein: „Ewig herumspuken, nie ganz verschwinden, nie ganz vergehen und uns nie ganz verlassen, sondern in unserem Kopf hausen.“ Die Liebe als Spuk: Er muß seine Schuld begleichen und seine Erzählung vor der Welt abladen. Nur so kann er den Geist der Toten bannen und den bösen Zauber brechen, unter dem er steht und der ihn selber verhext zu einer Art Spukgestalt.

„… aus dem Halbdunkel herauszutreten und nicht länger ein Geheimnis bewahren oder von einem Mysterium umgeben sein zu müssen, vielleicht sehne ich mich manchmal genauso nach Klarheit und wahrscheinlich sogar nach Harmonie. Ich erzählte und erzählte. Und beim Erzählen hatte ich zwar nicht das Gefühl, mich von meinem bösen Zauber zu befreien, von dem ich mich noch nicht befreit hatte und mich vielleicht nie befreien würde, aber mir kam es so vor, als würde ich ihn mit einem anderen, weniger hartnäckigen und gutwilligeren vermischen. Wer erzählt, weiß die Dinge gewöhnlich gut zu erklären, und er weiß sich selber zu erklären, erzählen ist dasselbe wie überzeugen oder sich verständlich oder etwas sichtbar machen, und so kann alles verstanden werden, sogar das Infamste, kann alles verziehen werden, wenn es etwas zu verzeihen gibt, kann über etwas hinweggegangen oder etwas verarbeitet und sogar mit durchlitten werden, eben dies ist geschehen, und sobald wir erst wissen, daß es so war, müssen wir damit leben, in unserem Bewußtsein und unserem Gedächtnis einen Platz dafür suchen, der uns nicht am Weiterleben hindert, weil es passiert ist und wir es wissen. Das Geschehene ist daher immer weit weniger schlimm als die Ängste und Annahmen, die Mutmaßungen und bildhaften Vorstellungen und bösen Träume, die wir in Wahrheit nicht in unser Wissen eingliedern, sondern die wir verwerfen, nachdem wir sie über uns haben ergehen lassen oder sie zeitweilig in Betracht gezogen haben, und darum erfüllen sie uns weiterhin mit Schrecken, im Gegensatz zu den Ereignissen, die allein schon wegen ihrer Natur, also weil sie Tatsachen sind, geringeres Gewicht haben: Da es nun mal passiert ist und ich es weiß und es nicht rückgängig zu machen ist, sagen wir uns dann, muß ich es mir erklären und es mir zu eigen machen oder dafür sorgen, daß jemand anderer es mir erklärt, und am besten wäre, wenn es mir genau derjenige erzählt, der es übernommen hat, es zu tun, weil er es ist, der Bescheid weiß. Aber beim Erzählen kann man sogar Gnade finden, das ist die Gefahr. Die Eindringlichkeit der Darstellung, nehme ich an: Deshalb gibt es Angeklagte, deshalb gibt es Feinde, die man umbringt oder hinrichtet oder lyncht, ohne sie ein Wort sagen zu lassen – deshalb gibt es Freunde, die man mit den Worten verstößt: ‚Ich kenne dich nicht’ oder deren Briefe man nicht beantwortet -, damit sie sich nicht erklären und unversehens Gnade finden können, und da sie reden, verleumden sie mich, und es ist besser, wenn sie nicht reden, obwohl sie mich nicht verteidigen, wenn sie schweigen.“ (S. 309 f.)

Beide Romane, ‚Mein Herz so weiß’ wie auch dieser hier – man müsste sie Shakespeare-Romane nennen, gehören zusammen wie zwei Tafeln eines Diptychons – korrespondierend, doch einander nicht imitierend. Beide beginnen mit dem unerklärlichen Tod einer jungen Frau und enden mit dem vorsätzlichen Mord an einer andern. Beide spielen mit den gleichen Motiven und operieren mit den gleichen Strukturprinzipien. Beide sind Ehe- und Familienromane und handeln von den leisen Fiaskos und den blutigen Debakeln in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, den Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Liebe, den Mühseligkeiten, Ungewißheiten und komplexen Waghalsigkeiten beim heutigen Versuch, eine Ehe zu führen. Beide erzählen von Verdacht, Betrug und Verrat in bürgerlichen Verhältnissen.

Albert Camus: Die Pest

    Das Böse in der Welt rührt fast immer von der Unwissenheit her, und der gute Wille kann so viel Schaden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. (S. 86)

Und weiter heißt es bei Camus: Die Menschen sind eher gut als böse, und in Wahrheit dreht es sich gar nicht um diese Frage. Aber sie sind mehr oder weniger unwissend, und das nennt man dann Tugend oder Laster. Das trostloseste Laster ist die Unwissenheit, die alles zu wissen glaubt und sich deshalb das Recht anmaßt zu töten. (S. 86f.)

Es ist wohl das bekannteste Werk des Romanciers und Philosophen Albert Camus, dem ich mich in diesem Weblog schon öfter gewidmet habe. Gemeint ist der Roman Die Pest, das ich in folgender Ausgabe habe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg – rororo 15 – 829.-853. Tausend März 1979 (Original: La Peste, 1947 Librairie Gallimard, Paris)

Albert Camus: Die Pest

Camus war der Philosoph des Absurden, der meinte, dass man dem Leid und Elend in der Welt keinen Sinn abgewinnen kann. Der Mensch fühlt, wie „fremd“ alles ist, die Außenwelt und ihre Sinnlosigkeit bringen ihn wegen seines Strebens nach Sinn in existentielle Konflikte. In diesem Roman nun führte Camus das Element der ständigen Revolte gegen die Sinnlosigkeit der Welt ein, wie sie in seinem Essay „Der Mensch in der Revolte“ („l’homme révolté“, 1958) später voll entwickelt wird. Insbesondere kommen aber die Werte Solidarität, Freundschaft und Liebe als möglicher Ausweg hinzu, wenn auch die Absurdität nie ganz aufgehoben werden kann.

In der nordafrikanischen Stadt Oran bricht eine furchtbare Seuche aus, die längst aus zivilisierten Regionen verbannt schien. Die sich unerbittlich ausbreitende mörderische Epidemie bestimmt allmählich das gesamte Leben der von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt und verändert es. Außerordentlich wirklichkeitsnah, ist das Werk zugleich ein großartiges Sinnbild des apokalyptischen Grauens, das den Einzelmenschen angesichts der maßlosen kollektiven Verhängnisse unserer Zeit befällt. Doch nimmt der Leser die Gewißheit mit, daß Mut, Willenskraft und Nächstenliebe auch ein scheinbar unabwendbares Schicksal meistern können.
(aus dem Klappentext)


Oran/Algerien

In seinen Tagebücher (Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951) schrieb Camus dazu: „Ich will mit der Pest das Ersticken ausdrücken, an dem wir alle gelitten haben, und die Atmosphäre der Bedrohung und des Verbanntseins, in der wir gelebt haben. Ich will zugleich diese Deutung auf das Dasein überhaupt ausdehnen. Die Pest wird das Bild jener Menschen wiedergeben, denen in diesem Krieg das Nachdenken zufiel, das Schweigen – und auch das seelische Leiden.“

Personen:

Bernard Rieux, Arzt und Verfasser des Berichts
Frau Rieux (†)
Mutter Rieux

M. Michel, Hauswart († – 1. Opfer)
M. Othon, Untersuchungsrichter (†)

Raymond Rambert, Journalist
Jean Tarrou, junger Mann, Tagebuchschreiber († – das letzte Opfer)
Pater Paneloux († – zweifelhafter Fall)
Joseph Grand, Angestellter der Stadtverwaltung (erkrankt) -> Liebe zu Jeanne
M. Cottard (Selbstmordversuch) -> Verhaftung

Dr. Richard, Sekretär des Ärzteverbandes (†)
Dr. Castel (stellt Serum her)

Schmuggler und Menschenschieber
Garcia / Raoul / Gonzales / Marcel & Louis

Präfekt
Asthmaischer Spanier
männlicher Katzenbespucker

u.a.

Der Roman „Die Pest“ ist als Parabel der französischen Widerstandsbewegung Résistance ein Plädoyer für die Solidarität der Menschen im Kampf gegen Tod und Tyrannei und damit „gleichzeitig eine Chronik der Kriegszeit. Die von Albert Camus gewählte Stadt Oran steht stellvertretend für das von Nazideutschland besetzte Frankreich. Durch den Ausbruch der Pest wurde Oran zu einer hässlichen von der Außenwelt abgeschlossenen Stadt. Der Arzt Rieux, der der Erzähler der Geschehnisse ist, und Tarrou machen Aufzeichnungen von den Ereignissen, auf die die Bewohner nicht vorbereitet waren. Nicht nur Rieux, sondern ebenso die anderen Hauptpersonen machen es sich nach und nach zur Aufgabe, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Pest und ihre verheerenden Folgen für die Bevölkerung vorzugehen und sich den von Tarrou aufgestellten Sanitätstrupps [Widerstandsgruppen] anzuschließen. Auch der Jesuitenpater Paneloux meldet sich als freiwilliger Helfer und sieht es als seine Pflicht an, in der vordersten Reihe seinen Dienst zu tun. Der Roman ‚Die Pest’ besitzt wie der Roman ‚Der Fremde’ eine soziale und eine metaphysische Ebene. In mehreren Gesprächen zwischen Rieux und Pater Paneloux, sowie zwischen Rieux und Tarrou wird die Frage nach dem Leid in der Welt erörtert. In seiner ersten Predigt spricht der Pater von der Pest als einer Geißel Gottes, dieser Standpunkt wird von Rieux vehement abgelehnt. Jedoch sucht Pater Paneloux in seiner zweiten Predigt nicht mehr nach einer Erklärung für das Leid. Er hat seinen Zuhörern keine Belehrungen mehr zu geben und spricht sie daher mit ‚wir’ und nicht wie in seiner ersten Predigt mit ‚ihr’ an.“ (siehe weiter: Albert Camus: das Absurde – die Wahrheit – die Revolte – Die Pest).

Der Roman endet mit einer eindringlichen Mahnung:

Während Rieux den Freudenschreiben lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, daß diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wußte, was dieser frohen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben. (S. 202)

Martin Walser: Jenseits der Liebe

Marcel Reich-Ranicki, der bis dato einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart (Literaturpapst) hatte den 1976 von Martin Walser verfassten Roman Jenseits der Liebe in der F.A.Z. förmlich verrissen. Unter der Überschrift ‚Jenseits der Literatur’ schrieb er: ‚Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen’ (siehe meinen Beitrag: Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers).

Ich habe das gerade einmal 150 Seiten umfassende Buch als suhrkamp taschenbuch 525 – Suhrkamp Taschenbuch Verlag – 1. Auflage 1979 vorliegen und in diesen Tagen erneut gelesen.

Im Klappentext steht hierzu:

Der Firmenrepräsentant Franz Horn, der dem Direktor Thiele und dessen Unternehmen ein höchst erfolgreicher Mitarbeiter war, begreift, daß seine Zeit vorbei ist. Thiele und der jüngere promovierte Kollege Liszt hatten es lange vorzüglich verstanden, durch ein ernsthaft freundschaftliches Verhalten von dieser Degradierung abzulenken. Genau zu jener Zeit, als es begann, mit ihm bergab zu gehen, vollzog sich auch die Trennung Horns von seiner Familie. Was in seinem Arbeitsleben an Pression erzeugt war, an Depression sich angestaut hatte, hatte sich lange genug unkontrolliert und zerstörerisch zu Hause entladen. Als Horn erfolglos von einer Geschäftsreise zurückkehrt, sieht er sich so, wie er ist: ohne glaubwürdige Beziehung zu Menschen, ohne gesellschaftlichen Rückhalt, ohne politische Überzeugung, ohne Selbstvertrauen, darum ohne Glück und Potenz – am Ende.

Walser demonstriert, was es heißt, jene Grenze zwischen Liebe und jenseits der Liebe überschritten zu haben. Er zeigt auf, daß Liebe oder der Mangel daran sich auch sozial begreifen lässt, daß Liebe einsetzbar ist, entzogen werden kann. Daß sie unter vielerlei Namen auftritt und immer ein Teil dessen ist, was uns lebensfähig macht.

    Martin Walser: Jenseits der Liebe

Um es gleich zu sagen: Die Kritik Reich-Ranickis war nicht nur nicht angemessen, sondern auch durch politische Ressentiments bestimmt. Martin Walser galt als linker Intellektueller und sollte ‚abgestraft’ werden. Denn der Roman ist äußerst politisch, geht es in ihm um eine ‚Liebe’, die als Machtinstrument eingesetzt wird. Aber es ist sicherlich auch der Stil, in dem Walser geschrieben hat und der Reich-Ranicki mit Sicherheit nicht gefallen haben dürfte. Hierzu schrieb Aurel Schmidt in der National-Zeitung Basel – und kommt damit der Sache schon deutlich näher:

„Walser schreibt eine zwingende, mitreißende Sprache, die jede Nuance, jede Schattierung, jede kleinste Veränderung, jede Einwirkung auf das Bewußtsein genau registriert … Es ist eine nervige Sprache, in der eine Fülle von Beobachtungen aufgehoben sind.“

Ja, es ist eine ‚nervige Sprache’ – denn die Erzählung in 3. Person Einzahl (‚er’) geht bald in einen inneren Monolog über (‚ich’) oder wechselt zum Pronomen ‚man’, entspricht so fast mehr noch der Erzähltechnik des stream of consciousness. So fließen Erinnerungen in die Erzählung, die den Hintergrund des Geschehens verdeutlichen. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht, denn Walser gelingt es auf unnachahmliche Weise den Leser in die Rolle des Franz Horn zu versetzen.

Der Roman ist dabei durchaus aktuell angesichts der Tatsache, dass heute immer mehr Menschen am Burnout-Syndrom erkranken, also besonders emotional erschöpft sind. Franz Horn versucht sich am Ende durch Tabletten selbst zu töten. Das gelingt nicht … Das führte dazu, dass Martin Walser auch diesen Romanunhelden noch einmal in ‚den Ring’ schickte. Sechs Jahre später, 1982, sehen wir die Protagonisten Horn, Thiele und Liszt im Roman Brief an Lord Liszt wieder miteinander kämpfen.


Ravensburg, Galgenhalde

‚Jenseits der Liebe’ spielt übrigens in Ravensburg. Franz Horn lebt in einer Straße namens Galgenhalde, was schon viel besagt.

Kafkas Unterschrift

Alfred Dorn kennen wir aus Martin Walsers Roman Die Verteidigung der Kindheit. In diesem finden wir einen Samstag im Leben des Roman(un)helden beschrieben, der zunächst wie folgt abläuft:

Am Samstagvormittag holte er bei seinem Buchhändler die bestellte Kaspar-Hauser-Biographie ab, ging ins ESWE-Bad, aß Italienisch, fuhr heim.

Bei dem Bad handelt es sich übrigens um das heutige Freizeitbad Mainzer Straße in Wiesbaden (früher: ESWE-Bad). – In seiner Schulzeit zeigte Alfred Dorn ein besonderes Talent im Fälschen von Unterschriften. So verhalf er seinen Mitschülern zu manch gefälschter Elternunterschrift. Im Roman geht es wie folgt weiter:

… In der Buchhandlung hatte er einen Verlagsprospekt mitgenommen, in dem Kafkas Werke angeboten wurden. Ihn hatte die auf dem Prospekt faksimilierte Unterschrift Fran Kafkas angezogen. Zu Hause fing er an, diese Unterschrift zu üben. Wie das K unten ausschwingt, um die restlichen Buchstaben des Namens wie eine Schale aufzunehmen, dann aber vom f geschnitten wird und gleich aufhört! Er füllte viele Seiten mit diesen Unterschriftsübungen. Morgen würde er sehen, ob seine Hand ein einziges Mal in die Bewegung des Originals hineingefunden habe. Er fand die Unterschriften anderer interessanter, schreibenswerter als seine eigene. Er würde sich einmal dokumentieren als jemand, der nicht auf sich bestehen konnte.

    Kafkas Unterschrift – aus dem Verlagsprospekt

Und …

Dann Telephonate wie immer am Samstag.

aus: Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit
(Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993 – S. 516)

Vor einem Jahr unternahm meine Frau mit ihrer Mutter einen Tagesausflug nach Graal-Müritz an der Ostsee. Kafka weilte vom Juni bis September 1923 (ein Jahr vor seinem Tod) mit seiner Schwester Elli in Müritz und lernte dort seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant kennen (siehe meinen Beitrag: Kafka lächelt mir traurig zu – aber er lächelt). Die kleine Kafka-Vitrine im Heimatmuseum von Graal-Müritz konnte sie zwar nicht besichtigen, aber immerhin brachte sie mir ein gezeichnetes Bildnis Kafkas – eben mit der erwähnten Unterschrift versehen – von der Tagestour mit. Das Bild hängt jetzt in meinem Zimmer.

    Kafka – Zeichnung aus Graal-Müritz/Ostsee

Martin Walser promovierte 1951 in Tübingen mit einer Dissertation zu Franz Kafka:
Beschreibung einer Form: Versuch über Kafka. Dabei mühte sich Walser erst gar nicht über eine Interpretation, Kafka näher zu kommen, sondern tastete sich (wie der Titel schon sagt) an Kafka über die Form heran, über die Untersuchung des Wortes „Schreiben“, wie Kafka seine Ausdrucksmöglichkeit nannte. Walser führt hin zu dem Bild, dass Kafka seine bürgerliche Person reduziert zu Gunsten der stetig wachsenden poetischen Person, Kafka sich selbst an den Schreiber Kafka abgibt und sich dort verwirklicht. Auch Walsers Leben ist geprägt vom ‚Schreiben’. Die (klein-)bürgerliche Person Martin Walser ist auch hier zur poetischen Person angewachsen. Beide, Kafka wie Walser, bevorzugen dabei das handschriftliche Schreiben (Walser: Ein handgeschriebener Brief ist noch in der sachlichsten Form eine Intimität.). Beide führten oder führen Notizbücher mit sich. So ist die Schrift für sich zum markanten Merkmal geworden (siehe auch: So schreiben wie Kafka), ein Fingerabdruck – im Gegensatz zu maschinell verfassten Texten. Schreiben als Schrift.

Thomas Mann & Zauberberg’sche Redensarten

Komme ich heute noch einmal auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu sprechen. Ich bin in diesem Roman über viele so genannte Redensarten gestolpert, die, obwohl der Roman inzwischen 89 Jahre auf dem Buckel hat, überraschend aktuell sind, d.h. wir verstehen auch heute noch (meist) die eigentliche Bedeutung, die sich hinter einem saloppen Spruch verbirgt. Ich deutet es als ein positives Zeichen, das belegt, dass unser Wortschatz sich eher vermehrt als abnimmt.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Ich habe mir die Mühe gemacht, viele dieser Redenarten zu sammeln und hier aufzuführen. Wer vielleicht den einen oder anderen Sinn dann doch nicht verstehen sollte, dem sei die Website redensarten-index.de anempfohlen, die vielleicht das ‚Rätsel’ löst. Hier nach einem Stichwort sortiert die gefundenen Redensarten (die Seitenzahl bezieht sich auf die Taschenbuchausgabe Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, hier – 193. – 212. Tausend: Februar 1980):

Stichwort – Redensart
Affe – mich laust der Affe (S. 269)
ahnen – Du ahnst es nicht! (S. 315)
alles – Sein ein und alles gewesen sei (S. 686)
Angst – Kann einem angst und bange werden (S. 392)
aufgebrummt – Aufgebrummt (S. 62)
Augen – Dem gehen die Augen über (S. 652)
ausgespien – Er-ledigt …. und ausgespien (S. 597)
Biegen – denn nun geht es auf Biegen und Brechen (S. 640)
Biegen – auf Biegen und Brechen gehe[n] (S. 737)
Binsen – Geht in die Binsen (S. 372)
Binsen – zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde (S. 442)
Blatt – Das unbeschriebene Blatt (S. 40)
Blaue – ins Blaue hinein (S. 628)
Bock – Einen Bock geschossen (S. 662)
Buch – Wie es im Buche stand (S. 512/ S. 524)
dick – Es so dicke hat (S. 432)
dick – Trage dick … auf (S. 664)
Dinge – Den Dingen ihren Lauf lassen (S. 731)
Ehre – Ehre und Misere (S. 729)
ewig – Ewig und drei Tage (S. 18)
Federlesen – Kein Federlesen machen (S. 681)
Fersengeld – Fersengeld geben (S. 463)
Finger – Nicht den kleinen Finger reichen (S. 64)
Finger – Da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu … (S. 105)
Flinte – Flinte ins Korn werfen (S. 262)
Fuß – auf guten Fuß mit ihm stellen [S. 632)
Fuß – auf Kriegsfuß gestellt (S. 264)
Gedanken – Einen Gedanken nachgehangen (S. 202)
gehen – Wie geht’s, wie steht’s? (S. 387)
Glocke – An die große Glocke gehängt (S. 439)
Gnade – Gnade vor Recht ergehen [lassen] (S. 704)
Gras – Ins Gras beißen (S. 235)
Grund – Er redet … in Grund und Boden (S. 312)
Gurken – Sauregurkenzeit (S. 671)
Haare – Die Haare zu Berge steigen (S. 466)
haben – Hast du was kannst du [was] (S. 262)
Hafer – Stach ihn der Haber [Hafer] (S. 599)
Haufen – Über den Haufen werfen (S. 731)
Hehl – Sich Zwang antun … ein Hehl [daraus] machen (S. 252)
Herzen – Aus seinem Herzen eine Mördergrube machen (S. 251)
Herzen – ist mir ein Stein vom Herzen gefallen (S. 643)
Höhe – Das ist die Höhe! (S. 315)
holterdiepolter – holterdiepolter, über Stock und Stein (S. 269)
holterdiepolter – es geht nachgerade holterdiepolter! (S. 606)
Hund – Kein Hund … vom Ofen locken (S. 731)
Hundert – Vom Hundertsten ins Tausendste kommen (S. 551)
Hut – Auf Ihrer Hut sein (S. 541)
Kauf – In Kauf genommen (S. 285)
Kauf – nahm das in Kauf (S. 290)
Kauf – [etwas] in den Kauf nehmen (S. 615)
Kauf – in den Kauf nehmen (S. 632)
Klipp – Klipp und klar gesagt (S. 262)
Kohlen – Saß wie auf Kohlen (S. 680)
Kopf – Gleich mit dem Kopf durch die Wand (S. 453)
Kopf – Hals über Kopf! (S. 463)
Leber – Was ist dir über die Leber gelaufen? (S. 250)
leibt – Wie sie leibt und lebt (S. 272)
Licht – In einem völlig neuen Lichte erscheinen lassen (S. 251)
Löffeln – Mit Löffeln gegessen (S. 200)
Löwe – Gut gebrüllt, Löwe (S. 236)
lumpen – Sich denn lumpen lassen (S. 214)
Mann – Selbst ist der Mann (S. 441)
Mann – Manns genug (S. 553)
Mark – daß es einem durch Mark und Pfennig geht (S. 617)
Mund – Redete nach dem Munde (S. 377)
Münze – Für bare Münze nehmen (S. 731)
Nase – Drehen [einem] eine Nase (S. 499)
nichts – Mir nichts, dir nichts (S. 60)
nichts – Nichts für ungut! (S. 445)
Ohr – Floh ins Ohr gesetzt (S. 555)
Ohr – Sich die Nacht um die Ohren schlagen (S. 603)
Ohr – Über beide Ohren verliebt sein (S. 613)
Palme – Die Palme glauben reichen zu sollen (S. 165)
Panier – Haben das Panier ergriffen (S. 159)
Pasche – Aus der Pasche ziehen (S. 600)
peinlich – Berührte ihn peinlich (S. 167)
Posten – Auf dem Posten sein (S. 696)
Pudel – wie ein begossener Pudel! (S. 641)
Qual – Tantalusqualen (S. 159)
Rechnung – darin Rechnung tragen (S. 615)
Rockschoß – Hängt sich den Leuten nicht an die Rockschöße (S. 558)
Roß – Vom hohen Roß herunter ( S. 561)
Rücken – [etwas] den Rücken kehren (S. 263)
Schicksal – Dem Schicksal in die Speichen fallen (S. 86)
Schmiede – Vor die rechte Schmiede kommen (S. 159)
Schrot – Von anderem Schrot und Korn (S. 558)
Schürchen – Hatte … am Schnürchen (S.110)
Schweiß – Im Schweiße seines Angesichts (S. 321)
Schwulität – In großen Schwulitäten (S. 653)
Spatzen – Daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sein (S. 168)
Spatzen – Pfiffen die Spatzen es von den Dächern (S. 549)
Spitz – Sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken (S. 610)
Spott – Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen (S. 651)
Stange – Bleibe gleich bei der Stange (S. 529)
Tag – Frisch mit dem jungen Tage (S. 42)
Tasche – daß er uns in die Tasche steckt? (S. 626)
Taubenfüße – Nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen (S. 167)
Tee – Abwarten und Tee trinken (S. 233)
Teufel – In’s Teufels Namen (S. 488)
Wahrheit – Der Wahrheit ins Auge sehen (S. 316)
Wasser – Mit allen Wassern … gewaschen (S. 683)
Weg – Ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen (S. 68)
Weg – ging seines Weges wie ein Mann (S. 617)
Wein – Ihnen reinen Wein einschenken (S. 643)
Wort – Das Wort vom Munde genommen (S. 323)
Würfel – Die Würfel fielen (S. 438)
X – Ein X für ein U [vor-]machen (S. 564)
Zahn – Fühle … ein bisschen auf den Zahn (S. 541)
Zügel – Die Zügel schießen lassen (S. 341)

Thomas Mann: Der Zauberberg

Martin Walser hält seinen Stil für manieriert und meint damit sicherlich das oft genug eitel Affektierte, Gekünstelte seiner Schreibweise. Etwas aufgeblasen war er schon in seinem Bildungsgroßbürgertum. Den „Doktor Faustus“ gab Walser sogar auf, weil er diese Prosa „nicht ertagen konnte“ (Gespräch mit Peter Roos: Genius Loci – in Auskunft, S. 61 – siehe: Jörg Magenau: Martin Walser – eine Biographie, S. 58f.) Ich selbst bin vor Jahren am ‚Tretapak’ Joseph und seine Brüder kläglich gescheitert. Und Bertolt Brecht bezeichnete ihn einen „regierungstreuen Lohnschreiber der Bourgeoisie“. Ich spreche von Thomas Mann.

Im Sommer 1981, ich weilte in Spanien in der Ferienwohnung meiner Eltern und hatte mir als Leküre Thomas Manns Der Zauberberg mitgenommen (den Roman habe ich als Fischer Taschenbuch Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main – 193. – 212. Tausend: Februar 1980 vorliegen). Immerhin ein Wälzer von über 750 Seiten (in anderen Ausgaben mit etwas größerer Schrift sind ’s oft 100 Seiten mehr). Und bis zum Ende meines Urlaubs habe ich den Roman tatsächlich geschafft – vielleicht auch, weil ich wegen eines Sonnenbrandes einige Tage die Sonne meiden musste. Jetzt habe ich nach 32 Jahren den Roman ein zweites Mal gelesen.

1912 äußerten Ärzte bei Katia, der Frau von Thomas Mann, den Verdacht auf Tuberkulose, was einen längeren Sanatoriums-Aufenthalt in Davos erforderlich machte. Thomas Mann war, als er sie dort besuchte, beeindruckt von der Atmosphäre des Sanatoriums und fasziniert von den amüsanten Schilderungen, die ihm seine Frau über die Klientel der Klinik gab. Sie inspirierten ihn zu seinem Roman Der Zauberberg, den er 1913 begann, aber erst 1924 vollendete.

Wie bereits an anderer Stelle (Heute Ruhetag (32): Thomas Mann – Der Zauberberg) erwähnt, sollte der Roman „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden, geriet dann mit 800 Seiten länger als beabsichtigt. Ohne Zweifel gilt der Roman heute als einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, beleuchtet er mit Geist und Witz die Atmosphäre am Anfang des letzten Jahrhunderts – vor fast genau 100 Jahren. Er handelt vom Reifeprozess des jungen Hans Castorp. Während eines siebenjährigen Aufenthalts in einem Tuberkulose-Sanatorium trifft Castorp dort Menschen, die ihn mit Politik, Philosophie, aber auch Liebe, Krankheit und Tod konfrontieren.

Im Mittelpunkt – und dann auch wieder nicht – steht also jener junge Hans Castorp, der unheldische Held aus Hamburg, der eigentlich nur seinen Vetter Joachim Ziemßen auf drei Wochen in der Lungenheilanstalt Berghof nahe Davos besuchen wollte. Aus diesen drei Wochen werden dann sieben Jahre. Er lernt dabei u.a. die Russin Clawdia Chauchat kennen und lieben. Es ist eine verwickelte Liebesgeschichte, denn der junge Castorp traut sich erst nicht, Kontakt mit der ‚Kirgisenäugigen’ aufzunehmen, die ihn an einen ehemaligen Schulkameraden erinnert. Erst während einer ausgelassenen Karnevalsfeier kurz vor der unmittelbar bevorstehende Rückreise der Russin nach Daghestan kommen sich die beiden näher. Es beginnt ein jahrelanges Warten. Auch ein Grund, weshalb Castorp als einer ‚Der da oben’ Davos nicht verlassen wird. Clawdia Chauchat kommt zwar eines Tages zurück, aber in Gesellschaft eines Mynheer Peeperkorn, dem ein merkwürdig kruder Vitalitätskult umweht und dem es selten gelingt, seine Sätze zu beenden … Obwohl dieser Peeperkorn sein Konkurrent in der Gunst um die schöne Russin ist, freundet sich Catorp mit diesem an. Für ihn ist Peeperkorn eine faszinierende ‚Persönlichkeit’.

Bis zu dieser Wiederkehr vertreibt sich Castorp seine Zeit mit Gesprächen mit den Antipoden Settembrini und Naphta, die ihn, das „Sorgenkinder des Lebens“, zu ihrem Erziehungsobjekt auserkoren haben. Der eine, der italienische Literat Lodovico Settembrini, ist ein Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnter Demokraten“, mit dem der junge Deutsche über philosophische und politische Fragen der Zeit in Berührung kommt. Der andere ist „der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Naphta ist ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistischer Logik verpflichteter Intellektueller, von dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund Castorp vergeblich fernzuhalten versucht. In anarcho-kommunistischer Tradition strebt Naphta nach der Wiederherstellung des ‚anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands’ der Staat- und Gewaltlosigkeit, den letztendlich auf Terrorismus gestützter Gottesstaat.“ (weiteres siehe auch freitag.de und faz.net).

Man braucht schon einen etwas längeren Atem, um sich durch diesen Roman hindurchzukämpfen. Aber es lohnt sich. Die genannte Liebesgeschichte hat ihren ganz besonderen Reiz. Und die Gespräche zwischen dem jungen Castorp und Settembrini, an denen sich dann später auch noch der dunkle Naphta beteiligt, zeugen eine Nachhaltigkeit, die den Leser schon zum Grübeln bringt. Das Ganze ist untersetzt mit einem Ton, der eine Ironie versprüht, der man sich einfach nicht entziehen kann. So sollte der Leser nicht alles zu ernst nehmen. Manchmal ist der Roman (er wurde ja vor 100 Jahren begonnen) in seinen Formulierungen etwas ‚altfränkisch’ – den Begriff verwendet Thomas Mann übrigens selbst. Oft trieft es etwas zu sehr vor lauter Bildungsbürgertum. Und manche Passage auf Französisch oder Italienisch mag vor dem weiteren Lesen abschrecken. Aber keine Angst, man versäumt nicht viel (im längeren französisch und deutsch geführten Gespräch zwischen Castorp und Clawdia Chauchat geht es erst einmal um den Vetter, dann ums ›vous‹ und ›tu‹ – ums Sie und Du -, dann gesteht Castorp seine Liebe – und am Schluss sagt sie: »N’oubliez pas de me rendre mon crayon.« und erinnert ihn daran, nicht zu vergessen, ihr den ausgeliehenen Bleistift zurückzugeben; der Leser wird an dieser Stelle wissen, was es mit dem Bleistift auf sich hat). Aber wer sich traut, ein anspruchsvolles Buch zu lesen, kommt auf seine Kosten.

Der Roman fordert gegen Ende viele Todesopfer. So stirbt Catorps Vetter Joachim Ziemßen, nachdem dieser in wilder Flucht Davos verlassen hatte, um seinen Dienst als Offizier ‚im Flachland’ anzutreten, dort einen Rückfall bekam – und kurze Zeit nach seiner Rückkehr ins Sanatorium der Tuberkulose erlag. Es stirbt auch der Mynheer Peeperkorn und Naphta – beide durch Freitod. Und als nach sieben Jahren Aufenthalt in Davos der erste Weltkrieg ausbricht, kehrt auch Castorp in die Heimat zurück, um als Soldat eingezogen zu werden. Sein Schicksal bleibt ungeklärt. Er wird in Frankreich gefallen sein.

Noch ein kleiner Hinweis. Es geht um den lateinischen Begriff Placet experiri“, der eine erkennbar gewichtige Rolle in dem Roman spielt. Der Ausdruck ist ursprünglich eine wissenschaftliche Randbemerkung Petrarcas. Placet bedeutet ‚Bekundung eines Einverständnisses’ und experiri ist die Infinitivform von experior, also ‚versuchen, erproben’ – grob übersetzt: Bekundung eines Einverständnisses (etwas) zu erproben oder einfacher: Es gefällt, es ist recht, es ist erlaubt – einen (tastenden) Versuch zu machen, zu experimentieren. Settembrini rät Castorp, „vorderhand mit allerlei Standpunkten Versuche anzustellen.“ Es ist also die Aufforderung, Gehörtes geistig zu verarbeiten.

Bilder vom ‚Berghof’
Bilder vom ‚Berghof’

Weitere Empfehlungen zum Nachschlagen:
Hans Castorp – Thomas Manns „Zauberberg“
Literaturlexikon online: Thomas Mann Figurenlexikon: Der Zauberberg (1924)

Erwähnenswert ist sicherlich, dass Thomas Mann, als er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhielt, diesen ‚ausdrücklich’ für seinen ersten Roman Buddenbrooks (1901) bekam. ‚Der Zauberberg’ (immerhin bereits 1924 erschienen) wurde allein deshalb nicht erwähnt, weil der Schwede Fredrik Böök, ‚Königsmacher’ im Nobelpreis-Komitee, den Roman nicht mochte und zuvor mehrfach verrissen hatte.

Übrigens wurde der Roman 1981 (da schon zum 2. Mal nach einer TV-Produktion des Sender Freies Berlin in Schwarzweiß unter der Regie von Ludwig Cremer aus dem Jahr 1968) in der Regie von Hans W. Geißendörfer in einer deutsch-französisch-italienische Koproduktion in einer 2½ Stunden langen Version für die Kinos – die dreiteilige Fernsehfassung war mehr als doppelt so lang – verfilmt. Die TV-Langfassung Thomas Mann: Der Zauberberg – Der komplette 3-Teiler kommt am 7. Juni in den Handel. Darsteller sind unter anderem Christoph Eichhorn als Castorp, Rod Steiger als Peeperkorn, Marie-France Pisier als Clawdia Chauchat, Hans Christian Blech als Hofrat Behrens, Flavio Bucci als Settembrini und Charles Aznavour als Naphta.


Der Zauberberg (1981)

Siehe auch meine Beiträge:
Thomas Mann: Felix Krull und die HomosexualitätHerr Albin in Thomas Manns „Zauberberg“Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

Walpurgisnacht 2013

Die Hexen sind los. Heute Nacht ist Walpurgisnacht … Mythologisch findet die Walpurgisnacht (ähnlich dem keltischen Fest Beltane – siehe hierzu: Jethro Tull: Beltane) als Mondfest in der Nacht des ersten Vollmondes zwischen der Frühjahrstagundnachtgleiche und der Sommersonnenwende statt. Traditionell gilt jedoch die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai als die Nacht, in der angeblich die Hexen insbesondere auf dem Blocksberg (eigentlich Brocken), aber auch an anderen erhöhten Orten ein großes Fest abhalten und auf die Ankunft des “gehörnten Gottes” warten. Im Rahmen der Christianisierung des Abendlandes wurde der Kult der Walpurgisnacht und verwandter Kulte (z. B. antiker Pan-Kult) im wahrsten Sinne des Wortes “ver-teufelt”: aus dem gehörnten Gott, dem Symbol des Männlichen, welches sich in dieser Nacht mit dem Weiblichen vereinigt, wurde der Teufel.

mehr siehe bei Wikipedea

siehe auch: Angie – Tanz in den Mai

Walpurgisnacht - Kupferstich von W. Jury nach Johann Heinrich Ramberg- Walpurgisnachtszene aus Faust 1 (Ausschnitt)
Kupferstich von W. Jury nach Johann Heinrich Ramberg- Walpurgisnachtszene aus Faust 1 (Ausschnitt)

Natürlich finden wir die Walpurgisnacht auch in der Literatur wieder. Ich lese zz. Thomas Manns Zauberberg, einen Roman, der u.a. von der Liebe des jungen Hans Castorp zur Russin Clawdia Chauchat handelt. Bei de.wikipedia.org findet sich dazu folgender Text:

In jener grotesken mit „Walpurgisnacht“ überschriebenen Karnevalsszene, während der Castorp, vom Alkohol ermutigt, Madame Chauchat seine Liebe gesteht, wird das Sanatorium zum Blocksberg, wo sich im ersten Teil von Goethes Faust die Hexen und Teufel zu einem obszön-höllischen Fest zusammenfinden. Hier, in der Mitte des Romans, klingt in Settembrinis Goethezitat indirekt zum ersten Mal auch der Romantitel an: Allein bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll (Walpurgisnacht, Faust I).

Und damit sind wir schon bei Goethes Faust und der Szene Walpurgisnacht – hierzu bei de.wikipedia.org:

Faust wird von Mephisto zum Hexentanz der Walpurgisnacht auf den Blocksberg gelockt. Sie geraten in eine Windsbraut, ein Gewimmel von Hexen, die zur Bergspitze hinauf reiten, wo der Teufel Hof hält. Faust wünscht sich, bis zum Gipfel vorzudringen: Dort strömt die Menge zu dem Bösen; Da muss sich manches Rätsel lösen. Mephisto aber überredet Faust, stattdessen an einer Hexenfeier teilzunehmen. Er bietet ihm an, dort als Fausts Kuppler zu fungieren. Bald ergehen sich beide im Tanz und anzüglichem Wechselgesang mit zwei lüsternen Hexen.

Faust bricht den Tanz ab, als seiner Partnerin ein rotes Mäuschen aus dem Mund springt und ihm ein blasses, schönes Kind erscheint, das ihn an Gretchen erinnert und ein rotes Schnürchen um den Hals trägt (eine Vorausdeutung auf Gretchens Hinrichtung). Um Faust von diesem Zauberbild abzulenken, führt Mephisto ihn auf einen Hügel, wo ein Theaterstück aufgeführt werden soll.

Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit

1988 klopften zwei Damen an Martin Walsers Tür. Sie waren mit dem Zug angereist und hatten vier Kartons mit Schriftstücken bei sich. Es handelt sich um den Nachlass einer unlängst verstorbenen Person. Wohin damit? Eine der Damen war übrigens von der Telefonseelsorge. Lauter Briefe und Karten und Fotos und Aufzeichnungen. Vielleicht interessiert sich der Schriftsteller Herr Walser dafür?

Ein Jahr lang wühlte sich Walser in die Zeugnisse dieses vergangenen, fremden Lebens hinein. „Ein Jahr nur rezeptiv, das ist schlimmer als Militär!“ so Martin Walser später. Mit der Zeit eignete sich Walser restlos seine Figur an und verfasste dann ein starkes und gewitztes, heiteres und weises Buch gegen das Vergessen: Die Verteidigung der Kindheit. Das Buch habe ich als Taschenbuch (Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993) vorliegen und in diesen Tagen erneut gelesen.

    Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit

„Die Verteidigung der Kindheit – ‚ein fesselndes Deutschlandbuch’, ‚ein Meisterwerk’, ‚ein Epochenroman’, wie die Kritik feststellte – ist zugleich der Roman einer großen Liebe. Da die Welt auf große Liebe nicht gefasst ist, nicht eingerichtet ist, bringt eine solche Liebe den Liebenden nicht das, was man Glück nennt. Weltgerechtes Verhalten und große Liebe – das geht nicht zusammen. Schon gar nicht, wenn diese Liebe die eines Sohnes zu seiner Mutter ist. Und diese Liebes-Geschichte hört auch nach dem Tod der Mutter nicht auf. Denn jetzt muß Alfred Dorn dafür sorgen, daß die Vergangenheit nicht vergeht. Er muß nun die Kindheit verteidigen gegen Gegenwart und Zukunft. Die Verteidigung der Kindheit ist in diesem Sinne als Geschichtsschreibung des Alltags zu verstehen. Das, was nachher Epoche heißt, ist ja zuerst Alltag. Und weil dieser Roman einer großen Liebe von 1929 bis 1987 in Deutschland spielt und von Dresden über Leipzig nach Berlin und Wiesbaden führt, ist er ein deutsches Epos dieser Zeit.“
(aus dem Klappentext)

Nun, Martin Walser zeigte damals Interesse an dem Nachlass und strickte daraus diesen Roman – so wie er Jahre später die ihm angebotenen Akten eines hessischen Landesbeamten, der jahrelang mit seiner vorgesetzten Behörde, der hessischen Staatskanzlei zu Wiesbaden, stritt, zu dem Roman Finks Krieg verarbeitete. Wie hier so sehen wir uns im letzten Drittel des Romans ‚Verteidigung der Kindheit’ in Wiesbaden wieder, wo Alfred Dorn, der Held des Romans, ebenfalls als Beamter arbeitet.

Wie der Roman ‚Finks Krieg’ so verlangt auch die ‚Verteidigung der Kindheit’ viel Geduld vom Leser, denn mit Alfred Dorn haben wir es wieder mit einer der vielen überempfindlichen Walser-Gestalten zu tun, „denen das Leben ganz und gar nicht leichtfällt, denen so vieles mißlingt und die deswegen komisch sind.“ „Sein Held Alfred Dorn ist eine armselige, rührende Erscheinung, eine unausstehliche Mimose, ein Muttersöhnchen, ein Hysteriker. Und doch nimmt man an seinem Schicksal fast ohne Unterlaß mitleidend teil. So fremd einem dieser Neurotiker sein mag, seine überempfindlichen Beobachtungen bieten doch immer wieder Züge an, in denen sich viele wiedererkennen können.“ (Quelle: Ein deutsches MuttersöhnchenJoseph von Westphalen über Martin Walsers neuen Roman „Die Verteidigung der Kindheit“)

Das vorrangige Interesse Walsers an dem Nachlass dürfte aber auch durch das besondere Verhältnis des Beamten Dorn zu seiner Mutter ausgelöst worden sein. Martin Walser selbst hatte, wie wir in seinem Tagebuch aus dem Jahre 1967 erfahren, ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter und war am Boden zerstört, als diese verstarb. Da war Walser 40 Jahre alt. – Und viele Jahre später beschäftigte sich Walser noch einmal mit einem außergewöhnlichen Sohn-Mutter-Verhältnis in Muttersohn.

Für mich ist es eines der schönsten Romane Martin Walsers, dermaßen detailliert, wie aus dem wahren Leben gegriffen, der uns in eine Zeit führt, die die Älteren unter uns längst vergessen und die die Jungen nicht kennen gelernt haben. So ist es ein Roman gegen das Vergessen, auch wenn es hier ganz speziell auf den Romanhelden gemünzt ist, der in seiner ungewöhnlichen Liebe zu seiner Mutter beginnt, alles zu sammeln, was in seinem Leben von Belang zu sein scheint: „… jetzt kommt es auf jedes Foto an, auf jedes Backrezept, jeden Bettvorleger.“ (S. 263)

Und natürlich sind es Sprüche, Worte, die die Eltern sprachen und die nicht dem Vergessen anheimfallen dürfen: „Laßt den Jungen erst mal groß werden. Vaters Satz. Alfred spürte geradezu, wie Vaters Hand bei diesem Satz auf seinem Kopf hin und her rieb. Da kannste warten, biste schwarz bist. Hatte die Mutter gesagt. Der Vater: Dich laß ich an der ausgestreckten Hand verhungern. Die Mutter: Halt die Luft an. Der Vater: Du kriegst gleich eine gewienert. Die Mutter? Der Vater: Wenn Dummheit weh täte, müsstest du ununterbrochen schreien. Die Mutter? Der Vater: Dumm geboren und nichts dazugelernt. Die Mutter: Halt doch mal deine blöde Pappe. Der Vater: Und wenn ich dir eine vor den Latz knalle. Die Mutter: Das ist gehuppt wie gesprungen. [usw.]“ (S. 437)

Alfred Dorn wünscht sich „soviel Menschen, so viele Museen. Das fände er angemessen. Milliarden Museen. Das wäre seine Welt. Die Frage, wer diese Museen besuche, ist nicht angebracht. Das Bewahren ist ein Bedürfnis. Jeder Mensch will bewahrt werden. Er sagte es ja auch keinem, daß er sich bewahren will. Wahrscheinlich sagt das keiner, deshalb sieht es so aus, als sei jeder mit seiner Vernichtung einverstanden. Jeder Mensch verdient ein Museum.“ (S. 320)

„Gegenwart -, das war für ihn der Zwang, die Vergangenheit zurückzulassen, sich dem Leben zuzuwenden. Leben -, das war eine Zusammenstellung von Aufgaben, die ihm nicht lagen. Zukunft war für ihn nur eine ins Unerträgliche gesteigerte Fortsetzung der Gegenwart: fortgeschrittener Zerfall, den er an Haaren und Zähnen, Haut und Knochen immer schon erlebte und mit immer größerer Aufmerksamkeit und Angst beobachtete. In jedem Augenblick konnte diese Angst vor dem Verfall ausbrechen, der Schrecken, den das Vergehen weckt.“ (S. 198) Nein, Alfred Dorn will und kann nicht erwachsen werden. Die Welt der Erwachsenen bleibt ihm immer fremd. „Besessen trägt Alfred alle Spuren seiner Kindheit, deren er habhaft werden kann, zusammen. Berge von Fotos, Briefe, bis hin zu Kämmen der Mutter“ und eine Fischsturzform. „Auch dies ein rührendes und noch in seinem Wahn ehrenwertes Bemühen in einer Zeit, in der längst die Wegwerfgesellschaft triumphiert.“

Dorns Problem ist die Zeit, in der er lebt. Da gab es noch zwei Deutschland. Und weil er aus dem östlichen ins westliche geflüchtet war, ist es nicht leicht, die Objekte seiner Sammelleidenschaft, die sich noch im Dresden befinden, in den Westen zu bekommen. Und es ist die Zeit selbst, die vergeht und die ihn in Anspruch nimmt für Dinge und „Aufgaben, die ihm nicht lagen.“

„… vor der Pensionierung konnte er nicht beginnen. Aber vorbereitet wollte er sein, wie noch nie jemand vorbereitet gewesen war. Vielleicht war es ein Zeichen der Erschöpfung, daß er jetzt öfter die Hoffnung mobilisierte, die soviel Kraft beanspruchende Vorbereitung sei schon das, was sie vorbereiten sollte: die Verteidigung der Kindheit gegen das Leben.“ (S. 511)

Ja, diesen Walser mag ich, der das Alltägliche unseres Lebens auf eine Weise festzuhalten versteht wie kein anderer und daraus meisterliche Literatur zu gießen versteht. Seine Helden sind meist eigentümliche Versager, die sich kaum gegen die Großsprecher zu wehren verstehen. Aber in aller Tragik besticht Walser durch trockenen Witz, der die dargestellte Pein erträglich macht.

„Es hat lange keinen Roman in deutscher Sprache gegeben, der in diesem Ausmaß Durchblicke auf die historischen und politischen Ereignisse gestattet hat und von Realität durchdrungen ist.“ (Die Zeit)

„Martin Walsers 500seitiges Meisterwerk, das an einem individuellen Lebensschicksal nicht nur Erinnerungsarbeit an das deutsch-deutsche Verhängnis in seinen ‚Kleinkatastrophen’ leistet, sondern sich zu einer ergreifenden Klage über die Unmöglichkeit der Liebe und die Schrecken der Vergänglichkeit überhaupt steigert.“ (Neue Zürcher Zeitung)

Karfreitag – von Hermann Hesse (Wh.)

Karfreitag

Verhangener Tag, im Wald noch Schnee,
Im kahlen Holz die Amsel singt:
Des Frühlings Atem ängstlich schwingt,
Von Lust geschwellt, beschwert von Weh.

So schweigsam steht und klein im Gras
Das Krokusvolk, das Veilchennest,
Es duftet scheu und weiß nicht was,
Es duftet Tod und duftet Fest.

Baumknospen stehn von Tränen blind,
Der Himmel hängt so bang und nah,
Und alle Gärten, Hügel sind
Gethsemane und Golgatha.

aus: Hesse – Die Gedichte