Was ich von Herrn Westerwelle halte, habe ich hier oft genug kundgetan. Was er sich jetzt aber ‚leistet’, ist fast schon unglaublich. Guido Westerwelle hat sein Thema gefunden: die Hartz-IV-Leistungen und den geistigen Sozialismus in der Diskussion zu diesem Thema. Eigentlich ist Herr Westerwelle Außenminister, ist aber in diesem Job wohl nicht ausgelastet und auch nicht genug in den Medien präsent. Aber das hat sich jetzt grundlegend geändert.
Vize-Kanzler Westerwelle klagte nach dem Richterspruch (das Bundesverfassungsgericht hatte die bisherige Berechnungsmethode von Hartz IV für grundgesetzwidrig erklärt), es scheine in Deutschland „nur noch Bezieher von Steuergeld“ zu geben (auch Sie, Herr Westerwelle, beziehen Ihr Gehalt aus Steuergeldern), aber „niemanden, der das alles erarbeitet“. Und weiter. „Wenn man in Deutschland schon dafür angegriffen wird [wer, bitte, hat Sie angegriffen?], dass derjenige, der arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet, dann ist das geistiger Sozialismus“. Kleine und mittlere Einkommen dürften nicht länger „die Melkkühe der Gesellschaft“ sein.
Auf den ersten Blick gebe ich Ihnen sogar Recht, Herr Außenminister. Aber wie kann es kommen, dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die jede Woche rund 40 Stunden arbeiten und sich doch kaum mit dem Lohn „über Wasser halten“ können? Was halten Sie, Herr Westerwelle, z.B. von Mindestlöhnen? Und mit Hartz IV hätten Sie (als Bezieher) sicherlich schnell Ihre Probleme.
Westerwelle nennt seine Kritiker scheinheilig und erweitert seine Kritik. „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“
Hallo, Herr Westerwelle, sind wir noch im gleichen Film? Ich glaube nicht. Sie und Ihre Partei propagieren das Gedankengut, das Wegbereiter der Finanzkrise ist. Oder wie es Herr Steinmeier, SPD, sagt: Es habe nichts mit Müßiggang und Bequemlichkeit zu tun, wenn Menschen nach Jahren der grenzenlosen Gier in der Finanzwirtschaft ihre Arbeit verlören und Unterstützung bräuchten. „Wenn der FDP-Vorsitzende nach Anzeichen von Dekadenz sucht, hätte er sie bei denen finden können, die dieses Desaster durch ihr verantwortungsloses Treiben angerichtet haben“.
Apropos spätrömische Dekadenz: Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler nannte Westerwelle in einer historischen Anspielung einen Esel. „Die spätrömische Dekadenz bestand darin, dass die Reichen nach ihren Fressgelagen sich in Eselsmilch gebadet haben und der Kaiser Caligula einen Esel zum Konsul ernannt hat. Insofern stimmt Westerwelles Vergleich: Vor 100 Tagen ist ein Esel Bundesaußenminister geworden“, sagte Geißler der „Welt“.
Zurück zu Herrn Westerwelles Aussagen: „Wir müssen vor allen Dingen denen mehr helfen, die sich selbst nicht helfen können, insbesondere den Kindern.“ Die Sozialpolitik müsse umfassender diskutiert werden als nur die Frage von Regelsätzen für Hartz-IV-Empfänger. „Für mich ist die beste Sozialpolitik immer noch die Bildungspolitik, und da haben wir in Deutschland mittlerweile geradezu dekadente Erscheinungen“, sagte der Vizekanzler.
Hier entdeckt Herr Westerwelle sein Herz für Kinder. Sicherlich ist Bildungspolitik die auf Dauer beste Sozialpolitik. Nur mit Steuerkürzungen lassen sich keine Schulen und Universitäten finanzieren.
Wer so wie Westerwelle alles über einen Kamm schert, wer dermaßen verallgemeinert, ist nicht anderes als ein übler Populist – oder wie die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth den FDP-Politiker attackiert: „Westerwelles kurzer Ausflug in die staatstragenden Sphären der Diplomatie ist beendet. Es tritt wieder auf: der Schreihals.“
Nach der Bundestagswahl 2009, als die FDP 14,6 % der abgegebenen Wählerstimmen bekam (von wem auch immer), geht es mit den Umfrageergebnissen für die FDP bergab. Inzwischen ist die Partei wieder im einstelligen Prozentbereich (viele FDP-Wähler dürften ihre Wahl inzwischen bereuen). Da muss Herr Westerwelle wieder einmal Flagge zeigen. Nur fürchte ich fast, dass er auf diese Art und Weise auch noch den letzten Wähler verschreckt. Populismus und Hetze sind nicht die geeigneten Mittel, um neue Wähler zu gewinnen.
In seiner Partei selbst erkennt man langsam, dass mit einer Ein-Mann-Schau Westerwelles zukünftig keine Blumentöpfe mehr zu gewinnen sein werden. Der stellvertretende FDP-Chef Andreas Pinkwart verteidigte Westerwelle zwar in Sachen Hartz IV, forderte aber zugleich eine Machtaufteilung an der Parteispitze. „Die FDP muss mehr Gesichter in den Vordergrund stellen“, sagte Pinkwart. Aber klar doch: Die Profilierung von Persönlichkeiten aus der engeren Führung dürfe „nicht gleich als Angriff auf den Parteivorsitzenden gesehen werden“. Noch mag keiner an Westerwelles Stuhl sägen. Woher auch nehmen und nicht stehlen: Die weiteren FDP-Bundesminister präsentierten sich bisher reichlich blutleer. Und aus der Landespolitik ist kaum ein FDP-Politiker bekannt.
Inzwischen fordert Westerwelle eine Debatte über Hartz IV im Bundestag, was sicherlich sinnvoll ist. Nur fürchte ich, dass hier eher schmutzige Wäsche gewaschen wird und die eigentliche Problematik des Themas auf der Strecke bleibt.
Herr Westerwelle, vielleicht kümmern Sie sich doch wieder um Ihren Job als Außenminister. Hierfür werden Sie vom Steuerzahler bezahlt – nicht für Ihre parteipolitisch geprägten Exkurse in die Arbeits- und Sozialpolitik. Wenn es einen üblen Schmarotzer auf Kosten der Allgemeinheit gibt, dann … kenne ich seinen Namen!