Im ersten Teil ließ Wole Soyinka, Träger des Nobelpreises für Literatur 1986, seinen Romanhelden Sagoe „allen anderen –ismen, vom homöopathischen Marxismus bis zum Existentialismus“ grabsingen und pries den Leerizismus, einem von Soyinka kreierten, ins Deutsche übersetzten Neologismus (voidancy zu voidance = Entleerung). Wie schön, dass Soyinka seinen Helden weiterhin leerifiziert philosophieren respektive aus seinem Manuskript zitieren lässt. Köstlich, einfach köstlich – wie ich finde (zum eigentlichen Roman später etwas mehr):
„Schlag es auf – irgendwo, wo’s dir gefällt.“
Eilfertig, wie jemand, der sich letztlich an eine aufgezwungene Vergnügung gewöhnt hat, gehorchte Mathias.
„Mhm, gut. Jetzt trink, und dann können wir anfangen …
… Und das Schweigen ist für den Leeriker wie der Opiumrausch für den Mystiker des Orients. Die Ruhe in der Toilette eines englischen Vorstadthaushalts, wenn der Gastgeber und die Nachbarn zur täglichen Arbeit gefahren sind, und der Gast alleine leerifizieren kann, dies ist ein Schweigen zum Anfassen. In Frankreich verflacht dieser Mythos der geistigen Vertiefung natürlich zu einer seichten und unangenehmen Pose – wie laichende Kröten. Dort suchte ich den Opiumrausch des Schweigens vergeblich, bis ich mich schließlich, um dem seelenentwürdigenden Zustand der Studentenheimtoilette zu entfliehen, mit Buch und Schaufel in die nahen Wälder zurückzog, wo ich wenigstens diese eine Erfüllung fand, denn die Wälder dehnten sich kilometerweit. Hier errichtete ich mir eine kleine Laube, in der ich regelmäßig meditierte, las oder einfach dem Gezwitscher gallischer Vögel lauschte. Ich gestehe, es war ein verkrampfter Leerizismus, er ließ die tiefe Befriedigung vermissen, die völlige Muskelentspannung. Schlimmer noch: streifte mich plötzlich inmitten meiner Andacht ein nasser Grashalm, so sprang ich in Panik auf, fürchtete ich doch, eine Schlange züngle mir um die Eier. Doch das feuchte, schwere, vogelgezwitscherdurchsetzte Schweigen stellte eine mystische Erfahrung dar, der gegenüber sich das Risiko der Entmannung als unbedeutende Farce ausnahm. Nun freilich, meine Freunde, muß ich von einer schmachvollen Episode berichten. Zwei Wanderstudenten folgten mit eines Tages, neugierig herauszufinden, wohin die tägliche Kombination von Buch und Schaufel führe. Noch immer empört mich alles in mir bei dem Gedanken, daß ich wahrhaftig bei dieser allerintimsten der menschlichen Verrichtungen beobachtet wurde. Doch sie erwiesen sich als interessierte Schüler. Sie reinigten sich von dem Tabubruch, indem sie die Geldration von drei Tagen an einem einzigen Nachmittag im Bistro ausgaben. Ich erteilte ihnen die Absolution, und da der Wein mich großzügig machte, initiierte ich sie in die Mysterien des Leeriszismus. Doch gelang es ihnen, in die Tiefen der Lehre vorzudringen? frage ich mich heute. Sie waren, soweit ich mich erinnere, zu etwas konvertiert, das mir als bloße Entspannungsfähigkeit erschien. In feuchter Erde und in nassem Unterholz, so behaupteten sie, in klammheimlicher Handhabung von Rankengewächs und niederem Buschwerk läge die wahre Leerifizierung. Das ist
Feierlich schloß Sagoe das Buch, und beide verharrten in nachdenklichem Schweigen.
„Ich wußte es, Mathias, du bist ein Naturtalent. Du bist sogar so was wie ein Hellseher. Nicht viele Menschen haben ein Fingerspitzengefühl, das genau auf ihre Psyche abgestimmt ist.“
„Wenn Sie sagen, Oga …“
„Ich weiß es, Mathias. Schweigen, das war es. Schweigen. Du hast das Manuskript beim Stichwort Schweigen aufgeschlagen. Ein genialer Akt. […]“
aus: Wole Soyinka: Die Ausleger (S. 139 ff. – Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1983 – Dialog Afrika – Übersetzung von Inge Uffelmann – Original: The interpreters, 1965)